
Der Außerirdische: Michael Wollny mit "Mondenkind"
Michael Wollny gehört zu den wenigen Menschen, die Musik erfinden können, wie es sie noch nie gegeben hat, und die dennoch auf eine zutiefst menschliche, ja tröstliche Art vertraut klingt. Mit "Mondenkind" hat der aus Schweinfurt stammende Jazzpianist (42) im Herbst sein erstes reines Soloalbum vorgelegt (ACT), eingespielt im April während des ersten Lockdowns im nahezu menschenleeren Berlin, bis auf den Tonmeister mutterseelenallein im Studio.
Der Titel des Albums lehnt sich an Michael Endes "Unendliche Geschichte" an, die Länge von 46 Minuten, 38 Sekunden entspricht genau der Dauer, für die der Astronaut Michael Collins im Jahr 1969 bei jeder Umrundung des Mondes in der Columbia keinen Funkkontakt zur Erde hatte. Die Kollegen Neil Armstrong und Buzz Aldrin taten derweil die ersten Schritte der Menschheit auf dem Mond.

Es geht also um Einsamkeit – nicht die Einsamkeit, vor der die meisten Menschen Angst haben, sondern den Zustand, in dem kreative Menschen tieferen Zugang zu sich selbst, zu Inspiration und Ideen finden. Gut die Hälfte der Songs hat Wollny geschrieben, für die andere hat er Stücke von Tori Amos, der Band Timber Timbre oder der Neutöner Alban Berg und Rudolf Hindemith (der Bruder von Paul) adaptiert. Der Weg führt von einer klirrend kalten Mondlandschaft über gigantische Klanggebirge, durch von Irrlichtern bewohnte Ebenen in ein Land der Wärme und der Zuversicht, wie es wohl weder auf der Erde noch auf dem Mond zu finden ist.
"Mondenkind" ist bei Michael Wollnys langjährigem Label ACT erschienen.
Der Ertragreiche: Markus Rill feat. Robert Hasleder mit "New Crop"
Wie produktiv ist dieser Singer-Songwriter noch? Hatte Markus Rill nicht eben erst mit seiner Band The Troublemakers 15 wunderbare Lieder zu einem "Songland" vereint? Und kurz zuvor mit "Getting Into Trouble" zurückgeblickt und Bilanz von 20 Jahren Musikerdasein und Bühnenschaffen gezogen? Aus einem stimmigen Album scheint bei dem Americana-Musiker (der "nebenbei" Redakteur dieses Medienhauses in Main-Spessart ist) gleich das nächste stimmige zu keimen und sprießen – als folgte auf eine gute Ernte die nächste.

Jetzt also, als Früchte im Corona-Jahr: "New Crop". Ein akustisches Album, das der Gitarrist mit der Reibeisenstimme mit dem Multi-Instrumentalisten Robert Hasleder eingespielt hat. Beide sind leidenschaftliche und – eigentlich – vielbeschäftigte, unentwegte Live-Künstler und reisende Bühnenmusiker. Die Zwangspause nutzten sie zum gemeinsamen Einspielen von unveröffentlichten Songs aus Rills Feder im Studio.
Die Erntebilanz: eine durchweg abwechslungsreiche Scheibe mit hübschem Cover – wieder mal – sehr eingängigen ohrwurmtauglichen Melodien, einer Prise Melancholie, ein bisschen Augenzwinkern und schönen Country-Klängen von Mandoline, Banjo, Akkordeon zu Rills kleinen, feinen Geschichten. Egal ob Markus Rill von verflossener Liebe oder von Farmer-Romantik mit Traktor erzählt oder gegen das Kriegführen und gegen Ideologien ansingt – immer wird es nach düsteren Momenten wieder heiter. Das nährt die Seele... Und wollte man diesem Songwriter für "New Crop" etwas vorwerfen, dann nur, dass das Album nach zehn Songs und 37 Minuten schon aus ist.
"New Crop" ist bei Blue Rose Records erschienen, www.bluerose-records.com
Die Swingenden: Hot & Cool mit "Bahdim"
Musik voller Schwermut, Verlust und Galgenhumor. Aber auch voller Energie, Trotz und Lebenswillen. Das Ensemble Hot & Cool hat sich mit "Bahdim" (ein Fantasiewort, wie es Musiker verwenden, um Klänge oder Rhythmen zu skizzieren) der Schnittmenge zwischen Jazz, Klezmer und osteuropäischer Folklore angenommen, die ab den 1930er Jahren eine der wichtigsten Richtungen des Swing ergeben sollte.

Jiddische Texte mit Bigband-Sound unplugged: Das Quintett mit den Veitshöchheimern Claudia und Bernhard von der Goltz (Gesang beziehungsweise Gitarre und Arrangements) sowie Petra Müllejans (Geige), Rainer Schwandler (Sopransaxofon, Akkordeon), und Uwe Schachner (Cello) musiziert mit klassischer kammermusikalischer Präzision aber eben auch mit dem Quantum swingender Verwegenheit, die es braucht, damit aus Liedern Songs werden. Es sind Melodien einer vielleicht doch nicht ganz untergegangenen Zeit, in die Gegenwart geholt mit Sorgfalt, Liebe und Hochachtung. Wer übrigens Bernhard von der Goltz als Songschreiber näher kennenlernen will, der findet auf dem Jazzalbum "Osaka - Namibia - Würzburg" mit dem Schwander-Goltz-Kandert-Trio noch mehr swingendes Material.
Zu bestellen unter bernhard@vondergoltz.net
Die Frechen: Widersacher aller Liedermacher mit "Die Bris"
Das ist selten: Dass eine Band vom ersten Ton an neugierig macht auf alles, was danach kommt. Widersacher aller Liedermacher ist so eine Band. Dass der direkte Aufstieg in irgendwelche Charts sie nicht allzu sehr interessiert, zeigt schon der wenig PR-taugliche Bandname. Aber Julian Hrdina (Drums), Marcel Doudieh (Gitarres, Saxofon), Joris Conrad (Keyboards), Cornelius Grömminger (Bass) und Frontmann Matthias Wolf (Gesang, Gitarre), ausgezeichnet mit dem Würzburger Preis für junge Kultur 2020, machen ihr eigenes Ding, und das macht sie so stark.

Listige, melancholische, selbstironische Texte, meist in Oberpfälzer Mundart von Matthias Wolf, dazu meist clever reduzierte und doch irgendwie opulente (wie machen die das?) Sounds, immer verwoben mit einem coolen, sehr entspannten Shuffle (Anspieltipp: "Basst scho"). Genre-Begriffe wie Blues, Folk, Hip-Hop, R&B oder Rock treffen hier durchaus zu, und werden dem Phänomen Widersacher aller Liedermacher doch nicht gerecht. "Die Bris" ist das erste Album der Band, sogar in Stereo, wie das Cover anpreist – hoffentlich folgen viele weitere.
Zu bestellen unter info@widersacher-aller-liedermacher.de
Der Routinierte: Dennis Schütze mit "Still Here"
Wer erdigen Bluesrock und stimmungsvolles Country liebt, der ist beim neuen Album des Würzburger Singer-Songwriters Dennis Schütze gut aufgehoben. "Still Here" ist seine trotzig-rockige Art, gegen die Pandemie anzugehen. Die Mitwirkung der Cellistin Nina Clarissa Frenzel bei einigen Songs bringt eine interessante zusätzliche Note ins ansonsten fast puristische Klangbild. Tatsächlich lohnt es auch, hinter die Fassade der zunächst routiniert anmutenden Songstrukturen zu hören: Schon im ersten Song "Dicovery" gibt es eine unvermittelt eingeschobene freie Improvisation.

Das Album ist beides: Auseinanderetzung mit und Weiterentwicklung von musikalischen Ideen, die Schütze schon lange beschäftigen oder begleiten (inklusive eines Songs über den berühmten Jimi-Hendrix-Akkord "E7#9") und autobiografisch geprägter Kommentar zu einer Zeit, die jeden Einzelnen immer wieder zwingt, über Grundfragen des Lebens nachzudenken.
Erhältlich auf allen Streamingportalen, eine gepresste CD gibt es nicht.