
Der Zahn der Zeit nagt unaufhörlich an den Grabsteinen. Flechten und Moos breiten sich darauf aus. Sonne und Frost, Wind und Wetter arbeiten daran, die in den Stein geschlagenen Buchstaben unleserlich zu machen und lassen Steine reißen und Inschriften abplatzen. Andere Steine zeigen noch Spuren roher Gewalt, die von Menschenhand ausging. Die über 500 Grabmale des israelitischen Friedhofs von Gerolzhofen – einer von 46 in Unterfranken und 126 in Bayern – sind das sichtbarste und beeindruckendste erhaltene Zeugnis jüdischen Lebens in der Stadt.

Evamaria Bräuer zieht es oft hierher, an die Reihen der Grabsteine, die sich an einen Hügel leicht oberhalb der Stadt schmiegen. Sie spüre die Kraft und den Frieden des Ortes, sagt sie. Es gibt kaum jemand anderen, der sich an diesem Ort so gut auskennt wie die 73-Jährige. Seit rund drei Jahrzehnten erforscht und recherchiert sie das Leben der Jüdinnen und Juden in Gerolzhofen, deren Schicksale sie beim Gang durch die Gräberreihen fast spielend einzelnen Grabsteinen zuordnen kann. Auf einigen Steinen findet sie als Signatur den Namen ihres Großvaters, des Bildhauers Otto Tully, in dessen Werkstatt etliche Grabsteine gefertigt wurden.
Grabsteine werden immer wieder gereinigt
"Steine sind stumme Zeugen", sagt sie fast nebenbei. "Wenn wir sie nicht zum Sprechen bringen, dann verbleichen sie und ihre Botschaften gehen für immer verloren." Damit dies nicht geschieht, reinigt sie regelmäßig Inschriften und Reliefs auf Grabsteinen. Immer wieder mal helfen Schülerinnen und Schüler oder andere hilfsbereite Menschen mit, oder Angehörige, die die Gräber ihrer Vorfahren besuchen. Manche lassen auch ganze Grabsteine restaurieren. Bräuer führt Besucher über den Judenfriedhof, wie der Begräbnisort landläufig heißt. Sie zeigt Nachkommen, wo deren Vorfahren begraben liegen. Häufig kommen diese von weit her, etwa aus den USA, Israel und Argentinien.
Der Besuch des Friedhofs ist für diese dann oft der bewegendste Moment während der Reise auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte, erzählt Bräuer. Sie zeigt Einträge im Besucherbuch für den Friedhof, das sie führt und freut sich, dass auch über diese Einträge in alle Welt zerstreute Familien wieder Kontakt gefunden haben. Nur ein Beispiel: Werner Gottlieb, ein Ehrenbürger Frankenwinheims, hat am 1. April 2012 hoch betagt zum fünften Mal den Friedhof besucht, wo der Grabstein für seine Großeltern steht. Sein Großvater Löb Gottlieb aus Frankenwinheim starb im Dezember 1936, Großmutter Sabina Gottlieb sechs Jahre später im KZ Theresienstadt, was nach dem Krieg auf dem Grabstein vermerkt wurde.

Ein Dreivierteljahr nach dem Tod der Großmutter, im September 1937, hat Werner Gottlieb mit seinen Eltern Nazi-Deutschland verlassen. In seinen im Internet veröffentlichten Memoiren schreibt er dazu: "Das, woran ich mich am meisten an diesem Tag erinnere, ist die absolute Stille der versammelten Nachbarn, als sie uns zusahen, wie wir im Auto meines Onkels wegfuhren."
Bewegendes Erlebnis für die Nachfahren
Im Jahr 2012 hatte er beim Besuch am Grab der Großeltern seine eigene Enkelin, Elspeth Looks, an seiner Seite, die im Besucherbuch von einem "once-in-a-lifetime experience" schreibt, einer Erfahrung, die sie in ihrem Leben so nie wieder machen wird.

Dem Friedhof, weiß Bräuer, kommt im Judentum eine besondere Bedeutung zu. Er heißt im Hebräischen auch Bet-ha-Chajim (Haus des Lebens) oder Bet-Olam (Haus der Ewigkeit). Im Glauben an die leibliche Auferstehung der Toten am Ende der Tage gilt das Grab frommen Juden als ewiger Besitz des dort Ruhenden. Es kann deshalb auch nicht aufgebeben werden. Die Belegung einer Grabstelle mit einem weiteren Leichnam nach einer bestimmten Frist – wie auf anderen, christlichen Friedhöfen üblich – ist für Juden ausgeschlossen. Für sie gilt: Auf belegten Grabplätzen darf nicht tiefer als circa eine Hand tief in die Erde gegraben werden. Was in der Erde ruht, muss dort bleiben.
Einäscherung ist für Juden ein Tabubruch
Jeder Verstorbene hat zudem sein eigenes Grab, dessen Stein mit der beschrifteten Seite nach Osten, Richtung Jerusalem ausgerichtet ist, von wo am Ende der Welt der Messias erwartet wird. Doppelgrabsteine für nebeneinander bestattete Ehepaare sind nicht selbstverständlich. In der Regel füllen sich die Grabreihen in der Folge der Sterbedaten. Eine Einäscherung des Verstorbenen ist für gläubige Juden undenkbar, es käme der Schändung des Leichnams gleich, der nur als Ganzes auferstehen kann. Dies zeigt, nebenbei bemerkt, noch auf einer anderen Ebene die Grausamkeit der Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus', als ermordete Juden zu Hunderttausenden in Krematorien verbrannt und deren Asche wie Abfall verstreut wurde.

Das gerechte Leben, also ein Leben gemäß den 613 Religionsgesetzen und Vorschriften, die Juden aus der Thora ableiten, vor dem Tod scheint im Judentum wichtiger zu sein als das Leben danach, erklärt Bräuer. Dennoch ist die Auferstehung vom Tod ein wichtiger Teil des Glaubens. Ein Hinweis darauf findet sich auch als Inschrift auf dem im Jahr 1832 errichteten zweistöckigen Taharahaus, am Eingang des Friedhofs, wo die Toten zur Beisetzung vorbereitet wurden. Dort ist eine hebräische Inschrift zu lesen, die übersetzt lautet: "Die Toten wird Gott beleben in der Fülle seiner Gnade; gelobt sei für und für sein ruhmvoller Name." Der Text stammt aus dem Jigdal, einem der 13 Glaubenssätze des Maimonides, des wichtigsten jüdischen Religionsphilosophen, der im 12. Jahrhundert lebte.

Gefolgsleute der Nazis verwüsten den Friedhof
Unter dem Druck der Nationalsozialisten (NS), die die Enteignung jüdischen Besitzes vorantrieben, hat die Israelitische Kulturgemeinde (IKG) von Gerolzhofen den Friedhof am 4. Juli 1939 in den Besitz der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland übergeben. Um eine Flächen- oder Nutzungsänderung zu verhindern, wurde er 1940 unter Naturschutz gestellt. Im Jahr 1941 zerschlugen NS-Anhänger in einer konzertierten Aktion während mehrerer Tage zahlreiche Grabsteine oder warfen sie mit Seilen um. Nach dem Krieg beauftragte die US-Militärbehörden den Gerolzhöfer Steinmetzbetrieb Tully, diese soweit möglich zu reparieren und stellte dafür einen Bezugschein für eine größere Menge Zement aus.

Die systematische Zerstörung während der NS-Zeit war der extremste Auswuchs, doch lange nicht der einzige Akt der Zerstörung jüdischer Grabstätten. Bereits aus dem Jahr 1787 ist überliefert, dass Schulkinder auf dem Friedhof Grabsteine umwarfen – was unter Strafe stand. Im August 1912 steht in einer Annonce im "Bote vom Steigerwald" zu lesen, dass die IKG 30 Mark Belohnung für Hinweise auf die "ruchlosen und niederträchtigen Buben" ausgelobt hat, "welche verschiedene Grabsteine auf dem israelitischen Friedhofe umgeworfen und beschädigten".
Keine Blumen an den Gräbern
Solche Freveltaten in Zukunft zu verhindern und die notwendige Achtung des Ortes, zählt Bräuer zu den wichtigen Zielen, wenn sie Besucher über den Friedhof führt. Sie klärt dabei auch Missverständnissen auf und informiert. Etwa darüber, weshalb Juden ihre Gräber nicht mit Blumen schmücken. Die Antwort: Weil es im Heiligen Land, in der Wüste, kaum Wasser gab, und schon gar nicht, um damit Blumen zu gießen. Stattdessen legen Besucher seit jeher Steine auf den Grabsteinen ab. Immer wieder muss Bräuer auch richtigstellen, dass Juden ihre Toten nicht im Sitzen begraben, was die eng beieinander stehenden Grabsteine vermuten lassen, sondern liegend und in einem einheitlichen Sarg.

Auf eine Frage hat sie allerdings bis heute keine eindeutige Antwort: Wer hat den am 25. April 1942 im Alter von 73 Jahren gestorbenen Gerolzhöfer Kaufmann und Gemeindevorstand Hermann Löbhardt auf dem Friedhof bestattet? So viel ist klar: Die Beisetzung ist heimlich erfolgt, denn die Nazis hatten nach der Beerdigung von Willi Brodmann, dem Vorsteher der örtlichen IKG, schon am 2. Februar 1942 die Schließung des Friedhofs veranlasst. "Sicherlich waren es Nachbarn, die geholfen haben", vermutet Bräuer zu den Umständen von Löbhardts Beisetzung. Von Frühjahr bis September 1942 seien nur noch drei Juden im Seniorenalter in Gerolzhofen verblieben. Die umgelegte, vom Gras überwachsene Grabplatte Löbhardts haben Schüler im Jahr 2001 wiederentdeckt. Sie ist damit ebenfalls vor dem Vergessenwerden bewahrt.

Das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" nimmt diese Redaktion zum Anlass, in einer losen Reihe von Artikeln den vielfältigen Spuren nachzuspüren, die jüdische Einwohner in Gerolzhofen hinterlassen haben und sich mit der Erinnerung an diese auseinanderzusetzen.
Israelitischer Friedhof von Gerolzhofen
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