Möglicherweise werde diese 99. Ausgabe des Mozartfests eher in die Geschichte eingehen als die 100. im kommenden Jahr, meinte Intendantin Evelyn Meining Ende Mai. Da hatte die Stadt auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben, das Würzburger Festival werde stattfinden, trotz Corona. Es klappte: Das Team hatte gepokert und konnte sogar Live-Konzerte anbieten. Der Live-Stream auf www.br-klassik.de, der am 9. Juni das Festival eröffnete, hatte 104 000 Besucher und damit die drittgrößte Reichweite bei BR Klassik seit Corona.
Evelyn Meining: Erstmal das Gefühl der Befreiung. Dass wieder Musik erklungen ist. Dass wir ein Stück Normalität zurückgewinnen konnten. Dass es sich gelohnt hat, diese Mühen auf sich zu nehmen, die man so einem Abend gar nicht ansieht. Dieses „Corona-Mozartfest“ hat mindestens so viel Arbeit gemacht wie eine vollständige Festivalausgabe über vier Wochen mit 75 Konzerten. Weil uns auf dem Weg dahin von allen Seiten immer neue Planungsunsicherheiten begegnet sind. Wir mussten mit unseren Partnern immer unter Voraussetzungen planen, die wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kennen konnten. Dass das überhaupt möglich war, ist dem gesamten Team vom Mozartfest zu verdanken, allen voran der Geschäftsführerin Katharina Strein.
Meining: Es kam für uns nie in Frage, nichts zu machen. Bis Ende April hatten wir gehofft, dass der Spuk im Juni vorbei sein würde. Diese massiven Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens in allen Bereichen – wir haben gedacht, dazu wird es nicht kommen. Dazu darf es nicht kommen. Vielleicht war das Absurde der Situation ein Hoffnungsgeber: Wir haben gesagt, dieses Virus, das zaubern wir weg. Und dann haben wir innerhalb von fünf Wochen das auf die Beine gestellt, was jetzt geboten wurde. Ich habe immer gesagt, solange wir essen und trinken, atmen wir auch, und unsere Seelennahrung ist die Musik. Die Musik selbst kennt Krisen, sie kann ein Medium der Krise sein. Und genau deshalb kann sie Menschen in Krisen und aus Krisen heraus helfen.
Meining: Das gehört zu den schönsten Erfahrungen meiner bisherigen Jahre in Würzburg: Die Stadtspitze hat immer zu uns gehalten – von Anfang an und kontinuierlich. Samt Kämmerer, der ja weiß Gott große Löcher im Haushalt haben wird. Das Rathaus hat immer gesagt: Macht, was möglich ist! Das hat mir auch persönlich viel gegeben. Es war eine fantastische Rückendeckung.
Meining: Wir wussten immer, dass Kultur im formalen Sinn eine „freiwillige Leistung“ ist. Dort lässt sich der Rotstift am schnellsten ansetzen. Dass in dieser Krise die Kultur allerdings wochenlang gar nicht erwähnt wurde, dass es bis vor zehn Tagen keine klaren Regelungen gab, das hat uns dann doch überrascht und auch befremdet. Wir hätten es einfach nicht für möglich gehalten. Da mussten wir uns selber helfen. Es waren die Kulturschaffenden, die sich organisiert und den Dialog mit der Politik gesucht haben. Zum Beispiel über das Forum Musik Festivals, dem das Mozartfest angehört. Wir haben gesagt, okay, die Politik braucht offensichtlich Handlungshilfen, also schlagen wir Konzepte vor. Aber ganz unabhängig von solchen Abläufen: Das Konjunkturpaket der Bundesregierung ist mit 130 Milliarden Euro beziffert. Ein Hundertdreißigstel soll an die Kultur gehen. Ist sie wirklich ein so kleiner Baustein? Eine Milliarde klingt erstmal viel, aber das setzt die Kulturbranche pro Jahr locker mehrfach um.
Meining: Zuerst muss man weg vom Begriff "Subvention". Das klingt nach Alimentierung. Es geht aber um Investitionen. Sonst müsste man in vielen Bereichen der Gesellschaft von Subventionen sprechen. Kultur ist ein unverzichtbarer Baustein des menschlichen Lebens. Sie zeichnet uns aus, sie ist das einzige, was von uns bleibt. Nicht der Baumarkt, nicht der Friseursalon, nicht der Biergarten. Auch nicht die Lufthansa.
Meining: Wir würden uns wünschen, dass die Politik entschiedener Position für die Kultur bezieht. Politiker sind schließlich diejenigen, die wir wählen, damit sie der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gerecht werden. Das, was heute in Kunst und Kultur investiert wird, sparen wir morgen in der Sozialarbeit. Wenn eine Gesellschaft kulturell gebildet ist, wird sie viel weniger mit Schattenseiten wie Verrohung zu kämpfen haben. Kultur hat direkt mit mentaler Disposition zu tun. Darin liegen Chancen, die eine Gesellschaft nicht verspielen sollte.
Meining: Es geht darum, eine Wertegemeinschaft zu formen. Es ist schade und letztlich auch sachfremd, dass man immer wieder die Zahlen hervorholen muss: Wie groß die Branche ist, die Umsätze, wie unverzichtbar ihr Beitrag für die Wertschöpfungsketten.
Meining: Ich bin ja in der ehemaligen DDR aufgewachsen. Da hatten die Kulturschaffenden feste Arbeitsverhältnisse. Da gab es dieses eigene Risiko der Berufsausübung nicht. Wir leben jetzt in einer anderen Welt, und da greift die Marktwirtschaft auch in der Kultur. Der Markt hat nur Platz für die Allerbesten, das werden wir nicht ändern können. Die Hochschulen müssten aufhören, dieses Heer von nicht vermittelbaren Musikern zu produzieren, die sich mit kleinen Gehältern verdingen oder unfreiwillig in andere Berufe abwandern müssen. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat das kürzlich wieder einmal bestätigt. Ganz abgesehen davon ist es kein Geheimnis: Statistisch gesehen verdient ein freiberuflicher Musiker laut Künstlersozialkasse gerade mal 10 000 Euro. Im Jahr.
Meining: Es braucht Sicherungsnetze. In der alten DDR gab es den Kulturgroschen. Jeder, der ein Ticket löste, für welches Kulturangebot auch immer, hat zehn Pfennig mehr bezahlt. Wenn dieses System wieder eingeführt würde, könnte man einen großen Fonds ansparen, der auch für Musiker greifen würde, die in Not geraten – wie jetzt in der Corona-Krise.
Evelyn Meining (*1966) ist Dozentin für Kulturmanagement an den Musikhochschulen Mannheim und Karlsruhe - und seit der Saison 2014 Intendantin des Mozartfestes Würzburg. Ihre künstlerische Ausbildung erhielt sie an der Hochschule für Musik Dresden im Hauptfach Gesang. Nach ihrem Aufbaustudium für Kulturmanagement in Hamburg war sie u.a. Orchester- und Konzertmanagerin am Staatstheater Darmstadt und Programmdirektorin und Prokuristin beim Rheingau Musik Festival.