Die Liste der Verbrechen, die die Nationalsozialisten zu verantworten haben, ist unendlich lang. Mit Käthe Krämer verbinden sich allerdings zwei besonders menschenverachtende Kapitel: die massenhafte Ermordung von Jüdinnen und Juden und das systematische Töten von Menschen mit Behinderung. Mit dieser sogenannten Euthanasie rechtfertigten die Nazis das Auslöschen von Menschenleben, die sie als "lebensunwert" einstuften. Das in Gerolzhofen aufgewachsene jüdische Mädchen Käthe Krämer zwölf Jahre alt, als sie im Jahr 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz verbracht und dort ermordet wurde.
Käthe Krämer kam am 20. Mai 1930 in Würzburg zur Welt. Sie war das jüngste von drei Kindern des jüdischen Ehepaars Leopold und Herta Krämer (geb. Marx). Leopold Krämer – Sohn des Viehhändlers Mayer Krämer – stammte aus Frankenwinheim und hatte sich im Jahr 1914 als Maßschneider in Gerolzhofen am Marktplatz niedergelassen. Nach seinem Kriegsdienst eröffnete er seine Schneiderei in der Schuhstraße. 1922 kaufte er das Anwesen in der Weiße-Turm-Straße mit der alten Hausnummer 57 und verlegte ein Jahr später dorthin auch sein Geschäft. Das nicht mehr existierende Haus stand dort, wo sich heute der Parkplatz des NKD-Markts befindet.
Schneiderei mit zwölf Arbeitskräften
Im Jahr 1924 beschäftigte Leopold Krämer zwölf Arbeitskräfte, die sieben Nähmaschinen bedienten, wie Evamaria Bräuer im Zuge ihrer Recherchen zur jüdischen Geschichte Gerolzhofen herausgefunden hat. Die Abteilung "Welterfolg Nähmaschine" des Stadtmuseums Gerolzhofen nennt Leopold Krämer unter der Rubrik "Vom Schneiderlein zur Kleiderfabrik". 1929 kandidierte der Schneidermeister auf der Liste der Gewerbevereinigung für die Stadtratswahl. Drei Jahre später löste er sein Gewerbe allerdings auf. Die letzte bekannte private Gerolzhöfer Adresse der Familie aus dem Jahr 1937 war die im Haus von Philipp Selig in der Häfnergasse (alte Hausnummer 111). Dort durfte er nur noch Näh- und Reparaturarbeiten ausführen.
Im September 1938 erhielt er die Genehmigung, in die USA einzureisen. Leopold Krämer hatte eine Schiffspassage gemeinsam mit seinem Bruder Abraham/Adolf über den Hafen von Antwerpen in die USA. Dort lebte er in Valley City North Dakota und arbeitete bei der Bekleidungsfirma Straus Clothing und wurde im Jahr 1942 als Leopold Burt Kramer für die US-Armee registriert. Er starb 1958 im Alter von 70 Jahren in New York.
Arzt: "Geistesschwach und krüppelhaft"
Während die beiden zuerst geborenen Kinder der Familie Krämer, Erna (1914-2020) und Max (1919-2008), gesund waren, traf das Schicksal Nesthäkchen Käthe. Überlieferten Fürsorge-Akten des Mädchens aus dem Stadtarchiv Gerolzhofen zufolge, litt sie als Baby aus unbekanntem Grund unter einer Entzündung des Gehirns (Encephalitis). Die Folge war, dass ihr Zustand als Siebenjährige als "geistesschwach und zugleich krüppelhaft" beurteilt wurde, wie es in einem ärztlichen Gutachten nachzulesen steht. Dem Arzt zufolge konnte das Mädchen nicht richtig sprechen und ihre linke Hand und ihr linkes Bein nur eingeschränkt bewegen. In der Schule hätte sie Probleme, dem Unterricht zu folgen.
Das ärztliche Attest war im Herbst 1937 im Auftrag des Landesfürsorgeverbands erstellt worden. Grund war ein Ersuchen, wonach Käthe Krämer eine Schule für geistig zurückgebliebene Kinder besuchen sollte. Dieser Antrag scheiterte an der Kostenübernahme und wurde letztendlich abgelehnt.
Nachdem Leopold Krämers Schiff im September 1938 in Richtung USA – wohin seine älteste Tochter Erna als 23-Jährige bereits im Februar zuvor über Cherbourg geflohen war – abgelegt hatte, zog seine Frau Herta mit der jüngsten Tochter Käthe nach Freudental (Lkr. Ludwigsburg). Ihr Sohn Max war bereits im Januar 1936 nach Palästina, in ein Kibbuz, in Sicherheit gebracht worden, nachdem in Deutschland die Schikanen gegenüber Juden immer offener zutage traten.
Zufluchtsort in Freudenthal
Im baden-württembergischen Freudental war Herta Krämer aufgewachsen, nachdem ihre Mutter Regine Marx (geb. Haugewitz) dort in zweiter Ehe gelebt hatte. Nach Freudental war sie bereits im Jahr 1914 zur Geburt ihrer Tochter Erna gefahren, auch deshalb, weil ihr Mann Leopold damals als Soldat im Kriegsdienst stand und nicht bei ihr zuhause in Gerolzhofen sein konnte.
Im Herbst 1938 wurde Freudenthal erneut zu ihrem Zufluchtsort. Sie wartete dort auf ein Visum, das nötig war, um mit Tochter Käthe zu ihrem Mann in die USA reisen zu dürfen – in Sicherheit, weit weg von Nazi-Deutschland. Doch es kam anders. Während Herta Krämer schließlich ein Visum für die USA erhielt, wurde dieses dem Kind versagt, wie Evamaria Bräuer herausgefunden hat. Ausschlaggebend für diese rigide Einreisebeschränkung war Käthes Behinderung.
So fasste die Mutter einen alternativen Plan: Sie brachte Käthe in die Heil- und Pflegeanstalt Ingerkingen unter, wo sie ihr Kind in der Obhut der Schwestern vom Orden der Franziskanerinnen von Reute in Sicherheit wähnte. Herta Krämer gelang dann Ende Januar 1940 noch die Flucht per Schiff von Triest aus in die USA, zu ihrem Mann Leopold und zu ihrer älteren Tochter Erna.
Tötungsanstalt der Nazis
Doch der Tod bringende Rassen- und Herrenmenschenwahn der Nationalsozialisten erreichte schließlich auch das Kinderasyl in Ingerkingen, das eine Zweigstelle des Kloster Heggbach in Oberschwaben war. Im September und Oktober 1940 wurden von dort aus 72 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung abgeholt. Ihr Zielort war das abgelegene Schloss Grafeneck (Lkr. Reutlingen), wo sich eine der Anstalten befand, in der die Nazis im Rahmen ihrer Euthanasie-Aktion Menschen ermordeten. Allein in Grafeneck wurden nach Angaben der dortigen Gedenkstätte insgesamt über 10 600 Menschen getötet.
Die systematische Ermordung von etwa 70 000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in Deutschland von 1940 bis 1941 wurde nach dem Krieg mit der Abkürzung "Aktion T4" bezeichnet. "T4" steht hierbei als Abkürzung für die Adresse der damaligen zentralen Dienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte. Von dort aus organisierten die Nazis die im Sinne ihrer "Rassenhygiene" angestrebte Ermordung sämtlicher Menschen mit Behinderungen im Deutschen Reich.
Rettung nur von kurzer Dauer
Im Herbst 1940 konnten laut einer Aufarbeitung der Geschehnisse während der NS-Zeit durch den jetzigen Betreiber der Einrichtung in Heggbach nur drei gerettete Kinder verbleiben. Dazu kamen elf Kinder, von denen es angeblich keine Meldekarten gab und die von der Vernichtungsbürokratie zunächst nicht erfasst waren. Eines dieser Kinder, die den Klauen der Nazis vorerst entkommen waren, war Käthe Krämer.
Doch das zwölfjährige jüdische Mädchen war damit nicht gerettet. Sie wurde zusammen mit den anderen in der Einrichtung verbliebenen Kinder am 11. Juli 1942 in Heggbach abgeholt. Zwei Tage später wurde sie dann ab Stuttgart über München ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Erinnert werden soll an dieser Stelle auch an Margarete Filbig, ein weiteres Kind aus Gerolzhofen, das schwerbehindert war. Laut Unterlagen aus dem Stadtarchiv, die aus dem Jahr 1937 stammen, litt das damals dreijährige Mädchen unter einer Krampflähmung mit schwerer Störung der geistigen Entwicklung. Eine Unterbringung in einer Pflegeanstalt wurde damals abgelehnt, selbst orthopädische Hilfsmittel wie Schuhe wurden nicht genehmigt, wie den Unterlagen zu entnehmen ist. Auch wenn bisher genaue Hinweise über das weitere Schicksal des Kindes fehlen, darf es wohl als sicher gelten, dass mit einer solchen Diagnose der weitere Weg von Margarete im Vernichtungsprogramm der Nazis vorgezeichnet und unausweichlich war.
Das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland", das bis 31. Juli 2022 verlängert wurde, nimmt diese Redaktion zum Anlass, in einer losen Reihe von Artikeln den vielfältigen Spuren nachzuspüren, die jüdische Einwohner in Gerolzhofen hinterlassen haben und sich mit der Erinnerung an diese auseinanderzusetzen.
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