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Gerolzhofen
Jüdischer Friedhof: Grabsteine als stumme Zeugen vergangenen Lebens
Am Kappelberg bei Gerolzhofen sind Juden aus mehreren Gemeinden bestattet. Gut 500 Grabsteine sind erhalten. Ein Ortsbesuch zeigt: Die Spuren der Zeit erschweren das Erinnern.
Über 500 Grabsteine sind auf dem jüdischen Friedhof von Gerolzhofen erhalten geblieben. Sie sind stumme Zeugen des einstigen jüdischen Lebens in der Stadt und im Umland.
Foto: Michael Mößlein | Über 500 Grabsteine sind auf dem jüdischen Friedhof von Gerolzhofen erhalten geblieben. Sie sind stumme Zeugen des einstigen jüdischen Lebens in der Stadt und im Umland.
Michael Mößlein
 |  aktualisiert: 12.09.2022 15:34 Uhr

Der Zahn der Zeit nagt unaufhörlich an den Grabsteinen. Flechten und Moos breiten sich darauf aus. Sonne und Frost, Wind und Wetter arbeiten daran, die in den Stein geschlagenen Buchstaben unleserlich zu machen und lassen Steine reißen und Inschriften abplatzen. Andere Steine zeigen noch Spuren roher Gewalt, die von Menschenhand ausging. Die über 500 Grabmale des israelitischen Friedhofs von Gerolzhofen – einer von 46 in Unterfranken und 126 in Bayern – sind das sichtbarste und beeindruckendste erhaltene Zeugnis jüdischen Lebens in der Stadt.

Evamaria Bräuer führt dort regelmäßig Besucher sowie Nachfahren der dort Bestatteten zu den Gräbern.
Foto: Michael Mößlein | Evamaria Bräuer führt dort regelmäßig Besucher sowie Nachfahren der dort Bestatteten zu den Gräbern.

Evamaria Bräuer zieht es oft hierher, an die Reihen der Grabsteine, die sich an einen Hügel leicht oberhalb der Stadt schmiegen. Sie spüre die Kraft und den Frieden des Ortes, sagt sie. Es gibt kaum jemand anderen, der sich an diesem Ort so gut auskennt wie die 73-Jährige. Seit rund drei Jahrzehnten erforscht und recherchiert sie das Leben der Jüdinnen und Juden in Gerolzhofen, deren Schicksale sie beim Gang durch die Gräberreihen fast spielend einzelnen Grabsteinen zuordnen kann. Auf einigen Steinen findet sie als Signatur den Namen ihres Großvaters, des Bildhauers Otto Tully, in dessen Werkstatt etliche Grabsteine gefertigt wurden.

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Grabsteine werden immer wieder gereinigt

"Steine sind stumme Zeugen", sagt sie fast nebenbei. "Wenn wir sie nicht zum Sprechen bringen, dann verbleichen sie und ihre Botschaften gehen für immer verloren." Damit dies nicht geschieht, reinigt sie regelmäßig Inschriften und Reliefs auf Grabsteinen. Immer wieder mal helfen Schülerinnen und Schüler oder andere hilfsbereite Menschen mit, oder Angehörige, die die Gräber ihrer Vorfahren besuchen. Manche lassen auch ganze Grabsteine restaurieren. Bräuer führt Besucher über den Judenfriedhof, wie der Begräbnisort landläufig heißt. Sie zeigt Nachkommen, wo deren Vorfahren begraben liegen. Häufig kommen diese von weit her, etwa aus den USA, Israel und Argentinien.

Der Besuch des Friedhofs ist für diese dann oft der bewegendste Moment während der Reise auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte, erzählt Bräuer. Sie zeigt Einträge im Besucherbuch für den Friedhof, das sie führt und freut sich, dass auch über diese Einträge in alle Welt zerstreute Familien wieder Kontakt gefunden haben. Nur ein Beispiel: Werner Gottlieb, ein Ehrenbürger Frankenwinheims, hat am 1. April 2012 hoch betagt zum fünften Mal den Friedhof besucht, wo der Grabstein für seine Großeltern steht. Sein Großvater Löb Gottlieb aus Frankenwinheim starb im Dezember 1936, Großmutter Sabina Gottlieb sechs Jahre später im KZ Theresienstadt, was nach dem Krieg auf dem Grabstein vermerkt wurde.

Auf dem jüdischen Friedhof von Gerolzhofen sind über 500 Grabsteine erhalten geblieben. Rund die Hälfte von diesen sind namentlich identifiziert.
Foto: Michael Mößlein | Auf dem jüdischen Friedhof von Gerolzhofen sind über 500 Grabsteine erhalten geblieben. Rund die Hälfte von diesen sind namentlich identifiziert.

Ein Dreivierteljahr nach dem Tod der Großmutter, im September 1937, hat Werner Gottlieb mit seinen Eltern Nazi-Deutschland verlassen. In seinen im Internet veröffentlichten Memoiren schreibt er dazu: "Das, woran ich mich am meisten an diesem Tag erinnere, ist die absolute Stille der versammelten Nachbarn, als sie uns zusahen, wie wir im Auto meines Onkels wegfuhren."

Bewegendes Erlebnis für die Nachfahren

Im Jahr 2012 hatte er beim Besuch am Grab der Großeltern seine eigene Enkelin, Elspeth Looks, an seiner Seite, die im Besucherbuch von einem "once-in-a-lifetime experience" schreibt, einer Erfahrung, die sie in ihrem Leben so nie wieder machen wird.

Der Grabstein von Löb und Sabina Gottlieb aus Frankenwinheim. Die Angaben zu Sabina Gottlieb mit dem Verweis auf deren Tod im KZ Theresienstadt stammen aus der Nachkriegszeit.
Foto: Michael Mößlein | Der Grabstein von Löb und Sabina Gottlieb aus Frankenwinheim. Die Angaben zu Sabina Gottlieb mit dem Verweis auf deren Tod im KZ Theresienstadt stammen aus der Nachkriegszeit.

Dem Friedhof, weiß Bräuer, kommt im Judentum eine besondere Bedeutung zu. Er heißt im Hebräischen auch Bet-ha-Chajim (Haus des Lebens) oder Bet-Olam (Haus der Ewigkeit). Im Glauben an die leibliche Auferstehung der Toten am Ende der Tage gilt das Grab frommen Juden als ewiger Besitz des dort Ruhenden. Es kann deshalb auch nicht aufgebeben werden. Die Belegung einer Grabstelle mit einem weiteren Leichnam nach einer bestimmten Frist – wie auf anderen, christlichen Friedhöfen üblich – ist für Juden ausgeschlossen. Für sie gilt: Auf belegten Grabplätzen darf nicht tiefer als circa eine Hand tief in die Erde gegraben werden. Was in der Erde ruht, muss dort bleiben.

Einäscherung ist für Juden ein Tabubruch

Jeder Verstorbene hat zudem sein eigenes Grab, dessen Stein mit der beschrifteten Seite nach Osten, Richtung Jerusalem ausgerichtet ist, von wo am Ende der Welt der Messias erwartet wird. Doppelgrabsteine für nebeneinander bestattete Ehepaare sind nicht selbstverständlich. In der Regel füllen sich die Grabreihen in der Folge der Sterbedaten. Eine Einäscherung des Verstorbenen ist für gläubige Juden undenkbar, es käme der Schändung des Leichnams gleich, der nur als Ganzes auferstehen kann. Dies zeigt, nebenbei bemerkt, noch auf einer anderen Ebene die Grausamkeit der Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus', als ermordete Juden zu Hunderttausenden in Krematorien verbrannt und deren Asche wie Abfall verstreut wurde.

Das Kohen-Symbol, die segnenden Priesterhände, finden sich auf mehreren Grabsteinen des jüdischen Friedhofs, wie hier auf dem Grabstein von Immanuel Frank aus Prichsenstadt.
Foto: Evamaria Bräuer | Das Kohen-Symbol, die segnenden Priesterhände, finden sich auf mehreren Grabsteinen des jüdischen Friedhofs, wie hier auf dem Grabstein von Immanuel Frank aus Prichsenstadt.

Das gerechte Leben, also ein Leben gemäß den 613 Religionsgesetzen und Vorschriften, die Juden aus der Thora ableiten, vor dem Tod scheint im Judentum wichtiger zu sein als das Leben danach, erklärt Bräuer. Dennoch ist die Auferstehung vom Tod ein wichtiger Teil des Glaubens. Ein Hinweis darauf findet sich auch als Inschrift auf dem im Jahr 1832 errichteten zweistöckigen Taharahaus, am Eingang des Friedhofs, wo die Toten zur Beisetzung vorbereitet wurden. Dort ist eine hebräische Inschrift zu lesen, die übersetzt lautet: "Die Toten wird Gott beleben in der Fülle seiner Gnade; gelobt sei für und für sein ruhmvoller Name." Der Text stammt aus dem Jigdal, einem der 13 Glaubenssätze des Maimonides, des wichtigsten jüdischen Religionsphilosophen, der im 12. Jahrhundert lebte.

Das zweistöckige Taharahaus, in dem die Verstorbenen zur Beisetzung vorbereitet wurden, steht am Eingang des Friedhofs auf der Nordseite.
Foto: Michael Mößlein | Das zweistöckige Taharahaus, in dem die Verstorbenen zur Beisetzung vorbereitet wurden, steht am Eingang des Friedhofs auf der Nordseite.

Gefolgsleute der Nazis verwüsten den Friedhof

Unter dem Druck der Nationalsozialisten (NS), die die Enteignung jüdischen Besitzes vorantrieben, hat die Israelitische Kulturgemeinde (IKG) von Gerolzhofen den Friedhof am 4. Juli 1939 in den Besitz der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland übergeben. Um eine Flächen- oder Nutzungsänderung zu verhindern, wurde er 1940 unter Naturschutz gestellt. Im Jahr 1941 zerschlugen NS-Anhänger in einer konzertierten Aktion während mehrerer Tage zahlreiche Grabsteine oder warfen sie mit Seilen um. Nach dem Krieg beauftragte die US-Militärbehörden den Gerolzhöfer Steinmetzbetrieb Tully, diese soweit möglich zu reparieren und stellte dafür einen Bezugschein für eine größere Menge Zement aus.

Das Foto aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigt die während der Zeit des Nationalsozialismus angerichteten Verwüstungen auf dem jüdischen Friedhof.
Foto: Sammlung Hans Koppelt | Das Foto aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigt die während der Zeit des Nationalsozialismus angerichteten Verwüstungen auf dem jüdischen Friedhof.

Die systematische Zerstörung während der NS-Zeit war der extremste Auswuchs, doch lange nicht der einzige Akt der Zerstörung jüdischer Grabstätten. Bereits aus dem Jahr 1787 ist überliefert, dass Schulkinder auf dem Friedhof Grabsteine umwarfen – was unter Strafe stand. Im August 1912 steht in einer Annonce im "Bote vom Steigerwald" zu lesen, dass die IKG 30 Mark Belohnung für Hinweise auf die "ruchlosen und niederträchtigen Buben" ausgelobt hat, "welche verschiedene Grabsteine auf dem israelitischen Friedhofe umgeworfen und beschädigten".

Keine Blumen an den Gräbern

Solche Freveltaten in Zukunft zu verhindern und die notwendige Achtung des Ortes, zählt Bräuer zu den wichtigen Zielen, wenn sie Besucher über den Friedhof führt. Sie klärt dabei auch Missverständnissen auf und informiert. Etwa darüber, weshalb Juden ihre Gräber nicht mit Blumen schmücken. Die Antwort: Weil es im Heiligen Land, in der Wüste, kaum Wasser gab, und schon gar nicht, um damit Blumen zu gießen. Stattdessen legen Besucher seit jeher Steine auf den Grabsteinen ab. Immer wieder muss Bräuer auch richtigstellen, dass Juden ihre Toten nicht im Sitzen begraben, was die eng beieinander stehenden Grabsteine vermuten lassen, sondern liegend und in einem einheitlichen Sarg.

Das Grab von Willi Brodmann, der am 2. Februar 1942 gestorben ist und am gleichen Tag bestattet wurde. Es war die letzte offizielle Bestattung auf dem Friedhof, den die Nazis anschließend geschlossen haben.
Foto: Michael Mößlein | Das Grab von Willi Brodmann, der am 2. Februar 1942 gestorben ist und am gleichen Tag bestattet wurde. Es war die letzte offizielle Bestattung auf dem Friedhof, den die Nazis anschließend geschlossen haben.

Auf eine Frage hat sie allerdings bis heute keine eindeutige Antwort: Wer hat den am 25. April 1942 im Alter von 73 Jahren gestorbenen Gerolzhöfer Kaufmann und Gemeindevorstand Hermann Löbhardt auf dem Friedhof bestattet? So viel ist klar: Die Beisetzung ist heimlich erfolgt, denn die Nazis hatten nach der Beerdigung von Willi Brodmann, dem Vorsteher der örtlichen IKG, schon am 2. Februar 1942 die Schließung des Friedhofs veranlasst. "Sicherlich waren es Nachbarn, die geholfen haben", vermutet Bräuer zu den Umständen von Löbhardts Beisetzung. Von Frühjahr bis September 1942 seien nur noch drei Juden im Seniorenalter in Gerolzhofen verblieben. Die umgelegte, vom Gras überwachsene Grabplatte Löbhardts haben Schüler im Jahr 2001 wiederentdeckt. Sie ist damit ebenfalls vor dem Vergessenwerden bewahrt.

Die Grabplatte von Hermann Löbhardt wurde 2001 wiederentdeckt. Der Mann, der am 25. April 1942 gestorben ist, wurde heimlich, unter nicht geklärten Umständen auf dem bereits geschlossenen Friedhof beerdigt.
Foto: Michael Mößlein | Die Grabplatte von Hermann Löbhardt wurde 2001 wiederentdeckt. Der Mann, der am 25. April 1942 gestorben ist, wurde heimlich, unter nicht geklärten Umständen auf dem bereits geschlossenen Friedhof beerdigt.

Das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" nimmt diese Redaktion zum Anlass, in einer losen Reihe von Artikeln den vielfältigen Spuren nachzuspüren, die jüdische Einwohner in Gerolzhofen hinterlassen haben und sich mit der Erinnerung an diese auseinanderzusetzen.

Israelitischer Friedhof von Gerolzhofen

Als erster Hinweis auf jüdische Begräbnisse in Gerolzhofen ist eine Beschwerde des Stadtvogts Jobst Krämer an den Würzburger Bischof vom 12. Oktober 1635 überliefert. Er moniert angeblich 40 bis 50 Juden-Gräber, die ab dem Jahr 1631 (Belagerung Gerolzhofens durch die Schweden) im Garten eines fürstbischöflichen Lehensguts angelegt worden seien, wie Cornelia Berger-Dittscheid in "Mehr als Steine ...", dem in diesem Jahr erschienenen Teilband des Gedenkbands zu den Synagogen in Bayern, geschrieben hat.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde der Friedhof immer wieder durch Zukauf von Nachbargrundstücken parzellenweise erweitert. Im Jahr 1852 wurde der Friedhof mit einer Mauer umfasst und 1876 mit einem Tor versehen. Seit dem 17. Jahrhundert diente der Begräbnisplatz als Verbandsfriedhof der Beisetzung verstorbener Frauen, Männer und Kinder aus mehreren jüdischen Gemeinden der Umgebung. Im 19. Jahrhundert gehörten hierzu neben Gerolzhofen die Gemeinden Altenschönbach, Bischwind, Brünnau, Frankenwinheim, Kirchschönbach, Lülsfeld, Obereuerheim, Prichsenstadt, Rimbach, Traustadt und Zeilitzheim.
Der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuletzt erweiterte, rund 1,2 Hektar große Friedhof liegt an einem Hang, dem Kappelberg, südöstlich von Gerolzhofen. Dort befinden sich heute 528 Grabstätten in 44 Reihen. Etwa 250 der Grabsteine sind identifiziert, also namentlich erfasst und einem Verstorbenen zuzuordnen.
Der älteste Grabstein, der im Jahr 1931 noch lesbar war, stammt Berger-Dittscheid zufolge vom Dezember 1731. Ein Grabstein von 1715 und der Stein einer Frankenwinheimer Beisetzung von 1756 wurden in dem Gräberfeld rechts des Taharahauses, das an der Nordseite am Eingang steht, entdeckt, wo die ältesten Bestattungen zu finden sind. In diesem Bereich wurden auch Grabsteine von Bestattungen aus Zeilitzheim aus der Mitte des 17. Jahrhunderts gefunden, die jedoch nicht mehr lesbar sind.
mim

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