Nachweislich 1700 Jahre reichen die Spuren jüdischen Lebens in Deutschland zurück, was in diesem Jahr Anlass für ein bundesweit begangenes Festjahr ist. Wann in Gerolzhofen die ersten Einwohner jüdischen Glaubens lebten, ist nicht exakt auszumachen, doch sind in einer über 700 Jahre alten Schriftquelle erstmals Juden in Gerolzhofen erwähnt. Während der Zeit des Nationalsozialismus' wurde das vorhandene jüdische Leben in Gerolzhofen fast gänzlich ausgelöscht. Dessen Spuren sind aber bis heute zu finden.
Einen akribisch zusammengetragenen Überblick zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Gerolzhofen hat Cornelia Berger-Dittscheid geschrieben, der in dem erst im April 2021 erschienenen Teilband des Gedenkbands zu den Synagogen in Bayern unter dem Titel "Mehr als Steine ..." veröffentlicht ist. Darauf basiert auch dieser Artikel. Die Gerolzhöferin Evamaria Bräuer hat die Recherche-Arbeit unterstützt. Sie forscht seit fast 30 Jahren zur jüdischen Geschichte in der Stadt und setzt sich ein für das Gedenken an die einstigen Mitbewohner. Besonders bedeutsam sind ihr Begegnungen mit Nachkommen der Jüdinnen und Juden, die einst in Gerolzhofen gelebt haben. Sie führt sie zu deren Häuser und Grabstätten.
Falsche Vorwürfe sollten Gräueltaten rechtfertigen
Erstmals erwähnt sind Juden in Gerolzhofen im Zusammenhang mit der Verfolgung und den Massakern des selbsternannten Ritters Rintfleisch im Jahr 1298 in Franken. Grund hierfür lieferte ein angeblicher Hostienfrevel in Röttingen (Lkr. Würzburg). Während des gesamten Mittelalters wurden Juden sogar als Verursacher der Pest-Epidemien verantwortlich gemacht. So fanden sich immer wieder Motive für antisemitische Gräueltaten.
Auch im ältesten Lehensbuch des Hochstifts Würzburg sind "Häuser der Juden" in Gerolzhofen erwähnt. Weitere Quellen weisen auf Juden in der Stadt während der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts hin.
Geprägt war das Zusammenleben von Christen und Juden von der Androhung der Vertreibung, finanzieller Ausbeutung und Erpressungen, bis hin zur Gefangennahme – in Gerolzhofen wie im gesamten Hochstift. Juden durften sich nicht frei niederlassen und waren als sogenannte Schutzjuden auf herrschaftliche kostenpflichtige Schutzbriefe angewiesen. Im Jahr 1655 lebten in Gerolzhofen sieben jüdische Familien mit 27 Mitgliedern.
Juden lebten in bescheidenen Verhältnissen
Die Anfänge einer religiösen jüdischen Gemeinde in der Stadt reichen bis in diese Zeit zurück. Gottesdienste wurden in Privathäusern gefeiert. Ende des 17. Jahrhunderts unterhielten die Gerolzhöfer Juden mit Gemeinden der Umgebung einen eigenen Friedhof südöstlich der Stadt am Kappelberg, der sich bis ins 19. Jahrhundert durch Zukauf von Flächen vergrößerte. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie vor allem mit Handel, überwiegend mit Leder und Vieh. Im Jahr 1791 bestand die Gemeinschaft nur noch aus vier Haushalten; bis 1868 betrug die Zahl jüdischer Familien in der Stadt nie mehr als sieben. Deren Lebensverhältnisse wurden Anfang des 19. Jahrhunderts als insgesamt eher bescheiden beschrieben.
Als einzige öffentliche jüdische Synagoge im Landgerichtsbezirk Gerolzhofen wird 1821 diejenige in Brünnau genannt, wo es seinerzeit zwölf jüdische Familien gab und auch die einzige öffentliche jüdische Schule im Gerichtsbezirk. Eine "Judenschul" genannte Synagoge ist ab dem Jahr 1800 in Akten genannt, befand sich allerdings in einem Privathaus (heute Weiße-Turm-Straße 10). Im August 1873 konnte die Gemeinde in der Spitalvorstadt (heute Steingrabenstraße 51) auf einem erworbenen Anwesen eine neue Synagoge mit angeschlossener Religionsschule bauen und einweihen; die Rundbogenfenster des bestehenden Hauses deuten trotz späteren Umbaus zu einem Wohn- und Geschäftshaus auf den einstigen Betsaal hin.
Im Kaiserreich waren Juden erstmals gleichgestellt
Im Jahr 1813 erließ Minister Maximilian von Montgelas das Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreich, das sogenannte Bayerische Judenedikt. Es regelte die rechtlichen Verhältnisse und kontrollierte die maximale Einwohnerzahl der jüdischen Bewohner in Bayern. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Leben für Juden etwas erträglicher. Durch die reichsweite Gleichberechtigung im 1871 gegründeten Kaiserreich waren Juden in Deutschland erstmals seit dem Mittelalter gegenüber der Gesamtgesellschaft rechtlich im Prinzip gleichgestellt.
Dies führte zu einem Zuwachs und Zuzug jüdischer Einwohner in Gerolzhofen. Im Jahr 1900 erreichte diese mit 148 Juden ihren zahlenmäßigen höchsten Stand. Nun erhielten Juden das aktive und passive Wahlrecht, konnten Staatsbeamte werden und auch akademische Karrieren einschlagen. In Gerolzhofen gegründete Gruppen und Vereine nahmen nun auch jüdische Mitglieder auf. Mit Erhalt der Bürgerrechte waren sie zu dieser Zeit fest eingebunden in das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben der Stadt.
Jugendliche warfen Grabsteine um
Anfang des 20. Jahrhunderts schien sich das Miteinander zwischen Juden und Nichtjuden in Gerolzhofen zu normalisieren, obwohl seit den 1920er Jahren auch hier antisemitische Vorfälle zunahmen. Im März 1923 etwa schlugen Randalierer das Schaufenster eines jüdischen Modegschäfts ein. Im folgenden Monat kam es im Umfeld einer Veranstaltung der NSDAP in der Gaststätte "Kaiserhof" mit der antisemitischen Hassrednerin Andrea Ellendt zu Tumulten und Schlägereien. 1927 warfen Jugendliche Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof um – nicht der erste Vorfall dieser Art. Die Lage für die jüdische Gemeinde wurde immer schwieriger. Deren Mitglieder schrumpfte von 1900 bis 1933 von 148 auf 125.
Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 wurde ausgelebte Judenfeindschaft endgültig zur alltäglichen Praxis vieler. Der Ortsgruppenleiter der Nationalsozialisten, Ludwig Zrenner, verfolgte konsequent und hart den Ausschluss der Juden aus der Öffentlichkeit und dem Geschäftswesen. Er sorgte dafür, dass die Bürger jüdisch geführte Geschäfte nicht mehr betraten und in allen Gasthäusern und Cafés Schilder hingen, auf den stand: "Juden sind hier unerwünscht". Die 1938 aus 108 Mitgliedern bestehende jüdische Gemeinde existierte weiter mit ihrem Vorstand Willy Brodmann sowie Lehrer und Vorsänger Heinrich Reiter.
Inventar der Synagoge verbrannte auf Scheiterhaufen
Das Novemberpogrom fand in Gerolzhofen am 10. November 1938 in zwei aufeinander folgenden Aktionen statt, an denen sich neben der Gerolzhöfer SA, Nazi-Gruppierungen und SS-Einheiten auch Zivilisten beteiligten. In Gerolzhofen und Nachbarorten wurden Juden verhaftet; manche kamen nach Tagen wieder frei, andere wurden ins KZ Dachau verschleppt. Wohnungen und Geschäfte von Juden wurden verwüstet. Die Synagoge ging allein nur deshalb nicht in Flammen auf, weil Anwohner wegen der Brandgefahr protestierten. Das Inventar der Synagoge wurde zerschlagen und am Sportplatz – heute steht dort das Geomaris-Schwimmbad – als Scheiterhaufen aufgetürmt und verbrannt.
Nach dem Pogrom nahmen die Repressalien und Schikanen gegen die Juden noch zu und überschritten teils sogar die von Behörden gesetzten Grenzen. Arbeitsfähige Juden mussten Zwangsarbeit leisten. Nachdem Einkaufsmöglichkeiten und Bezugsmarken eingeschränkt wurden, standen einige Gerolzhöfer Bürger zu ihren jüdischen Nachbarn und versorgten sie heimlich mit Lebensmitteln oder Medikamenten. Zwischen 1933 und 1941 verließen 96 Jüdinnen und Juden Gerolzhofen. Die meisten von ihnen flohen in die USA. Weitere Fluchtziele waren vor allem England oder Palästina, aber auch Shanghai oder Südamerika, wo bis Kriegsbeginn Visafreiheit herrschte.
Flora Tully überlebte als Einzige die Shoa
Am 7. Februar 1942 lebten noch 28 Juden in Gerolzhofen. 20 von ihnen wurden am 22. April 1942 zunächst nach Würzburg, drei Tage später von dort aus ins Durchgangslager Krasniczyn (Polen) deportiert und dann im Raum Lublin ermordet. Fünf noch verbliebene ältere Gerolzhöfer Juden wurden im September 1943 nach Theresienstadt gebracht, wo sie innerhalb eines halben Jahres an den dort herrschenden miserablen hygienischen Verhältnissen oder an Unterernährung starben. Nur Flora Tully (1877-1947), geborene Lewinsohn, geschützt durch ihre Ehe mit dem katholischen Steinbildhauer Otto Tully, überlebte als Einzige der jüdischen Einwohner Gerolzhofens die Shoa. Der Besitz der enteigneten und deportierten Juden wurden zumeist versteigert – begleitet von Zank und Streit.
"Das, was die jüdischen Familien und deren Nachfahren verloren haben, kann niemand wieder gut machen. Aber das Geschehene verschweigen oder verdrängen, darf keine Art der Aufarbeitung sein." So beschreibt Evamaria Bräuer das, was sie antreibt, wenn sie bei Führungen, aber auch bei Terminen mit Schülern, an Geschichte und Schicksal der Gerolzhöfer Juden erinnert. "Doch dadurch, dass wir die Menschen und ihr Schicksal nicht vergessen und durch Erinnern zurückholen, so können wir Nachgeborenen die Überlebenden etwas trösten." Sie habe noch keinen nach Gerolzhofen gereisten Nachkommen erlebt, der mit Hass oder Vorwürfen reagiert hätte. Im Gegenteil: "Sie gehen mit dem positiven Gefühl heim, jetzt mehr über ihre Wurzeln zu wissen."
Das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" nimmt diese Redaktion zum Anlass, in einer losen Reihe von Artikeln den vielfältigen Spuren nachzuspüren, die jüdische Einwohner in Gerolzhofen hinterlassen haben und sich mit der Erinnerung an diese auseinanderzusetzen.