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Gerolzhofen
Nazis treiben jüdischen Fabrik-Direktor in die Flucht
Der in Gerolzhofen geborene Jude Richard May machte als Chemiker Karriere beim Welt-Konzern Agfa. Doch der berufliche Erfolg rettete ihn nicht vor Verleumdung und Vertreibung.
In dem Fachwerkhaus der Familie Teutsch in der Weiße-Turm-Straße in Gerolzhofen hat der im Jahr 1885 geborene Jude Richard May mit seinen Eltern und Geschwistern gewohnt, bis die Familie 1897 nach Nürnberg gezogen ist. May war später Direktor der Agfa-Farbenfabrik in Bitterfeld-Wolfen.
Foto: Michael Mößlein | In dem Fachwerkhaus der Familie Teutsch in der Weiße-Turm-Straße in Gerolzhofen hat der im Jahr 1885 geborene Jude Richard May mit seinen Eltern und Geschwistern gewohnt, bis die Familie 1897 nach Nürnberg gezogen ist.
Michael Mößlein
 |  aktualisiert: 14.02.2024 15:49 Uhr

Der in Gerolzhofen geborene Richard May (1885-1955) hat eine glänzende berufliche Karriere hingelegt. Nach verschiedenen Posten innerhalb des Unternehmens wurde der promovierte Chemiker am 1. Januar 1930 Direktor der Farbenfabrik in Bitterfeld-Wolfen im heutigen Sachsen-Anhalt. Die Fabrik gehörte zur Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrication. Der Konzern mit Sitz in Berlin ist unter seiner Abkürzung Agfa bekannt und war seinerzeit führend in der Herstellung fotochemischer Produkte. Doch auf Druck der Nazis endete Mays Karriere abrupt– aus einem einzigen Grund: Er war Jude.

Die Person Mays war in seiner Geburtsstadt völlig in Vergessenheit geraten – bis Anfang August. Da hat sich Ehrhard Finger, der zur Geschichte Agfa-Farbenfabrik Wolfen recherchiert und publiziert, bei der Stadt gemeldet. Mit Hinweis auf den erfolgreichen einstigen Sohn der Stadt bat er um weitere Informationen zu dessen Familie. Tatsächlich hat Evamaria Bräuer, die seit langem die Geschichte der einstigen jüdischen Gemeinde von Gerolzhofen erforscht, daraufhin in Archiven und Datenbanken einige Hinweise gefunden.

Wohnung der Eltern war in der Weiße-Turm-Straße

So steht mittlerweile laut Geburtsurkunde fest, dass Richard May am 17. September 1885 als dritter Sohn von Levi und Fanny (geb. Hirsch) May zur Welt kam. Im Familienbuch des Rabbinats sind für Familie May vier Kinder verzeichnet. Die beiden zuerst geborenen starben bereits im Kindesalter. Sohn Richard und die jüngste Tochter Friederike erreichten das Erwachsenenalter.

Sein Vater, im Jahr 1851 in Järkendorf geboren, war Hopfenhändler und bekleidete von 1888 bis 1897 das Amt des Vorstands des Israelitischen Kultusgemeinde von Gerolzhofen. Dann zog die Familie nach Nürnberg. Bis dahin wohnte sie in der Weiße-Turm-Straße (historische Hausnummer 49), im Fachwerkhaus der Familie Teutsch. Dies belegen eine Anzeige aus dem Bezirksamtsblatt von 1879 aus dem Stadtarchiv und eine Verkaufsanzeige von Levi May im Bote vom Steigerwald vom 12. Juli 1892, wie der heutige Besitzer Uwe Teutsch in Unterlagen zur Geschichte seiner Familie nachvollziehen konnte. Von Richard May wusste er bis vor kurzem ebenfalls nichts.

Eine Anzeige des jüdischen Hopfenhändlers Levi May aus Gerolzhofen im Bezirksamtsblatt von 1879.
Foto: Archiv Evamaria Bräuer | Eine Anzeige des jüdischen Hopfenhändlers Levi May aus Gerolzhofen im Bezirksamtsblatt von 1879.

Nach seinem Chemie-Studium und der Promotion an der Technischen Hochschule Aachen trat Richard May am 1. April 1913 in die Agfa-Farbenfabrik Wolfen ein und arbeitete im Labor der Farbenabteilung. Im Jahr 1923 wurde er zum stellvertretenden Direktor der Agfa-Fabrik bestellt. Ein späteres Zeugnis bescheinigte ihm, "sowohl in wissenschaftlicher als technischer Beziehung ein außerordentlich begabter Chemiker" gewesen zu sein. So wundert es nicht, dass May am 1. Januar 1930 Direktor der Farbenfabrik wurde, wie es in einem Beitrag zur Firmengeschichte steht, die Peter Löhnert in einem im Jahr 2009 veröffentlichten zeitgeschichtlichen Beitrag in den Mitteilungen der Gesellschaft Deutscher Chemiker veröffentlicht hat.

Dank seines exponierten Direktoren-Postens geriet May nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 rasch in deren Blickfeld. Erklärtes Ziel der Nazis war es, möglichst alle Juden aus einflussreichen Stellen zu entfernen. Hierzu war ihnen jedes Mittel recht, auch das bewusste Verbreiten von Lügen und Unterstellungen. Zudem übten sie Druck auf die Unternehmensspitzen aus, sich schnellstmöglich von ihren jüdischen Beschäftigten zu trennen.

Vorgesetzte halten zunächst zu May

Trotz des nachhaltigen Drucks, der auf die Interessengemeinschaft (I. G.) Farben – die im Jahr 1925 durch den Zusammenschluss von acht Unternehmen, darunter Agfa, entstanden ist – ausgeübt wurde, hielt insbesondere der Leiter der Betriebsgemeinschaft Mitteldeutschland, Gustav Pistor (1872-1960), den überlieferten Dokumenten zufolge noch lange Zeit zu Richard May. Er verteidigte den ihm unterstellten Direktor auch gegen teilweise anonyme Vorwürfe der Nazis, schreibt Erhard Finger in einem Artikel über May.

In einer Wohnung des Fachwerkhauses mit der historischen Hausnummer 49 in der Weißen-Turm-Straße wohnte Richard May mit seinen Eltern. Das Haus, hier auf einer nicht datierten historischen Ansichtskarte, gehört seit Generationen der Familie Teutsch.
Foto: Archiv Evamaria Bräuer | In einer Wohnung des Fachwerkhauses mit der historischen Hausnummer 49 in der Weißen-Turm-Straße wohnte Richard May mit seinen Eltern.

Dieser war unverheiratet und wohnte im Norden von Leipzig in der Nähe des Göhliser Schlösschens. Nach seinem Amtsantritt als Direktor wurde er schnell mit Wünschen der Militärs der Weimarer Republik konfrontiert. Denen ging es darum, auszuloten, wo und wie in der Farbenfabrik insgeheim Chemieprodukte für Kriegszwecke produziert werden könnten. Auf der Liste der Militärs standen unter anderem Zwischenprodukte für die Herstellung der Kampfgase Lost und Clark. Dieses als streng geheim einzustufende militärische Wissen machte den Juden May aus Sicht der braunen Machthaber erst Recht zu einer untragbaren Person und zu einem Sicherheitsrisiko.

Direktor soll aus der Schusslinie verschwinden

Seine Vorgesetzten versuchten, May unter anderem durch das Angebot eines Agfa-Vertreterpostens in China aus der Schusslinie der Nazis zu bringen. May lehnte dies aus persönlichen Gründen ab. Er begründete seinen Verzicht auch mit Verweis auf seine alte Mutter in Nürnberg, die einen solchen Entschluss nicht überleben würde. Eine Tätigkeit in der Schweiz scheiterte aufgrund verschärfter Aufenthaltsgenehmigungen für Ausländer, berichtet Ehrhard Finger.

Die am 15. September 1935 erlassenen Nürnberger Rassengesetze verschärfte die Lage für jüdische Bewohner des Landes zusätzlich. Am 21. Dezember 1935 bat Richard May in einem Brief an Gustav Pistor darum, von seinem Posten als Direktor der Farbenfabrik entbunden zu werden. Dem kam das Unternehmen mit Wirkung zum 1. März 1936 nach, versah May allerdings mit einem komfortabel bezahlten Mitarbeitervertrag, der es ihm ermöglichte, weiter in der Fabrik in Wolfen zu arbeiten.

May plant Auswanderung nach England

Als anonyme Anschwärzungen und die Diskussion um die Rolle "des Juden" in der Fabrik nicht nachließen, wollte May sich um eine Arbeitsstelle bei einer englischen Firma bemühen, was zunächst erfolglos blieb. Als sich die Situation für Juden in Deutschland weiter verschlechtert hatte und im Sommer 1938 die Synagogen in München und Nürnberg – noch vor dem Reichspogrom vom 9./10. November 1938 – zerstört worden waren, zog der in Gerolzhofen geborene Chemiker eine Auswanderung nach England in Betracht. Dort wohnte bereits seine Schwester Friederike mit ihrem aus Schwanfeld stammenden Ehemann Albin Berk.

Das historische Foto zeigt Richard May als Direktor der Agfa-Farbenfabrik in Wolfen an seinem Schreibtisch.
Foto: IFM Bildarchiv | Das historische Foto zeigt Richard May als Direktor der Agfa-Farbenfabrik in Wolfen an seinem Schreibtisch.

Am 30. Dezember 1938 erhielt seine Haushälterin einen Brief von May, datiert auf den 21. Dezember, in dem dieser darum bat, ihm einige Sachen an die Adresse seines Schwagers nach England zu schicken und die Polizei von seinem Verschwinden zu informieren. Am 7. Januar 1939 sandte May aus London einen Einschreibebrief an die I.-G.-Farben-Zentrale nach Frankfurt mit der kurzen Mitteilung: "Das verschärfte Herangehen gegen Juden in Deutschland in den letzten Monaten veranlassen mich, meinen Wohnsitz nach hier zu verlegen." So zitiert es Peter Löhnert in seinem Aufsatz über May.

Darüber hinaus zeigte May sich weiter damit einverstanden, sich an die Abmachungen eines mit seinem bisherigen Arbeitgeber ausgehandelten Karenzabkommens zu halten. Laut diesem sah er sich gegen die fortgesetzte Zahlung einer Pension weiter verpflichtet, über Firmen-Internas, darunter die militärischen Vorbereitungen für Kampfstoff-Produkte, zu schweigen.

Verhandlungen kurz vor Kriegsausbruch in Paris

Am 20. Juni 1939 traf sich May und sein Rechtsanwalt mit dem I.-G.-Vorstandsmitglied Fritz ter Meer in Paris, um über diese und weitere Fragen zu verhandeln. Löhnert nennt dies in seinem Beitrag einen "wirklich bemerkenswerten Vorgang": Vertreter aus dem höchsten Führungszirkel des Welt-Konzerns fuhren extra ins Ausland, um dort mit einem "entwichenen Juden" zu verhandeln. Der Autor vermutet, dass May womöglich vielmehr über kriegswichtige Aktivitäten der Farbenfabrik erfahren hatte, als dem Konzern und den Nazis, die den Verhandlungen zugestimmt hatten, lieb war.

Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 brach der Kontakt zu May ab. Seine Spuren verloren sich. Doch gibt es neue Erkenntnisse. Wenngleich die Stationen seiner Flucht nach England weiter unbekannt sind, ist es Evamaria Bräuer doch wenigstens gelungen, herauszufinden, dass May bei Kriegsausbruch in England als Deutscher interniert wurde. Allerdings genoss er offenbar unter Einfluss der Familie seiner Schwestern und seines Schwagers erleichterte Bedingungen. Noch im Jahr 1939 wurde er bereits in einer "provisorischen Volkszählerliste" neben Friederike und Albin Berk aufgeführt.

Übernahme der englischen Staatsbürgerschaft

Im Jahr 1940 wurde Richard May aus der Internierung entlassen und im Jahr 1946 englischer Staatsbürger. Im Nachlasskalender England und Wales wird von seiner inzwischen verwitweten Schwester der Tod von Richard May mit dem Datum 23. August 1955 angegeben, wie Erhard Finger berichtet. Als letzter Wohnsitz wird der Londoner Stadtteil Ealing genannt.

Dieses Dokument belegt die Befreiung von Richard May aus der Internierung im Jahr 1940.
Foto: Archiv Evamaria Bräuer | Dieses Dokument belegt die Befreiung von Richard May aus der Internierung im Jahr 1940.

Als nach Kriegsende in Wolfen zahlreiche Straßen, die die Namen von Nazi-Größen trugen, umbenannt wurden, erhielten mehrere Straßen die Namen von verdienstvollen Persönlichkeiten aus der Agfa-Zeit. Eine Straße in einer Agfa-Wohnsiedlung hieß fortan Richard-May-Straße. Allerdings nicht allzu lange, denn im November 1961, zu DDR-Zeiten, beschloss der Rat der Stadt Wolfen, diese Straße in John-Schehr-Straße umzubenennen. Dabei blieb es bis heute. Richard May wurde damit, wie Erhard Finger es in seinem Artikel ausgedrückt hat, "ein zweites Mal aus Wolfen vertrieben".

Das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" nimmt diese Redaktion zum Anlass, in einer losen Reihe von Artikeln den vielfältigen Spuren nachzuspüren, die jüdische Einwohner in Gerolzhofen hinterlassen haben und sich mit der Erinnerung an diese auseinanderzusetzen.

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