Eisenheim
Chronologie des Eisenheim-Prozesses: lange Geschichte mit Wendungen
Im April 2017 wurde die 20-jährige Theresa Stahl von einem Betrunkenen überfahren und starb. Seitdem beschäftigt der Fall die Justiz und nahm mehrere Wendungen. Eine Übersicht.
Kaum ein Fall hat die Region so in Atem gehalten, kaum ein Schicksal hat für so viele Emotionen, kaum ein Urteil für so viel Empörung gesorgt. Der Tod der 20-jährigen Theresa Stahl ist nachwievor nicht aufgeklärt. Immer wieder gab es überraschende Wendungen. Was bisher geschah:
- 23. April 2017, 3.38 Uhr: Die 20-jährige Theresa Stahl wird bei Untereisenheim (Lkr. Würzburg) von einem VW Golf erfasst. Im Auto sitzen vier junge Männer, 18 und 19 Jahre alt, alle nach einem Weinfestbesuch stark betrunken. Die Männer flüchten, wenige Minuten später landet der Unfallwagen in Untereisenheim in einem Straßengraben. Am Steuer sitzt Niclas H.
- In den folgenden Tagen führen die drei Mitfahrer die Ermittler mehrfach in die Irre. Was sie später vor Gericht selbst zugeben werden: Sie verabreden sich, gegenüber der Polizei zu bestreiten, dass sie in dem Auto saßen – zweimal sagen sie falsch aus.
- 28. April 2017: Theresa Stahl stirbt, ihre Familie ruft wenige Tage später die Aktion "Gegen Alkohol am Steuer" ins Leben.
- Mai 2017: Zu Theresas Beerdigung kommen rund 700 Menschen auf den Friedhof nach Güntersleben (Lkr. Würzburg).
- 15. Oktober 2017: Dieses Datum nennt erst zwei Jahre später eine Zeugin. Auf seiner Geburtstagsfeier soll Beifahrer Marius H. demnach erzählt haben, dass er Niclas H. mit den Worten "Fahr sie um!" dazu angestiftet hat, Theresa Stahl zu überfahren.
- März 2018: Niclas H. unternimmt einen ersten von zwei Suizidversuchen.
- In den folgenden Monaten hält sich hartnäckig das Gerücht, dass ein anderer als Niclas H. das Unfallfahrzeug gesteuert habe. Demnach sollen ihn seine drei Mitfahrer nach dem Unfall auf den Fahrersitz bugsiert haben. Beweise dafür gibt es nicht.
- 22. Oktober 2019: In Würzburg startet der Prozess gegen Niclas H. wegen fahrlässiger Tötung und gegen seine drei Mitfahrer wegen unterlassener Hilfeleistung. Ein psychiatrischer Gutachter bescheinigt dem Hauptangeklagten depressive Züge und eine Alkoholabhängigkeit. Der Gutachter geht davon aus, dass der damals 18-Jährige zum Unfallzeitpunkt mindestens 3,2 Promille Alkohol im Blut hatte. Wegen der Volltrunkenheit stuft er ihn als schuldunfähig ein.
- 23. Oktober 2019: Das Gericht verurteilt Niclas H. wegen fahrlässigen Vollrauschs zu einer Geldstrafe von 5000 Euro und einem weiteren Jahr Fahrverbot; auch die drei Mitangeklagten müssen Geldstrafen zwischen 1000 und 2000 Euro zahlen. Die Staatsanwaltschaft legt Berufung ein.
- Herbst 2019: Bundesweit entbrennt nach dem Urteil eine Debatte über die Schuldunfähigkeit von stark betrunkenen Tätern und den Einfluss von Gutachtern auf Gerichtsurteile.
- 9. September 2020: Start des Berufungsprozesses. Erneut ist der Notarzt, der Niclas H. in der Unfallnacht untersucht hatte, als Zeuge geladen. Nach seiner Aussage kommt der psychiatrische Gutachter nun zu dem Schluss, dass eine Schuldunfähigkeit des Hauptangeklagten "eher zu verneinen" sei. Mit anderen Worten: Er sei bereits so an große Mengen Alkohol gewöhnt gewesen, dass er sein Handeln auch dann mehr oder minder steuern konnte, wenn ungeübte Trinker bei selber Menge bereits bewusstlos gewesen wären.
- In den folgenden Tagen meldet sich eine neue Zeugin bei der Polizei. Sie will erfahren haben, dass Beifahrer Marius H. im Oktober 2017 angetrunken auf einer Party erzählt habe, er habe Niclas H. mit den Worten "Fahr sie um" angestiftet, die Fußgängerin zu überfahren.
- 16. September 2020: Marius H. wird festgenommen und kommt in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: Anstiftung zum Mord.
- 17. September 2020: Auch Niclas H. wird festgenommen – wegen Mordverdachts. Einen Tag später wird der Haftbefehl "gegen Auflagen" außer Vollzug gesetzt.
- 24. September 2020: Am zweiten Verhandlungstag im Berufungsprozess sagt der Chef-Ermittler aus, der in den zurückliegenden Tagen mehrere neue Zeugen vernommen hat. Demnach soll Niclas H. Theresa Stahl gezielt überfahren haben, nachdem Marius H. ihn "im Spaß" dazu aufgefordert haben soll. Im weiteren Verlauf der tödlichen Fahrt sei Niclas H. dann bewusstlos geworden. Als das Auto zum Stehen kam, seien die drei Mitfahrer ausgestiegen, hätten den Golf in den Straßengraben geschoben und seien geflohen. Das Gericht setzt die Verhandlung bis auf weiteres aus: Es sind Nachermittlungen notwendig, die dem Mordverdacht nachgehen sollen.
- Mitte Dezember 2020: Marius H. wird aus der Untersuchungshaft entlassen. Das Landgericht Würzburg sieht keinen "dringenden Tatverdacht" mehr.
- 31. März 2021: Das Landgericht Würzburg entscheidet, den Fall nicht als Mordprozess fortzuführen. Stattdessen soll der im September 2020 ausgesetzte Berufungsprozess fortgesetzt werden. Das Gericht habe "keinen hinreichenden Tatverdacht hinsichtlich eines Mordes" feststellen können, hieß es.
- 27. Juli 2021: Auf Anfrage der Redaktion teilt das Landgericht Würzburg mit, dass der Prozess am 21. September fortgesetzt werden soll. Anberaumt sind sieben Verhandlungstage. Ein Urteil könnte demnach Ende Oktober fallen.
- 21. September 2021: Der Berufungsprozess wird fortgesetzt – aus Platzgründen nicht im Justizzentrum in Würzburg, sondern in der Festscheune im Gut Wöllried bei Rottendorf (Lkr. Würzburg). Allerdings muss das Gericht nach der langen Pause wieder bei Null anfangen. Erneut sagen Theresas Freund und weitere Zeugen aus, die bereits mehrfach gehört worden waren. Die vier Angeklagten äußern sich im Gegensatz zu früheren Verhandlungen nicht mehr zu den Vorwürfen. Vor allem der Hauptangeklagte Niclas H. sieht sich aufgrund seines psychischen Zustandes dazu nicht in der Lage.
- 23. September 2021: Am zweiten Tag des Berufungsprozesses sagt erneut der Chef-Ermittler in dem Fall aus. Er hat keine Zweifel, dass der Hauptangeklagte Niclas H. das Unfallfahrzeug gefahren ist. Ungereimtheiten gibt es dennoch: So berichtet der Polizeibeamte von widersprüchlichen Aussagen darüber, wo die Mitinsassen den VW Golf nach der tödlichen Kollision verlassen haben. Und er hält es für möglich, dass einer der drei jungen Männer das Auto mit Niclas H. am Steuer in den Graben geschoben haben.
- 24. September 2021: Am dritten Tag des Berufungsprozesses wird die Zeugin vernommen, die im Herbst 2020 vor der Polizei ausgesagt hat, dass ihr erzählt worden sei, Marius H. habe Niclas H. aufgefordert, Theresa Stahl zu überfahren. In der Folge war wegen Mordverdachts ermittelt worden. Vor Gericht bleibt sie bei ihrer Aussage. Die Geschichte will sie von einem Freund erzählt bekommen haben. Der streitet vor Gericht jegliche Mitwisserschaft ab, verstrickt sich aber in Widersprüche. Noch im Zeugenstand wird sein Handy sichergestellt, die Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage ein.
- 5. Oktober 2021: Am vierten Tag des Berufungsprozesses sagt überraschend Beifahrer Marius H. aus. Er streitet ab, dass die Aufforderung "Fahr sie um!" im Auto gefallen ist.
- 25. Oktober 2021: Staatsanwaltschaft und Nebenklage ziehen die Berufung gegen zwei Mitfahrer zurück. Damit werden die Geldstrafen gegen sie – das Urteil vom Herbst 2019 aus erster Instanz – rechtskräftig.
- 26. Oktober 2021: Auch die Berufung gegen Beifahrer Marius H. wird fallengelassen. Damit müssen alle drei Mitfahrer als Zeugen aussagen. Neues zu den Hintergründen der Alkoholfahrt tragen ihre Aussagen jedoch nicht bei. Unterdessen kommen die psychiatrischen Gutachter zu dem Schluss, dass Niclas H. zum Unfallzeitpunkt nicht schuldunfähig, aber vermindert schuldfähig war.
- 27. Oktober 2021: Niclas H. wird in zweiter Instanz wegen fahrlässiger Tötung verurteilt: ein Jahr und drei Monate Jugendstrafe auf Bewährung, lautet das Urteil. Während der zweijährigen Bewährungszeit darf der Täter keinen Alkohol trinken und muss sich um eine psychotherapeutische Behandlung und Arbeit bemühen.
- 29. Oktober 2021: Der Verteidiger von Niclas H., Hanjo Schrepfer, teilt mit, dass sein Mandant das Urteil akzeptieren wird. Da nur ihm eine Revision rechtlich möglich gewesen wäre, heißt das: Das Urteil im Berufungsverfahren wird rechtskräftig.
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