
Nein, Sie müssen nicht nach Nordfriesland fahren und im Hauke-Haien-Dorfkrug einkehren, um so in die Geschichte einzutauchen, dass Sie glauben, der legendäre Schimmelreiter würde am wolkenzerfetzten Nachthimmel vorbeigaloppieren. Es reicht ein Abend im Maßbacher Theater, wo Sie von wackeren Waterkantlern mit einem kräftigen „Moin Moin!“ begrüßt werden, bevor sie Ihnen vom Tresen aus die schauerliche Legende vom Deichgrafen Hauke Haien erzählen, der Hauptfigur in Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“, die Christian Schidlowsky für die Bühne bearbeitet und inszeniert hat.
Die Maßbacher Interpretation ist ein Erlebnis, das man sich als Schüler sehnlichst gewünscht hätte. Damals, als sich der Deutschlehrer bemühte, die Pflichtlektüre zum unterhaltsam belehrenden Unterrichtsereignis zu gestalten. Zwar ist dem Rezensenten noch das eine oder andere Deichbruchstück in Erinnerung. Das zeugt von der zeitübergreifenden Dramatik und Moral, die dem Stoff innewohnt. Aber verglichen mit der quicklebendigen Schauspiel-Erzählung kann man didaktische Experimente getrost vergessen.
Gemalte Kulisse tosender Meereswogen
Der enorme Einfallsreichtum von Schidlowsky und seinem Team beginnt bereits bei Peter Piccianis Bühnenbild. „Wie, um Himmels Willen“, fragt man sich, „soll auf dieser Wohnzimmerbühne so etwas wie original friesisches Sturmgebrause aufkommen?" Es klappt. Vom ersten Augenblick an.
Im Hintergrund - die gemalte Kulisse tosender Meereswogen. Überall Möwengekreische, Meeresrauschen, ja sogar Schafsgeblöke vom Deich in einer Art Dolby Surround. Unter dem prüfenden Blick der von Jutta Reinhard im landestypischen Klischee gekleideten Nordfriesen fragt sich mancher Zuschauer, ob er selbst zur wiederkäuenden Spezies gehört.
Schräg vor dem schäumenden Meer steht ein Tresen, der sich mit ein paar Handgriffen zum Deich umgestalten lässt. So kann die Kneipengesellschaft der Gegenwart im Nu die Uhren um zwei Jahrhunderte zurückdrehen. Das tut sie denn auch, wenn sie nicht – ein Erzähler zum nächsten – gerade den Geschichtsfaden spinnt, der in der Novelle in Händen eines aufgeklärten Dorfschulmeisterleins liegt.
Wechsel der Figuren von Augenblick zu Augenblick
So schlüpfen, neben dem souveränen Benjamin Jorns als Hauke, Anna Schindlbeck (seine spätere Frau), Susanne Pfeiffer, Marc Marchand, Ingo Pfeiffer und Georg Schmiechen in mindestens zehn verschiedene Rollen. Ihnen dabei zuzusehen, wie sie von Augenblick zu Augenblick die Figur wechseln, ist eine Freude. Diese kleinen Andeutungen, diese mimischen Karikaturen, diese Gruppenchoreografie! Und dann mimen sie im Kollektiv auch noch Hühner, Katzen, Hunde, Dorfbewohner. Wenn Ingo Pfeiffer schließlich mit Hingabe in die Rolle von Hauke Haiens Schimmel schlüpft, wird nicht nur den Tierfreunden im Publikum ganz warm ums Herz.
Christian Schidlowskys intelligente und pfiffige Regieeinfälle gehen niemals zu Lasten der tragischen Entwicklung der Handlung. Im Gegenteil, sie kitzeln Aufmerksamkeit, Neugier und Lust hervor, der Erzählung zu lauschen. Und sie machen Mut, auch die dunklen Seiten der Geschichte mit respektvollem Augenzwinkern zu betrachten: Hauke, der sich aus kleinen Verhältnissen emporarbeitet, Nachfolger des alten Deichgrafen wird und dessen Tochter heiratet. Hauke, der sich gegen die Engstirnigkeit seiner Mitmenschen durchsetzt, die dem Aberglauben, der Missgunst und der Schicksalsergebenheit weit näher sind als der weitsichtige, kluge Pragmatiker, der den Bau eines neuen, sturmflutfesten Deiches vorantreibt.
Doch auch Hauke Haien hat seine schwachen Momente. Und genau die führen zur Katastrophe, die noch Jahrhunderte später in den Dorfkrügen Frieslands und Frankens und anderswo Stoff für schaurig-launige Abende wird. So, wie es sein muss, wenn eine unserer wichtigsten Kulturtechniken erhalten bleiben soll: Geschichten erzählen, lauschen und weitererzählen. Von Mund zu Mund. Von Generation zu Generation.
Vorstellungen im Intimen Theater und auf Gastspielreisen bis 19. April. Informationen über Telefon (09735) 235 oder www.theater-massbach.de