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Würzburg
Der Weg des Täters: Chronologie des Messerangriffs von Würzburg
2243 Tage hielt sich der Somalier in Deutschland auf, bevor er im Juni mit einem Messer in Würzburg Menschen angriff. Was vor der Tat geschah und wie es nach der Tat weiterging.
Eine Woche nach der Messerattacke in Würzburg beteiligen sich zahlreiche Menschen an der Menschenkette vom Barbarossaplatz bis zum Rathaus.
Foto: Patty Varasano | Eine Woche nach der Messerattacke in Würzburg beteiligen sich zahlreiche Menschen an der Menschenkette vom Barbarossaplatz bis zum Rathaus.
Andreas Jungbauer
,  Benjamin Stahl
,  Gisela Rauch
 und  Manuela Göbel
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:46 Uhr

Die Geschichte des Messerangriffs von Würzburg beginnt im Mai 2015. Damals reiste der spätere Täter nach Deutschland ein. Recherchen dieser Redaktion zeichnen unter anderem auf Basis bisher bekannter Ermittlungsergebnisse den Weg des Somaliers nach Würzburg nach, rekonstruieren die Zeit vor der Bluttat mit drei Toten und zeigen den Verlauf der Ermittlungen:

  • 6. Mai 2015: Der Somalier reist von Italien nach Deutschland ein, nachdem er zuvor über Nordafrika und das Mittelmeer nach Italien gelangt war. Über München und Veitshöchheim (Lkr. Würzburg) gelangt er nach Chemnitz, wo er von der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) erfasst wird.
  • 21. Mai 2015: Der spätere Messerstecher stellt einen Asylantrag. Er begründet ihn damit, dass er in seiner Heimat von der Terrororganisation al-Shabaab verfolgt und bedroht worden sei. Der Antrag wird später abgelehnt, der Mann erhält lediglich subsidiären Schutz. Das heißt: Solange in Somalia Bürgerkrieg herrscht, muss er nicht zurückkehren. Sein Geburtsdatum wird aufgrund eigener Angaben auf den 1. Januar 1997 festgesetzt. Er wird in einer Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht.
  • Juni 2015: Der Täter wird zunächst in einer Gemeinschaftsunterkunft, später mit fünf Landsleuten in einer sogenannten städtischen Gewährswohnung im sächsischen Schwarzenberg (Erzgebirgskreis) untergebracht.
  • 25. November 2015: In der Küche der Wohnung kommt es zum Streit mit einem Mitbewohner, wobei der spätere Täter zu einem Messer greift. Ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung wird eingeleitet.
  • 10. Juni 2016: Erst ein halbes Jahr nach dem Küchenstreit werden die Männer vernommen. Inzwischen hatte man den Somalier ins nahe Aue verlegt, in eine Wohnung für Geflüchtete in einem großen städtischen Mietshaus. Er wohnt dort mit drei Männern aus dem Irak und Syrien zusammen.
  • 21. September 2016: Der spätere Messerangreifer taucht im Krankenhaus Aue auf, will einen Arzt sprechen. An der Pforte weist man ihn ab – er solle sich an einen Hausarzt wenden.
  • 13. Oktober 2016: Noch einmal kommt es zu einer Anhörung zum Küchenstreit vom November 2015. Wenig später wird das Ermittlungsverfahren eingestellt. Aufgrund der gegensätzlichen Aussagen der Beteiligten zum Tathergang sei "ein Tatnachweis nicht zu führen" gewesen, teilen die Ermittlungsbehörden mit.
  • November 2016: Umzug des Somaliers nach Düsseldorf. Wo er dort wohnt, ist unklar.
  • Februar 2017: Der Mann kehrt in den Erzgebirgskreis zurück, erneut lebt er in einer Gewährswohnung.
  • Juni 2017: Umzug nach Chemnitz. Dort lebt er in einem Wohnsilo mit einem jungen Afghanen. Seit dieser Zeit soll er Drogen konsumiert haben.
  • 1. September 2018: Nach dem Tod eines Deutschen am Rande des Stadtfests kommt es in Chemnitz zu rechten Protesten und Übergriffen gegen Ausländerinnen und Ausländer. In einem Video, veröffentlicht von der Funke-Mediengruppe, schildern der Somalier und sein afghanischer Mitbewohner, wie sie von einem rechten Mob verfolgt und bedroht worden seien. Der Täter spricht gebrochen Deutsch, sagt, dass er sich im Osten nicht sicher fühle.
  • Erste Jahreshälfte 2019: Im Januar meldet sich der spätere Messerangreifer in Chemnitz ab. Wohin er dann zieht, ist unklar. Bis Juli verliert sich seine Spur.
  • Juli bis August 2019: Erneut meldet sich der Somalier in Chemnitz an.
  • Belegt ist, dass er irgendwann im Jahr 2019 in der sächsischen Stadt erstmals in stationärer psychiatrischer Behandlung war – 13 Tage lang. Wann genau, ist unklar. Auch über den Grund ist nichts bekannt.
  • 4. September 2019: Der Somalier wird von der Ausländerbehörde der Stadt Würzburg erfasst. Möglicherweise hält er sich schon früher in der Stadt auf: So soll er hier schon im Juli an Schulungen für Arbeitsuchende teilgenommen haben. Zunächst lebt er auf der Straße, dann in einer kommunalen Obdachlosenunterkunft im Stadtteil Zellerau.
  • 13. bis 27. September 2019: Zweite dokumentierte psychiatrische Behandlung. Sie erfolgt freiwillig im Zentrum für Seelische Gesundheit (ZSG) in Würzburg. Die Rede ist von "drogeninduzierten Psychosen" und "wahnhaften Störungen".
  • 10. bis 13. Februar 2020: Erneut wird der Asylbewerber stationär am ZSG behandelt. Erneut freiwillig.
  • 12./13. Januar 2021: Der Somalier bedroht in Würzburger Obdachlosenunterkünften Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt mit einem Messer. Die Staatsanwaltschaft Würzburg leitet ein Ermittlungsverfahren sowie ein Betreuungsverfahren ein. Der Täter wird abermals im ZSG behandelt.
  • 13. bis 21. Januar 2021: Stationäre psychiatrische Behandlung im ZSG. Die Staatsanwaltschaft will ein Gutachten zur Schuldfähigkeit des Patienten beauftragen und fordert die dafür notwendigen Akten an.
  • Januar 2021: Ein Asylbewerber, der in Sachsen in derselben Unterkunft wie der spätere Täter gelebt hat, meldet sich bei der Polizei in Dresden. 2015 will er ein Telefonat des Somaliers mitgehört haben, in dem dieser erzählt habe, er habe in seiner Heimat in den Jahren 2008/2009 für die Terrororganisation al-Shabaab, die dem Al-Kaida-Netzwerk angehört, Zivilisten, Journalisten und Polizisten getötet. Warum der Zeuge sich erst jetzt meldet, ist unklar. Mit dem Vorfall in der Würzburger Obdachlosenunterkunft soll es jedoch nichts zu tun gehabt haben.
  • 25. März 2021: Der Staatsanwaltschaft liegen nun Betreuungs- und Verfahrensakten des Somaliers vor. Sie beauftragt die Polizei mit Nachermittlungen zur psychiatrischen Behandlung des Mannes. Eine notwendige Einwilligung zur Herausgabe der ärztlichen Unterlagen lässt dieser jedoch unbeantwortet.
  • März/April 2021: Die Generalstaatsanwaltschaft München eröffnet ein Vorermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Später schaltet sie den zuständigen Generalbundesanwalt in Karlsruhe ein.
  • 14. April 2021: Das Betreuungsverfahren wird eingestellt. Das Gericht sieht "keine ausreichenden Anhaltspunkte für das Erfordernis einer Betreuung". Man habe den Mann "trotz mehrfacher Versuche nicht angetroffen". Später wird ein zweites Betreuungsverfahren eingeleitet.
  • 29. April 2021: Die Generalbundesanwaltschaft lehnt die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ab. Erstens "mangels konkreter Tatsachen", zweitens, weil der Beschuldigte zum angeblichen Tatzeitpunkt erst elf oder zwölf Jahre alt und damit strafunmündig gewesen wäre.
  • 31. Mai 2021: Die Staatsanwaltschaft Würzburg gibt das bereits im Januar anvisierte Gutachten über die Schuldfähigkeit des Somaliers in Auftrag.
  • 14. Juni 2021: Unvermittelt steigt der Täter in der Würzburger Innenstadt in den Wagen eines 59-Jährigen und setzt sich auf den Beifahrersitz. Der Autofahrer spricht den Fremden mehrfach an, bekommt aber keine Antwort. Schließlich ruft er die Polizei. Das Ordnungsamt lässt den Mann erneut ins ZSG einweisen. Die Untersuchung gestaltete sich laut Recherchen dieser Redaktion schwierig: So sei der Somalier kaum ansprechbar gewesen und er habe weder in ein EKG noch in einen Drogentest eingewilligt. Er soll Stimmen gehört und den Kontakt mit weiblichem Personal abgelehnt haben.
  • 15. Juni 2021: Der Täter verlasst das ZSG wieder – gegen ärztlichen Rat und auf eigenen Wunsch.
  • 23. Juni 2021: Um den psychisch auffälligen Mann doch unter Betreuung zu stellen, soll er von einer Sachverständigen begutachtet werden. Mitarbeitende des Sozialreferats suchen – begleitet von einer Polizeistreife – deshalb das Obdachlosenheim auf. Doch das Zimmer des Mannes ist leer.
  • 25. Juni 2021, kurz nach 3 Uhr: Am Würzburger Stadtrand ist ein Mann nach einer Nachtschicht in seinem Auto auf dem Nachhauseweg. Plötzlich wird er von dem Somalier angehalten. Der Fremde steigt sofort ein, setzt sich auf die Rückbank. Der Autofahrer steigt aus, versucht mit dem ihm Unbekannten zu reden – ohne Erfolg. Zwei Minuten später steigt der Fremde wieder aus und läuft weg.
  • 25. Juni 2021, gegen 17 Uhr: Der Täter betritt das Kaufhaus Woolworth am Würzburger Barbarossaplatz und fragt eine Verkäuferin, wo er Messer findet. Er bekommt die Auslage gezeigt, greift sich dort ein 33 Zentimeter langes Messer und sticht damit unmittelbar eine unbeteiligte Frau nieder. Diese stirbt wenig später. Kurz darauf tötet er noch im Kaufhaus zwei weitere Kundinnen. Die Getöteten sind 24, 49 und 82 Jahre alt. Außerdem verletzt er vier weitere Personen. Während der Tat soll er "Allahu akbar" ("Gott ist groß") gerufen haben.
  • 25. Juni 2021, kurz nach 17 Uhr: Unmittelbar danach verlässt der Täter das Geschäft und läuft mit dem Messer barfuß über den Barbarossaplatz. An der Bushaltestelle und vor der Sparkassen-Filiale sticht er auf zwei weitere Menschen ein und verletzt diese schwer. Passanten stellen sich dem Täter entgegen, treiben ihn mit Stühlen und Besen in die Oberthürstraße.
  • 25. Juni 2021, 17.04 Uhr: Ein erster Notruf geht bei der Polizei ein.
  • 25. Juni 2021, 17.06 Uhr: Die erste Polizeistreife ist vor Ort. Die beiden Beamten verfolgen den Täter in die Oberthürstraße. Als dieser sich an der Ecke Kolpingstraße umdreht und die Polizisten mit dem Messer bedroht, streckt ihn ein Beamter mit einem gezielten Schuss in die Beine nieder. Der Mann wird gefesselt und abgeführt. Im Kaufhaus Woolworth und auf dem Barbarossaplatz treffen derweil Notärzte und Sanitäter ein. Die meisten überlebenden Opfer werden im Juliusspital behandelt. Bei den fünf lebensbedrohlich Verletzten handelt es sich um drei Frauen im Alter von 39, 52 und 73 Jahren sowie ein elfjähriges Mädchen und einen 16-Jährigen.
  • 25. Juni 2021, kurz nach 18 Uhr: Der Bereich um den Tatort ist abgesperrt. Gerüchte um einen zweiten Täter dementiert die Polizei.
  • 25. Juni 2021, 19.50 Uhr: Oberbürgermeister Christian Schuchardt (CDU) und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) treffen am Tatort ein.
  • 25. Juni 2021, 20.50 Uhr: Herrmann gibt eine erste Stellungnahme ab. Darin spricht er von "psychischen Auffälligkeiten" des Täters. Außerdem erklärt er, ein islamistisches Motiv könnte zugrunde liegen.
  • 25. Juni 2021, später Abend: In einem Krankenhaus wird die Schussverletzung des Täters behandelt. Im Krankenbett soll er von seinem Beitrag zum "Dschihad", was unter anderem mit "Heiliger Krieg" übersetzt werden kann, gesprochen haben. Dem Somalier wird ein Pflichtverteidiger gestellt.
  • 26. Juni 2021, Vormittag: Ein Ermittlungsrichter schickt den Täter in Untersuchungshaft. Die Generalstaatsanwaltschaft München übernimmt das Ermittlungsverfahren, am Landeskriminalamt wird die Sonderkommission "Main" mit mehr als 130 Beamtinnen und Beamten gebildet.
  • 26. Juni 2021, 15 Uhr: Bei einer Pressekonferenz informieren die Ermittler über die bisherigen Erkenntnisse. Für sie liegt ein islamistischer Hintergrund für die Tat nahe. Außerdem sprechen sie von nur zwei Aufenthalten des Täters in psychiatrischen Einrichtungen.
  • 29. Juni 2021: Gerüchte, wonach der Somalier schon in seiner Heimat für die Terrormiliz al-Shabaab getötet haben soll, werden bekannt.
  • 2. Juli 2021: 600 Würzburgerinnen und Würzburger gedenken mit einer Menschenkette den Opfern.
  • Anfang Juli 2021: Recherchen dieser Redaktion zeigen: Der Täter war bereits fünfmal zur Behandlung in Psychiatrien. Demnach diagnostizierten behandelnde Ärzte bei dem Mann über Jahre hinweg "drogeninduzierte Psychosen" und "wahnhafte Störungen". Spätestens im Januar soll er im ZSG schon Tötungsabsichten und Frauenhass zum Ausdruck gebracht haben.
  • 7. Juli 2021: Innenminister Herrmann berichtet im Innenausschuss des Landtags über den aktuellen Ermittlungsstand. Neues präsentiert er jedoch nicht. Die Vergangenheit des Somaliers sei "noch diffus und schwer nachvollziehbar". Inzwischen sei der Verfassungsschutz aktiv und auch ausländische Nachrichtendienste seien um Hilfe gebeten worden. In Partenstein (Lkr. Main-Spessart) wird die 24-Jährige, die beim Messerangriff getötet wurde, beigesetzt.
  • 12. Juli 2021: Rund zwei Wochen nach der Tat öffnet das Kaufhaus Woolworth wieder.
  • 20. Juli 2021: Der Täter wird vom Gefängnis in eine psychiatrische Klinik außerhalb Unterfrankens verlegt. Möglicherweise ist er schuldunfähig.
  • 23. Juli 2021: Das letzte lebensgefährlich verletzte Opfer kann das Krankenhaus verlassen. Die 39-Jährige wird in eine Reha-Einrichtung verlegt, heißt es.
  • 20. September 2021: Recherchen dieser Redaktion zeigen: Der Täter ist deutlich älter als angenommen. Während er bei seinem Asylantrag noch 1997 als Geburtsjahr angegeben hatte – und demnach zum Tatzeitpunkt 24 Jahre alt gewesen wäre –, gab er nach der Tat "im Rahmen einer forensischen Untersuchung" an, bereits 32 Jahre alt zu sein.
  • 30. September 2021: Drei Monate nach der Tat kann der 32-Jährige endlich verhört werden. Früher habe dies der psychische Zustand des Somaliers nicht zugelassen, heißt es. Die Vernehmung hat laut Recherchen dieser Redaktion mehrere Stunden gedauert. Darin soll er ausdrücklich sein Bedauern darüber gezeigt haben, dass er Menschen getötet und schwer verletzt hat.
  • 21. Januar 2022: Das Landgericht Würzburg bekommt Post aus München: Eine sogenannte Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft München. Sie will den zur Tatzeit mutmaßlich schuldunfähigen Täter nach einem Prozess dauerhaft in einer Psychiatrie unterbringen lassen.
  • 4. Februar 2022: Das Landgericht terminiert den Prozessbeginn auf den 22. April. Vorgesehen sind knapp 30 Verhandlungstage.
  • 17. März 2022: Das Landgericht gibt bekannt, wo dem Messerangreifer der Prozess gemacht werden soll. Verhandlungsorte sind die Mainfrankensäle in Veitshöchheim, die Weiße Mühle in Estenfeld und das Vogel-Convention-Center in Würzburg.
 
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    Jetzt ist er ja in Sicherheit und wird gut versorgt......!!!
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