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Birkenfeld
Der Roman seines Lebens: Paul Maar erzählt „Wie alles kam“
Paul Maar, einer der bedeutendsten deutschen Kinderbuchautoren, schreibt über die eigene Kindheit und die traumatische Erinnerung an den Vater, die ihn bis heute verfolgt.
Paul Maar an seinem Schreib- und Rückszugsort in Birkenfeld.
Foto: Siggi Seuß | Paul Maar an seinem Schreib- und Rückszugsort in Birkenfeld.
Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 08.02.2024 13:16 Uhr

Paul Maar beginnt seine zehnte Sams-Erzählung, "Das Sams und der blaue Drache", mit ein paar wehmütigen Gedanken. „Im Nachhinein“, schreibt er, „habe ich es manchmal bedauert, dass die Wunschmaschine so schnell kaputtging. Immer mal wieder hab ich mir ausgemalt, was noch alles hätte passieren können.“ Also erweckt er die Maschine zu neuem Leben. So einfach geht das in der Fantasie.

In "Wie alles kam", dem autobiografischen Roman seiner Kindheit, der zeitgleich mit dem neuen Sams und einem berührenden Märchen erscheint, in "Wie alles kam" sieht das ganz anders aus. Dem jungen Paul stand nie eine Wunschmaschine zur Verfügung, die auf Knopfdruck seine unendliche Lust auf Abenteuer befriedigt und gleichzeitig seinen von Angst gebändigten Drang beseitigt hätte, aus den bedrückenden familiären Verhältnissen auszubrechen. Er musste also seinen Kampf alleine austragen. „Ja, es kommt Bedauern auf“, gesteht er im Interview, „vor allem nachts, wenn ich nicht schlafen kann. All die Dinge, die ich nicht getan habe, all die Situationen, die ich nicht begriffen, nicht ergriffen habe.“

Hätte es in Paul Maars Kindertagen eine Wunschmaschine gegeben,
wäre aus ihm ein ganz anderer geworden

Obwohl in seinen Erinnerungen an Kindheit und Jugend im Haßberge-Dörfchen Obertheres und in der Industriestadt Schweinfurt die lebenslange Tragik des Vater-Sohn-Verhältnisses dominiert, kann man nach der Lektüre ohne Bedenken behaupten: Hätte es in Paul Maars Kindertagen eine Wunschmaschine gegeben, wäre aus ihm ein ganz anderer geworden als der, der er ist, einer der bekanntesten und beliebtesten deutschen Kinderbuchautoren. Paul Maar spielt mit Worten, er spielt mit Gedanken, gibt ihnen Gewicht, gibt ihnen Leichtigkeit, lasst sie mit sich selbst Schabernack treiben, und verlasst dabei kaum das kindliche, sein kindliches Universum aus Wirklichkeit, Fantasie und Trost, in dem er sich auch im 83. Lebensjahr zu Hause fuhlt.

Paul Maar liest aus seinem neuen Buch „Das Sams und der blaue Drache“.
Foto: Marion Krüger-Hundrup | Paul Maar liest aus seinem neuen Buch „Das Sams und der blaue Drache“.

Dass er sich mehr im Milieu dieser Abenteurerzeit bewegt als anderswo, ist seinen Jahren auf dem Dorf geschuldet. „Ich glaube, dass diese fünf, sechs Jahre, die ich dort verbracht habe, mir die Kraft gaben, alles andere gut durchzustehen und auszuhalten. Weil ich da meinen ,Inneren Kern' geformt und gefunden habe und wusste: Es gibt was Schönes, es gibt Freude.“

Trotzdem bleibt die Frage: Wie hatte aus dem fantasiebegabten und oft kränkelnden Jungen das werden können, was er geworden ist? Obwohl ihm sein Vater doch immer wieder zu verstehen gab – zuerst mit Schlägen, dann mit Worten –, dass er nicht der Sohn war, den er sich wünschte. „Nun blieb ich der ungeratene Sohn“, schreibt er in "Wie alles kam", „der so gar nicht seinen Vorstellungen von einem drahtigen, sportbegeisterten Jungen entsprach, sondern mit Brille auf der Nase und krummem Rücken verweichlicht im Sessel lümmelte, ein Buch in der Hand“.

Der Erzähler mäandert zwar von einer Anekdote zur anderen,
trifft aber immer wieder staunend auf seinen „inneren Kern“

Paul Maar erzählt auf unvergleichlich sanfte, selbstironische und nun auch selbstreflexive Weise von allen Schattierungen seines Lebens als Kind und Jugendlicher. Dabei fügt er den Erinnerungen immer wieder Bezüge zur Gegenwart an, liebevolle Augenblicksskizzen seiner seit Jahren an Alzheimer leidenden Ehefrau Nele. Der Erzähler mäandert zwar von einer Anekdote zur anderen, trifft aber immer wieder staunend auf seinen „inneren Kern“.

Die bedeutsamsten Prägungen dieser Zeit: Der Tod der leiblichen Mutter, als er sechs Wochen alt war. Die Jahre mit seiner geliebten Stiefmutter bei deren Familie am Dorf. Die Rückkehr des von Krieg und Kriegsgefangenschaft schwer gezeichneten Vaters, der sich für Paul zum monströsen Schreckensmann entwickelte. Das Kennenlernen seiner späteren Gattin Nele, die ihm den Weg in eine völlig neue Welt – die des Theaters – öffnete und ihn damit endgültig aus dem Milieu rettete, in dem er zu versinken drohte.

„Schiefe Märchen und schräge Geschichten“: Paul Maar mit den Musikern Wolfgang Stute und Konrad Haas am 2. Dezember 2019 auf der Bühne des Mainfranken Theaters in Würzburg.
Foto: Patty Varasano | „Schiefe Märchen und schräge Geschichten“: Paul Maar mit den Musikern Wolfgang Stute und Konrad Haas am 2. Dezember 2019 auf der Bühne des Mainfranken Theaters in Würzburg.

Die Bilder, die sich im Kopf des Lesers entwickeln, werden begreifbar, als stünde man selbst als teilnehmender Beobachter neben dem Erzähler. Selbst die Gerüche in der Gastwirtschaft des Großvaters steigen einem in die Nase. Und das Milieu, das Paul zu sich in die Mittelmäßigkeit ziehen will, ist nahezu körperlich spürbar.

Zitat aus dem Buch: „Ich hatte mir schon während der Schulzeit einen gewissen Ruf als Maler und Graphiker erworben. Mir stand eine Karriere als Provinzmaler bevor, geschätzt von der Schweinfurter feinen Gesellschaft, der die Fassaden ihrer Häuser mit einem in Putz gekratzten Sgrafitto schmücken und alle paar Jahre eine Ausstellung seiner Bilder an den Wänden der Volkshochschule zeigen durfte.“

Und dann kam Nele, das Zauberwesen aus der Welt der misstrauisch aber auch neidisch beäugten Gaukler des Fränkischen Theaters, das damals noch in Stöckach zu Hause war: „Man saß beim Nachmittagstee und unterhielt sich über Bühnenstücke, sprach von Malern, die ich nicht kannte und von Büchern, die ich nicht gelesen hatte. Und mir wurde klar: Das ist meine Welt! Da will ich hin.“

Über all den mit Humor beschriebenen Geschichten liegt Schwermut,
der Vater blieb bis über seinen Tod hinaus für Paul Maar ein Fremder 

Zwei Welten also retteten Paul: Die „heile Welt“ des fränkischen Dörfchens, in dem er mit seinen Freunden – wie einst Tom Sawyer und Huck Finn am Mississippi – den Fantasien freien Lauf lassen konnte, in den Schilfhöhlen am Ufer des Mains. Und: die leibhaftige Nähe zum Theater, die ihm so viele Türen zu unbekannten Galaxien öffnete.

Doch über all den mit Humor beschriebenen Geschichten liegt Schwermut. Der Vater blieb bis über seinen Tod hinaus für Paul Maar ein Fremder. Die Ablehnung des Lebenswegs seines Sohnes empfand der so verletzend, dass er glaubt, die Erniedrigungen hätten in ihm auch Eigenschaften befördert, mit denen er bis heute zu kämpfen hat: Angst und Schüchternheit – was von jenen, die ihm begegnen, eher als sympathische Bescheidenheit verstanden wird und nicht als Makel. Im Buch und im Gespräch geht Maar schonungslos offen mit seinem Verhalten um: „Ich fasse mir manchmal an den Kopf und frage mich: Warum mach ich das? Ja, weil mein Vater das wollte. Er ist immer noch im Hinterkopf und dirigiert mich – und darüber ärgere ich mich.“

Immer wieder grübelt Paul Maar darüber, wie es geschehen konnte,
dass sich der Vater für ihn zum Schreckensmann entwickelte

Nicht einmal die zahlreichen Ehrungen und Preise, die Paul Maar im Lauf seines Lebens erhalten hat, können ihn darüber hinwegtrösten: „Ich hab mal versucht, mich zu fragen, woher das kommt, dass ich mich eigentlich über keinen der vielen Preise jemals gefreut habe. Ich kann mich einfach nicht freuen! Sie lagern oben am Dachboden. Und auch die Bundesverdienstkreuze und Ich-weiß-nicht-was-alles sind hier in diesem Schuhkarton. Das ist die Prägung durch meinen Vater. Ich habe mich unwürdig gefühlt, Auszeichnungen entgegenzunehmen. Weil er immer sagte: Aus dir wird nur mal ein Straßenkehrer.“

Nicht, dass sich der erwachsene Paul nicht gegen diese traumatische Präsenz des Vaters zur Wehr gesetzt hätte. Mit welchen Folgen, beschreibt eine Passage aus seinen Erinnerungen: „Ich suchte nach einem Foto, das ihn zeigte, vergrößerte es, legte es auf einen Lichtkasten und einen Bogen Aquarellpapier darüber, dann zeichnete ich die Konturen nach, vergaß auch nicht die charakteristische Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen und bog seine Mundwinkel etwas höher als auf dem Foto, so dass sich der vage Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht zeigte. Anschließend colorierte ich die Zeichnung. Das alles sollte wie ein Voodoo-Zauber wirken, eine magische Beschwörung, die mir meine unsinnige, kindische Furcht nehmen würde. Das Bild lag dann eine Weile auf meinem Arbeitstisch. Ich fühlte mich diesem gemalten Vater sogar näher als dem aus meiner Erinnerung. Nach einer Weile legte ich das Bild in die Schublade, in der ich meine Illustrationen aufbewahrte, und vergaß es. Ein halbes Jahr später öffnete ich die Schublade auf der Suche nach einer Illustration. Urplötzlich empfand ich etwas wie einen Schlag in den Magen, eine Blutleere im Gehirn. Ich warf die Schublade so heftig zu, dass sie wieder aufsprang und noch einmal geschlossen werden musste.“

Paul Maar, 'Wie alles kam - Roman meines Lebens'
Foto: S.Fischer Verlag | Paul Maar, "Wie alles kam - Roman meines Lebens"

Damit ist die Vater-Sohn-Tragödie nicht zu Ende. Immer wieder grübelt Paul Maar darüber, wie es geschehen konnte, dass sich der Vater für ihn zum Schreckensmann entwickelte. Der rätselhafte Vater, der wie ein Springteufel aus der Schublade fährt, gerade dann, wenn der Sohn glaubt, mit ihm Frieden geschlossen zu haben.

Paul Maar hatte das Manuskript von "Wie alles kam" bereits beendet, als ihm seine Schwester einen Karton mit Briefen aus dem Nachlass der Mutter übergab. Darunter befanden sich Feldpostbriefe des Vaters an die Ehefrau zu Hause. Paul Maar fiel aus allen Wolken. Er lernte in den liebevollen und empathisch geschriebenen Zeilen einen Mann kennen, den er so nie erlebt hatte. So endet der Roman seiner Kindheit mit einem Ereignis, das das Vaterbild völlig erschüttert. Und wiederum hilft hier kein Gang zur Wunschmaschine, sondern nur der Griff zum Füllfederhalter oder zur Laptop-Tastatur und zum nächsten Stapel leerer Manuskriptblätter.

Was machen Krieg und Gefangenschaft mit einem Menschen? Was machen starre Weltbilder, zerstörte Hoffnungen und enttäuschte Erwartungen mit einem einst liebesfähigen Mann? Dem kleinen Paul ist kein Vorwurf zu machen, selbst wenn sich der große Paul heute den Haarschopf rauft und die Schuldfrage neu bewertet. Doch die Leser wissen nach dieser Zeitreise durch Paradies und Hölle einer Kindheit: Nur das allseits tröstliche Kinderuniversum, das Paul Maar im Lauf der Jahrzehnte geschaffen hat, gab ihm die Kraft, die ewige Vater-Sohn-Tragödie im Zaume zu halten.

Paul Maar: "Wie alles kam. Roman meiner Kindheit". S. Fischer Verlag, Frankfurt 2020, 304 Seiten, 22 Euro – "Das Sams und der blaue Drache". Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2020, 185 Seiten, 13 Euro
Paul Maar, Eva Muggenthaler (Ill.): Die goldene Schildkröte, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2020, 32 Seiten, 14 Euro

 
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