
Unter dem Begriff "Evakuierung" hat vor 80 Jahren, am 22. April 1942, die Deportation von 20 Juden aus Gerolzhofen und weiteren 35 aus Nachbargemeinden im damaligen Landkreis Gerolzhofen begonnen. Drei Tage später waren sie Teil des Transports von insgesamt 852 Frauen, Männern und Kindern aus Unterfranken, die in Zugwaggons in ein Durchgangslager im besetzten Polen gebracht wurden. Diese dritte war die umfangreichste Deportation unterfränkischer Jüdinnen und Juden. Keiner der Verschleppten überlebte die folgenden Monate.
"Die Deportation kam nicht aus heiterem Himmel", fasst Evamaria Bräuer, die seit über drei Jahrzehnten zur Geschichte der hiesigen jüdischen Gemeinde forscht und umfangreiches Material hierzu gesammelt hat, deren Vorgeschichte zusammen. In Gerolzhofen sowie in Zeilitzheim, von wo aus sieben Juden deportiert wurden, in Frankenwinheim (13), Lülsfeld (3), Altenschönbach (5) und Prichsenstadt (7), wie überall in dem von den Nationalsozialisten beherrschten Deutschen Reich, waren Jüdinnen und Juden zu diesem Zeitpunkt seit Jahren Schikanen ausgesetzt.
Der Deportation gingen jahrelange Schikanen voraus
Die Gottesdienste in der Synagoge wurden schon vor dem Jahr 1938 gezielt gestört. Es gab Entmietungen, was erzwungenen Wohnungswechsel aus Haus- und Wohneigentum bedeutete. Wer bis zum Jahr 1942 keine Gelegenheit zur Flucht hatte, war aus dem öffentlichen Leben längst verbannt. Frauen war es nur noch zu bestimmten Zeiten erlaubt, Einkaufen zu gehen, und das auch nur in wenigen Läden, nennt Evamaria Bräuer ein Beispiel zu den damaligen Lebensumständen der jüdischen Bevölkerung.

Über seinen Schulalltag als jüdischer Bub in Gerolzhofen schrieb der in der Bahnhofstraße geborene Walter Lichtenauer (1924-2006) in seinen privaten Memoiren: "Mit meinem Vetter Albert gingen wir zur Volksschule. Jeden Tag war Rassenunterricht, wir mussten dabeisitzen wurden angeschrien und beleidigt. Nach der Schule lauerten uns sechs bis acht Jungen auf und verprügelten uns. Der Lehrer hat dabei zu geschaut und nur gelacht. Warum, weil wir Juden waren. Später durften wir überhaupt keine allgemeinen Schulen mehr besuchen."

Den politischen und organisatorischen Rahmen zur Deportation der unterfränkischen Juden im Frühjahr 1942 schuf die Wannsee-Konferenz. Während dieser hatten drei Monate zuvor, am 20. Januar 1942, führende Vertreter der Reichsregierung und der SS-Behörden unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich, dem Chef der Sicherheitspolizei sowie des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS, festgelegt, Deutschland und die besetzten Gebiete möglichst zügig "judenfrei" zu machen. Im Klartext bedeutete das nichts anderes, als dass alle jüdischen Frauen, Männer und Kinder ermordet werden sollten.
Sammelstelle befand sich in einem Vergnügungslokal
Die auch für die Deportation der Angehörigen der Gerolzhöfer jüdischen Gemeinde geltenden Anordnungen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Würzburg zeugen von der bürokratischen Gründlichkeit, mit der die Verantwortlichen die als "Evakuierung" getarnte Deportation vorbereitet und deren Ablauf bis ins Detail ausgearbeitet hatten. Unter den im Staatsarchiv Würzburg liegenden Dokumenten befindet sich ein Schreiben vom 12. April 1942 an den Gerolzhöfer Landrat, das den Stempel "Streng vertraulich!" trägt. Darin wird angeordnet, dass "die für die Evakuierung in Aussicht genommenen Juden" am 22. April 1942 nach Würzburg, in den Saalbau Platz'scher Garten, einem Vergnügungslokal am heutigen Friedrich-Ebert-Ring (damals Hindenburgstraße), zu transportieren seien.

Den betroffenen Bewohnern des Landkreises Gerolzhofen wurde bewusst nur eine kurze Zeitspanne zur Vorbereitung auf den Abtransport eingeräumt. "Vom Zeitpunkt der Evakuierung darf den Juden erst am 20.4.1942 Kenntnis gegeben werden", ordnete die Gestapo an. Den jüdischen Frauen und Männern wurde mit der Bekanntgabe des Transports ein Merkblatt ausgehändigt, das in elf Punkten regelte, was die Betroffenen vor ihrer Deportation noch alles zu erledigen hatten. Unter anderem mussten sie ihr gesamtes Vermögen fein säuberlich auflisten und Vermögensgegenstände ausliefern. "Lebendes Inventar" – gemeint waren damit Haustiere – war "anderweitig unterzubringen". Es gab selbst die Anweisung, die vollständig möbliert zu verlassenden Wohnungen vorher noch ordentlich zu säubern und "sämtliche Licht-, Gas- und Wasserrechnungen" zu begleichen.

Nazis legten das mitzuführende Gepäck bis ins Detail fest
Für das auf den Transport mitzunehmende Gepäck gab es ebenfalls exakte Vorgaben. Neben einer Wolldecke und Essgeschirr sowie Lebensmitteln (Vorrat für 14 Tage und Mundvorrat für fünf Tage für die Fahrt) mussten Männer beispielsweise einen Anzug, sechs "bessere Hemden", sechs Krawatten und Unterwäsche für Sommer und Winter mitnehmen. Frauen mussten neben Nachthemden etwa auch eineinhalb Dutzend Taschentücher einpacken. Und als Gipfel der Unverfrorenheit, mit der die Nazis die dem Tod geweihten Deportierten behandelten, war geregelt, dass jede und jeder der Enteigneten und Entrechteten 80 Reichsmark berappen musste, um damit die Transportkosten der Reichsbahn zu begleichen. Es war eine Fahrkarte ohne Rückfahrtschein.

Am Sammelplatz in Würzburg angekommen, mussten die Jüdinnen und Juden aus Gerolzhofen – darunter mit Siegbert Rheinfelder (11), Werner Rheinfelder (13), Albert Lichtenauer (17) und Paul Henle (16) auch vier Minderjährige – drei Tage auf dem blanken Boden ausharren. Dort wurden ihnen alle noch verbliebenen Wertgegenstände, Sparbücher, persönlicher Schmuck, Eheringe und Uhren abgenommen. Nachdem nach und nach alle zur Deportation vorgesehenen Menschen aus Unterfranken am Platz'schen Garten angekommen waren, wurden diese zu Fuß unter Bewachung zum Güterbahnhof Aumühle geführt.

Deportierten marschierten am helllichten Tag durch die Stadt
Im Jahr 2017 wurde diese letzte Strecke als Weg der Erinnerung in Würzburg durch Gedenkstelen nachvollziehbar gemacht. Wie beim Abtransport durch einen Bus in Gerolzhofen geschah dies nicht heimlich in der Nacht, sondern am helllichten Tag – vor den Augen aller, die Zeugen der Szene waren, weiß Evamaria Bräuer aus Gesprächen mit Zeitzeugen.

Einem überlieferten Bericht der Gestapo zufolge fuhr der Zug mit den Deportierten am 25. April 1942 um 15.20 Uhr in Würzburg los, nahm in Bamberg und Lichtenfels weitere Menschen auf und erreichte am 28. April 1942 um 8.45 Uhr Krasnystaw im Bezirk Lublin im besetzten Polen – vollzählig und ohne Zwischenfälle, wie es im Bericht heißt. Zu Fuß wurden sie ins Durchgangslager Krasniczyn getrieben, dessen Bewohner zuvor in Vernichtungslager transportiert und ermordet worden waren. Dasselbe Schicksal erwartete die 852 Jüdinnen und Juden aus Unterfranken, von denen ein halbes Jahr später niemand mehr lebte. Viele starben bereits im Durchgangslager an Hunger, Krankheiten oder Gewalt. Die Verbliebenen wurden in den Todesfabriken Belzec und Sobibor ermordet, erklärt Evamaria Bräuer.

Um an das Schicksal der einstigen Bewohner von Gerolzhofen zu erinnern, laden das Gerolzhöfer Kulturforum und die Tourist-Information alle Interessierten zu zwei Veranstaltungen ein. An diesem Freitag, 22. April, um 16 Uhr werden die in Gerolzhofen zur Erinnerung an die ermordeten Juden verlegten Stolpersteine gesäubert. Treffpunkt ist um 16 Uhr in der Bahnhofstraße/Ecke Dreimühlenstraße. Ebenfalls dort beginnt am Samstag, 23. April, um 15 Uhr die Themenführung "verleumdet, vertrieben, vergessen" mit Evamaria Bräuer.
Das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland", das bis 31. Juli 2022 geht, nimmt diese Redaktion zum Anlass, in einer losen Reihe von Artikeln den vielfältigen Spuren nachzuspüren, die jüdische Einwohner in Gerolzhofen hinterlassen haben und sich mit der Erinnerung an diese auseinanderzusetzen.
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Hinweis der Redaktion: Eine frühere Version des Artikels enthielt die Information, dass das Durchgangslager, in das die deportierten Jüdinnen und Juden im besetzten Polen gebracht wurde, sich in Krasnystaw befand. Tatsächlich war dort nur der Bahnhof, wo die Zugfahrt endete. Das Lager stand in Krasniczyn, wohin die Deportierten getrieben wurden. Zudem war an einer Stelle im Text fälschlicherweise von einem Güterzug die Rede, die Fahrt nach Osten erfolgte jedoch mit Personenwaggons der Reichsbahn. Die Fehler wurden im Text ausgebessert.
ja, das war mir schon klar, dass solche Kommentare mit "Banalitäten von 1 bis 4" kommen. Bitte erkundigen Sie sich beim Bundesarchiv oder in wissenschaftlichen Instituten, da wird auf so etwas genau geachtet.
Und die falschen Sachen transportieren sich und werden nach dem dritten nennen wahr.
Und vor 10 Jahren wurde da auch schon im Schweinfurter Tagblatt (u.a.Main-Post) ausführlich über diesen Tag berichtet. Da hätten Sie es ja auch schon lesen können. Zudem gibt es in Würzburg den DenkOrt Deportationen und noch viel mehr, wenn einen das tatsächlich interessiert.
1. Die letzte Gelegenheit zur Flucht endete bereits im Sommer bzw. Herbst 1941.
2. Es zeigt keine Güterzüge.
3. Das Foto, welches einen Bus mit einer Frau zeigt, betrifft nicht Gerolzhofen.
4. Es gab in Krasnystaw, wo der Zug geendet hat, kein Übergangslager für deutsche Juden.