
Kultur im Corona-Jahr 2020: Unsere Autoren verraten, was ihnen während der Lockdowns am meisten fehlte. Und erinnern sich an Erlebnisse, die dann doch möglich wurden.

Mathias Wiedemann
Herausragendes Ereignis trotz (oder wegen) Corona
Das Mozartfest: Während andere Festivals abgesagt wurden, gab Würzburg nicht klein bei. Das Mozartfest fand statt – stark reduziert zwar, aber mit vielen Ideen, kreativen Formaten und einer wohltuenden Portion Trotz. „Dieses Virus, das zaubern wir weg“, sagte Intendantin Evelyn Meining. Das ist zwar nicht ganz gelungen, wohl aber setzte das Mozartfest – neben der Fürsorge für seine Künstlerinnen und Künstler – ein Zeichen für die Kraft der Musik.
Was mir im Corona-Jahr am meisten gefehlt hat
Die Oper: Dieses absurd aufwändige Spektakel, das alle Kunstformen in sich vereinigt. Das es mit, gelinde gesagt, fantasievollen Handlungen schafft, die großen menschlichen Fragestellungen so abzubilden, dass jeder, der sich darauf einlässt, im Innersten berührt und bereichert wird. Natürlich gab es auch 2020 schöne Aufführungen – in kleinen Formaten oder an der frischen Luft –, aber echte, große Oper mit allem Drum und Dran ist eben unersetzlich.

Was mir kulturell durch das Corona-Jahr geholfen hat
Lesen, Lesen, Lesen: Leonhard Frank, zum Beispiel, mit seiner frappierenden Kunst, Personen zu beobachten und zu beschreiben. Oder die Romane von Guillaume Musso. Effektvoll geschriebene Bestseller zwar, immer aber magisch-realistische Geschichten über Menschen, denen das Leben die kniffligsten Aufgaben stellt. Lesetipps: „Nacht im Central Park“, „Die junge Frau und die Nacht“ oder „Ein Wort, um dich zu retten“.
Mein Kulturmensch des Jahres
Die Soloselbständigen: Meine Kulturmenschen des Jahres sind all diejenigen, die die Pandemie voll erwischt hat. Denen Auftritte, Honorare, Ausstellungen, Veröffentlichungen, Engagements wegbrachen. Denen von einem Tag auf den anderen die kreative und finanzielle Lebensgrundlage entzogen wurde. Meine Kulturmenschen sind all die, die nicht aufgaben, aber auch die, die in kreative Löcher fielen. Sie brauchen uns, und wir brauchen sie.

Christine Jeske
Herausragendes Ereignis trotz (oder wegen) Corona
Der „Zauberprinz“: Kunsthändler Wolfgang Gurlitt kam nach Würzburg. Das Museum im Kulturspeicher präsentierte die Kunst, die er schätzte, gab Einblicke in sein schillerndes Leben und mitunter undurchsichtiges Geschäftsgebaren. Gurlitts Enkelin Alexandra Cedrino stellte ihren Roman mit fiktiven Bezügen zur Familiengeschichte vor. Kurz darauf war für Wochen die Tür zu – wegen Corona. Was dauerhaft bleibt, ist der exzellente Katalog.
Was mir im Corona-Jahr am meisten gefehlt hat
Ein Konzertabend, etwa beim Hafensommer, die unvergleichliche Atmosphäre am Wasser, ein dort oft erlebter grandioser Sonnenuntergang – und dazu Bands, von denen ich nie zuvor gehört habe, deren Musik mich jedoch nicht vom Hocker, sondern von den unbequemen Steinstufen gerissen hat. Hoffentlich bald wieder – und nicht nur Konzert-Feeling im Alten Hafen, sondern überall. Musikhören zu Hause ist keine Alternative. Es muss live sein.
Was mir kulturell durch das Corona-Jahr geholfen hat
Was immer hilft: Lesen. Und: Ausflüge (sofern es möglich war) zu Ausstellungen oder (was immer möglich ist) zu kulturellen Hotspots in der Umgebung. Etwa ein Aufstieg durch die Weinlage „Paradies“ zum Bullenheimer Berg, auf dessen Plateau sich vor über 3000 Jahren ein herausragendes Kultzentrum der Bronzezeit befand. Oder ein Spaziergang zu einem bestimmten Plätzchen am Festungsberg in Würzburg. Wo das ist, wird aber nicht verraten.
Mein Kulturmensch des Jahres
Til Brönner: Der Trompeter und Fotograf war „ziemlich sauer“. Ende Oktober gab er auf Youtube ein Statement ab, mit dem er vielen aus der Seele sprach: Eine ganze Szene sei durch die Corona-Maßnahmen lahmgelegt worden. Viele Künstler hätten sich viel zu vorsichtig zu ihrer Lage geäußert. Brönner hat damit dank seines eigenen Bekanntheitsgrads allen eine gewichtige Stimme gegeben. Das muss(te) sein, um wahrgenommen zu werden.

Alice Natter
Herausragendes Ereignis trotz (oder wegen) Corona
Zwei Mal Residenz: Dass eine Ausstellung in der Antikensammlung Spaß machen kann? Ein Trio von Archäologe, Altorientalistin und Musikforscher hat es mit „Mus-Ic-On!“ und einer hör- und anfassbaren Präsentation in der Würzburger Residenz gezeigt. So schade nur, dass ausgerechnet beim Konzert mit steinzeitlichen Instrumenten der Lockdown kam. . . Und noch eine tolle Ausstellung: Tiepolo! Leider völlig ausgebremst durch Lockdown Nr. 2.
Was mir im Corona-Jahr am meisten gefehlt hat
Das Prickeln: Die wunderbaren Wochen von Mozartfest, Hafensommer, Draußen-Konzerten... Die Momente, wenn im Theater das Licht ausgeht, der Dirigent ans Pult tritt, Räusperer und Husten aufhören . . . und endlich die Ouvertüre . . . die Gänsehautmomente . . . Szenenapplaus für großartige Sänger, „Bravos“ für beeindruckende Schauspieler, der nicht enden wollende Applaus, mit dem man das Ensemble zum zwölften Mal auf die Bühne klatscht. . .
Was mir kulturell durch das Corona-Jahr geholfen hat
Neue Scheiben:
- „Album No. 8“ von Katie Melua
- „Fire“ von Amy Macdonald
- „Mondenkind“ von Michael Wollny
- „New Crop“ von Markus Rill
- „Unexpected“ von Marla Glen
- „Trip“ von Lambchop
- „Edge of the Sun“ von Calexico
- „Chris Hopkins meets the Jazz Kangaroos“
Und zig ältere Alben. Der CD-Player in Küche = Homeoffice zeigt deutliche Abnutzungserscheinungen.

Mein Kulturmensch des Jahres
Markus Trabusch: So cool muss man erst mal bleiben. Unfassbar, wie die Stadt mit dem Intendanten des Würzburger Mainfranken Theaters umsprang. Genauer gesagt: der OB. In der Führungsstil-Debatte um den umstrittenen und streitbaren Trabusch wollte Christian Schuchardt das Aus, auf Teufel komm raus. Am Ende eines monatelangen unrühmlichen Dramas fiel die Entscheidung doch noch für einen neuen Intendanten-Vertrag. Gut so!

Michael Bauer
Herausragendes Ereignis trotz (oder wegen) Corona
Die Auto-Konzerte in Geiselwind: Ein vom Autokino abgeschautes, für Konzerte komplett neu umgesetztes Format auf dem Gelände vor der Eventhalle. Auf der Bühne spielt die Band, der Ton kommt jedoch hauptsächlich aus dem Autoradio. Bei offenem Fenster mitsingen, den Fans im Nachbar-Fahrzeug zuprosten, dazu eine spektakuläre Licht- und Lasershow – nach dem ersten Lockdown war das Anfang Juni ein befreiendes Open-Air-Erlebnis.
Was mir im Corona-Jahr am meisten gefehlt hat
Ganz klar: Festivals. Mehr noch als Hallen- oder Stadion-Konzerte hat gefehlt, Gleichgesinnte zu treffen, zu zelten, Musiker kennenzulernen. Das kunterbunte Miteinander ist immer ein kleiner Urlaub, Flucht aus dem Alltag. Ebenfalls schmerzlich vermisst: kleine Club-Konzerte. Im Dezember hätten zum Beispiel drei Solo-Auftritte von Life-of-Agony-Sängerin Mina Caputo angestanden, einer an ihrem Geburtstag – so gab? die Glückwünsche nur digital.

Was mir kulturell durch das Corona-Jahr geholfen hat
Durchhaltevermögen und Optimismus der Kunstszene: Es gab pfiffige, innovative Ersatzprogramme. Wie ein virtuelles Wacken Open Air mit eigens eingespielten Live-Auftritten. Oder in Würzburg ein ebenfalls via Internet übertragenes Umsonst & Drinnen – live aus der Posthalle. Oder „Abstandskonzerte“, bei denen die Fans einzeln an Sitzplätze oder Tische geführt worden sind. Oder kleine Liedermacher-Gigs vor, statt im Schweinfurter Stattbahnhof.
Mein Kulturmensch des Jahres
Achim Ostertag: Stellvertretend für alle Festival-Veranstalter sei der „Macher“ des Summer Breeze in Dinkelsbühl genannt. In monatelanger Arbeit ein Programm mit über 100 Bands so zusammenstellen, dass es mit den Tourneeplänen der Künstler harmoniert – und dann kommt Corona. Auch finanziell ein Fiasko. Aufgeben? Nein. Stattdessen hielten Ostertag und Co. die Fans mit virtuellen Gigs bei Laune und präsentieren bereits das Line Up für 2021.

Joachim Fildhaut
Herausragendes Ereignis trotz (oder wegen) Corona
Starkes Theater, starke Frauen, gute Argumente: die Uraufführung der Performance „That's what she said“ im Oktober im Hallenser WUK Theater Quartier. Karolin Benker und Nicole Tröger brachten das Thema „Me Too“ mit Schwung auf die Bühne und verhandelten Vor-Urteile intelligent neu: kurze, scharfe Analysen, pointierte Verhöhnung und großer Körpereinsatz. Das Stück kann sich bis zum Ende des Patriarchats auf den Spielplänen behaupten.
Was mir im Corona-Jahr am meisten gefehlt hat
Das Unerwartete: Man muss ja viele Kultursäle betreten, um überrascht zu werden. Aber sogar eine mittelmäßige Theaterinszenierung kann uns in der ersten Viertelstunde magisch in den Bann ziehen. Auf der Suche nach Ersatz in den TV-Mediatheken droht der Fehler: Ich will in den ersten Minuten wissen, woran ich bin, und lasse mich grade auf das Unerwartete gar nicht ein. Im Theatersessel dagegen kann man schlecht schnell weiterklicken.
Was mir kulturell durch das Corona-Jahr geholfen hat
Zu Gast sein: Zu wenig Kontakte, keine Visionen und die Helden arbeiten alle in Pflegeberufen? Mein Gegenmittel: Mehrmals war ich privater Gast im Künstlerhaus Thüringen auf Schloss Kannawurf im damals nur schwach verseuchten Kreis Sömmerda. Nächte am Schlosshoffeuer, Koch-Improvisationen mit dem Schlossherrn, Unkrautjäten im Renaissance-Garten, ein Ausflug zu Tübkes Elefantenklo – von jedem Besuch ließ sich monatelang zehren.

Mein Kulturmensch des Jahres
Wim Wenders: Zum Glück wurde der Regisseur 75 Jahre alt, die ARD stellte eine Auswahl seiner Filme in die Mediathek. Von Wenders' studentuschen Anfängen an ließ sich das Prinzip nachvollziehen, jedes Bild müsse eine große innere Notwendigkeit ausstrahlen. Das half über das – inzwischen teils schwer erträgliche – theatralische Sprechen in einigen Filmen (diese Handke-Einflüsse!) hinweg. Größte Überraschung beim Wiedersehen war „The Million Dollar Hotel“.

Siggi Seuß
Herausragendes Ereignis trotz (oder wegen) Corona
„Der Schimmelreiter“: Für mich wäre es die „Inszenierung des Jahres“ geworden, hätte man Christian Schidlowskys Sicht auf Theodor Storms Novelle in Maßbach in Ruhe weiterspielen können. Zu hoffen ist, dass Sturmgebrause, Meeresrauschen und Möwengeschrei bald wieder im Intimen Theater einkehren. So küre ich ersatzweise zum Ereignis des Jahres, dass das Aufwachsen meines ersten Enkeltöchterchens Theresa in Kiew ganz ohne mich gelungen ist.
Was mir im Corona-Jahr am meisten gefehlt hat
Die Geräusche und Gespräche im Vestibül und Foyer eines Theaters in freudiger Erwartung einer Vorstellung. Ja, auch die Düfte in den Gängen, Treppenhäusern, Sälen: Schweiß und Staub und Mottenkugeln und Parfüm und Bohnerwachs. Die Minuten der Spannung, bevor sich der Vorhang öffnet und wir mit staunenden Augen auf das Geschehen blicken, egal ob wir im Lauf des Abends erfreut oder enttäuscht werden.

Was mir kulturell durch das Corona-Jahr geholfen hat
Bücher. Bücher. Bücher: Geschichten von wundersamen Freundschaften und seltsamen Geschöpfen. Zum Beispiel Albert Wendts „Tok-Tok im Eulengrund“ oder G. Neris „Tru & Nelle“. Und TV-Serien als große Bilderbücher des Lebens: „The Handmaid's Tale“ nach Margaret Atwood. Oder die Kultserie des BR aus den frühen 1990ern: „Löwengrube – Die Grandauers und ihre Zeit“. Noch wichtiger: Regelmäßiges Flanieren im Duett.
Mein Kulturmensch des Jahres
Paul Maar: Endlich wird mir die Welt vertrauter, die der große Erzähler, Theater- und Kinderbuchautor Paul Maar schuf. Mit „Wie alles kam“ – der Geschichte seiner Kindheit und Jugend – nimmt er die Leser mit auf eine Zeitreise durch Paradies und Hölle eines Heranwachsenden. Nur das allseits tröstliche Kinderuniversum, das seiner eigenen Fantasie entsprang, gab ihm die Kraft, die ewige Vater-Sohn-Tragödie im Zaume zu halten.