Es ist eine der großen Fragen nach dem Messerangriff von Würzburg am vergangenen Freitag mit drei Toten und mehreren Verletzten: Warum war der 24-jährige Somalier auf freiem Fuß, nachdem er zweimal in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert worden war? Behandelt wurde er beide Male freiwillig im Zentrum für Seelische Gesundheit (ZSG) in Würzburg, einer Einrichtung des Bezirks Unterfranken. Dauerhaft eingewiesen wurde er jedoch nicht.
Das erste Mal ins ZSG kam er Mitte Januar nach einem Streit mit Mitbewohnern und Verwaltern der Obdachlosenunterkunft, in der er lebte. Schon damals hat er laut den Ermittlern zu einem Messer gegriffen und es bedrohlich in der Hand gehalten. Der zweite kurzzeitige Aufenthalt erfolgte laut Bezirks-Pressesprecher Markus Mauritz in der Nacht auf den 15. Juni – zehn Tage vor der Bluttat. Der 24-Jährige soll, so die Generalstaatsanwaltschaft Bamberg, einen Verkehrsteilnehmer in der Würzburger Innenstadt belästigt haben: "Da hat der Beschuldigte ein verstörtes Verhalten mit psychischen Auffälligkeiten gezeigt." Dennoch sei er wegen fehlenden Behandlungsbedarfs gleich wieder entlassen worden.
Ein komisches Gefühl oder ein vager Verdacht reichen nicht
Dem späteren Täter ist damals zwar laut Mauritz nahegelegt worden, im ZSG zu bleiben. Doch das habe der Mann abgelehnt. Und gegen seinen Willen habe er nicht festgehalten werden können, erklärt Mauritz. Professor Dominikus Bönsch, Ärztlicher Direktor des Krankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin in Lohr (Lkr. Main-Spessart) und des Zentrums für seelische Gesundheit in Würzburg, verweist diesbezüglich auf die rechtliche Grundlage. Die Unterbringung des Mannes im ZSG sei nach dem Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) erfolgt. "Das ist aber nur der Einweisungsgrund. Es geht dabei zunächst nicht um eine längerfristige Unterbringung", so Bönsch, Facharzt für Psychiatrie und Psychiatrie sowie Neurologie.
Während des Aufenthaltes werde dann geprüft, ob es Gründe gibt, jemanden – auch gegen seinen Willen – länger dazubehalten. Das geht laut Professor Bönsch allerdings nur, "wenn eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt." Ein komisches Gefühl oder ein vager Verdacht des behandelnden Arztes genügten nicht, es brauche konkrete Anhaltspunkte: "Es müsse tatsächlich Indizien dafür geben, dass jemand auch weiterhin gefährlich ist und dass sich die zur Einweisung führenden Umstände in absehbarer Zeit wiederholen könnten."
Hinweise auf mehr Menschen mit ähnlichen Problemen
Eine Regelung, die Antonino Pecoraro, bis 2020 Migrationsberater bei der Flüchtlingshilfe der Caritas und heute Vorsitzender des Ausländerbeirats der Stadt Würzburg, Sorgenfalten auf die Stirn zeichnet. Es gebe viele Geflüchtete, traumatisiert von den Erlebnissen in ihrer Heimat oder während der Flucht, denen spät oder gar nicht geholfen wird. "Die deutsche Bürokratie ist, was medizinische Aspekte angeht, genauso langsam wie in anderen Bereichen", klagt er.
Er habe aktuell "mehrere Hinweise" auf Menschen in der Region, die "ähnliche Verhaltensweisen" an den Tag legten, wie sie beim Täter im Vorfeld der Tat beobachtet worden seien. "Ich befürchte, dass viele durchs Raster fallen." Aber was tun? Man könne auf die Leute zugehen, mit ihnen reden – eine Handhabe hat man aber nicht, "so lange es keinen Nachweis über eine Traumatisierung gibt, die Situation in der Familie nicht eskaliert oder etwas ähnliches vorfällt", so Pecoraro. "Wir haben kein Instrument, um solche Personen kontrollieren zu können. Fußballfans, die oft eskalieren, werden in einer Datei erfasst. Traumatisierte, die zu Gewalt neigen, nicht."
Warum liegt das Gutachten noch nicht vor?
Pecoraro fordert "so schnell wie möglich einen fachlichen Austausch": Polizei, Gesundheitsbehörden, die Regierung von Unterfranken und die Flüchtlingshilfe müssten dazu an einen Tisch und Lösungen finden – etwa, wie Gutachten schneller erstellt werden können.
Das Thema Gutachten spielt auch im Fall des Messerangreifers eine Rolle: Laut Angaben der Staatsanwaltschaft von Samstag stehe ein Gutachten über ihn seit seiner Einweisung im Januar noch aus. Warum es auch nach sechs Monaten noch nicht vorliegt? Unklar. Auch der Pflichtverteidiger des 24-jährigen Somaliers, Hanjo Schrepfer, fragt sich das. Er wartet noch immer auf Akteneinsicht. "Ich weiß ja noch nicht einmal, ob er bis heute überhaupt schon exploriert wurde", erklärt Schrepfer am Montag gegenüber dieser Redaktion. Ihn würde es aus seiner langjährigen Erfahrung als Strafverteidiger nicht wundern, wenn eine psychiatrische Begutachtung bisher noch gar nicht erfolgt wäre. "Selbst bei Straftätern dauert das oft mehr als sechs Monate – und in diesem Fall lag ja noch nicht einmal eine Straftat vor", so Schrepfer.
Verteidiger rechnet mit neuem Gutachten über Messerstecher
Den selben Verdacht hat Bönsch: "Meines Wissens ist noch gar keine Begutachtung erfolgt", sagt er, "aber das ist eine Spekulation". Denn, wenn eine Begutachtung beauftragt werde und es einen Termin gebe, dann dauere es nicht lange. "Das Gutachten wird dann im Regelfall zügig erstellt." Allein im Bezirkskrankenhaus Lohr würden fünf bis zehn Gutachten pro Woche erstellt, bis zu 500 im Jahr.
"Erfahrene Gutachter werden generell händeringend gesucht", sagt Bönsch und informiert: Aufgabe der Gutachterin oder des Gutachters sei, sich ein umfassendes Bild von dem Patienten und seiner Erkrankung zu machen. Dazu gehören auch die Vorgeschichte, ebenso ein ausführliches und intensives freies Gespräch und standardisierte Instrumente wie Fragebögen – und natürlich die Bereitwilligkeit des Patienten. "Am Ende erfolgt die Einschätzung – sowohl was die Diagnose betrifft als auch eine mögliche Gefährlichkeit und Straffälligkeit."
Schrepfer rechnet unterdessen damit, dass die psychische Verfassung seines Mandanten jetzt ohnehin erneut von einem Experten untersucht wird. "Natürlich muss eine neue psychiatrische Untersuchung erfolgen", so der Rechtsanwalt. Der Täter sitzt unterdessen in Würzburg in Untersuchungshaft.