Häufig überdauern Häuser die Menschen, die in ihnen gelebt haben. Neben ihrer Architektur, die uns immer auch Geschichte vermittelt, erzählen sie ebenso über das, was in ihnen geschehen ist, und vom Schicksal ihrer einstigen Bewohnern. "Wer diese Zusammenhänge kennt, der geht anders durch eine Stadt, denn die Bauten berichten ihm nämlich vom Leben, das sich in ihnen und in der Stadt abgespielt hat", meint Evamaria Bräuer. Die Häuser würden auf diese Weise zu steinernen Zeugen von Erinnerungen, die weitergegeben werden könnten.
Bräuer, die seit fast 30 Jahren zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Gerolzhofen forscht, hat erst jüngst Quellen des Staatsarchivs Würzburg und auch Dokumente aus dem Gerolzhöfer Stadtarchiv ausgewertet und geprüft, um mehr Details und neue Erkenntnisse zu den einst von Juden bewohnten Häusern der Stadt herauszufinden. Auch öffnet sich dadurch ein Blick auf das hier zeitweise selbstverständliche Miteinander von Christen und Juden. In einem gedanklichen Spaziergang durch die Stadt führt sie zu einigen dieser bis heute erhalten gebliebenen Gebäuden – wie sie es schon so oft im realen Leben gemacht hat, wenn sie vor Ort Nachkommen der jüdischen Einwohner oder interessierten Besuchern diesen besonderen Aspekt der Stadtgeschichte vermittelt.
Ende des 19. Jahrhunderts durften Juden ihren Wohnort frei wählen
Gerolzhofen verzeichnete im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen nennenswerten Zuzug von Einwohnern jüdischen Glaubens. Grundlage hierzu war die nach Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 erlassene Verfassung, die Juden – nach der bereits wenige Jahre zuvor abgeschafften Matrikelgesetzgebung – rechtlich mit allen anderen Einwohnern des Kaiserreichs gleichstellte. Juden war es nun damit de facto auch erlaubt, ihren Wohnort frei zu wählen. Dieser war ihnen als sogenannte Schutzjuden zuvor jahrhundertlang herrschaftlich zugewiesen worden.
In der Folge zogen aus den umliegenden Landgemeinden jüdische Händler in die nächstgrößere Stadt, in diesem Fall nach Gerolzhofen, berichtet Bräuer. So kamen Familien beispielsweise aus Lülsfeld, Zeilitzheim, Brünnau, Frankenwinheim oder Altenschönbach und trugen durch Geschäftsgründungen dazu bei, dass sich Gerolzhofen von einer "Ackerbürgerstadt zu einem Handelsplatz entwickeln konnte", wie Bräuer es zusammenfasst.
Ein sichtbares Zeichen der neuen Freiheiten, die Juden damals erhielten, war im Jahr 1873 der Bau und die Weihe der Synagoge in der heutigen Steingrabenstraße, auf einem Anwesen, dass die jüdische Kultusgemeinde gekauft hatte. Denn: Die Juden brauchten ihr religiöses Leben jetzt nicht mehr verborgen wie bisher in einem Privathaus ausüben. Sie konnten eine Synagoge gut sichtbar errichten und ihre Religion jetzt öffentlich leben.
Nazis zwangen Händler Hirsch zum Verkauf seines Geschäfts
In der Entengasse waren die Agrarhändler Gebrüder Hirsch ansässig, zwei Brüder mit Vornamen Isaak und Simon, die aus Frankenwinheim stammten. Als Lagerhaus hatten sie den historischen Zehntspeicher in Gerolzhofen angemietet. Ihr Geschäft wurde im Jahr 1937 erzwungenermaßen verkauft, es ging für 7000 Reichsmark an die Gebrüder Beer aus Würzburg und wird in einer Liste von 1941 als "arisierter" Besitz geführt.
Simon Hirsch wohnte privat mit seiner Ehefrau Fanny (geb. Herz) in der damaligen Molkereistraße, Hausnummer 410 (heute Kolpingstraße). Das kinderlose Ehepaar verzog 1940 nach Berlin. Von dort – im Juni 1943 – wurden beide nach Theresienstadt deportiert. In diesem sogenannten Altersghetto starb zuvor auch der 1942 aus Würzburg deportierte Bruder Isaak. Fanny Hirsch starb 1944 nach ihrer weiterer Verlegung im KZ Auschwitz.
In der Rügshöfer Straße (damals Hindenburgstraße) wohnte – damalige Hausnummer 159 – Hermann Rothschild mit seiner Frau Babette und vier Kindern. Er hatte das Anwesen laut dem "Boten vom Steigerwald" im Jahr 1914 von Witwer Michael Weigand für 21 000 Reichsmark ersteigert. Nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg erhielt Rothschild im September 1919 die Zulassung zum Handel mit Nutz- und Zuchtvieh und wird nach Recherchen Evamaria Bräuers bald als einer der größten Steuerzahler Gerolzhofens genannt.
Am 21. März 1933 – im Zuge der verordneten reichsweiten Boykottaktion – wird der jüdische Händler mit weiteren Gerolzhöfer Juden in "Schutzhaft" genommen und ins KZ Dachau gebracht. Man bezichtigte ihn "kommunistischer Umtriebe". Im August 1935 durfte er das KZ mit der Auflage verlassen, nicht nach Gerolzhofen zurückzukehren, woraufhin die Familie nach Palästina auswanderte.
Jüdisches Ehepaar kehrte aus Palästina nach Unterfranken zurück
Dort blieben Hermann und Babette Rothschild bis 1946 und kehrten 1951 nach Unterfranken zurück. Sein Haus in Gerolzhofen erhielt Rothschild als sogenannten Wiedergutmachungsfall zurück. Im Jahr 1955 verkaufte er den Rest des Anwesens und lebte mit seiner Frau bis zu seinem Tod 1970 in Würzburg. Das Ehepaar liegt dort auf dem Israelitischen Friedhof begraben.
Ebenfalls in der Rügshöfer Straße eröffnete Simon Pfeifer, der im Jahr 1864 geborene Sohn des Viehhändlers Moses Pfeifer aus Lülsfeld, eine Bäckerei und Konditorei. Er hatte hierfür Anfang 1891 das Anwesen des in finanzielle Turbulenzen geratenen Bildhauers Johann Hillenbrand ersteigert. Simon Pfeifer und seine Frau Sara (geb. Hahn aus Kirchschönbach) hatten fünf Kinder: Setty, Fritz, Emma, Frieda und Oskar, wobei der 1893 geborene Fritz vermutlich Nachfolger im Geschäft seines Vaters werden sollte, wie Evamaria Bräuer recherchiert hat. Doch dieser kehrte schwer verwundet aus dem Ersten Weltkrieg zurück und starb im Jahr 1924. Das Café mit Konditorei bestand weiter unter verschiedenen Inhabern und ist heute eine Metzgerei.
Kinderreiche Familien waren kein Einzelfall
Wie in vielen gläubigen jüdischen Familien üblich, war auch die Ehe von Josef (1850-1951) und Selma (geb. Hahn aus Kirchschönbach, 1893-1993) Brodmann mit mehreren Kindern gesegnet: Lothar, Laura, Marta und der kleine Nachzügler Werner (1929-2012). Der Zehnjährige verabschiedete sich bei seiner Kinderfreundin Marga am Abend vor der Ausreise mit den Worten: "Wir fahren morgen weg, aber ich weiß nicht wohin."
Die Reise ging 1939 über Großbritannien und 1940 von Liverpool weiter in die USA, wohin bereits in den Jahren zuvor die älteren Geschwister geschickt worden waren, berichtet Evamaria Bräuer. Josef Brodmanns Eltern Heßlein und Lina Brodmann waren aus Zeilitzheim nach Gerolzhofen gezogen. Die Brodmanns lebten in der Bahnhofstraße 5 und setzten die seit mehreren Generationen bestehende Metzgerei und den Viehhandel fort.
In der Bürgermeister-Weigand-Straße 16 lebten Josef Brodmanns Bruder Willy Brodmann (1878-1942) und seine Frau Selma (geb. Lichtenauer, 1888-1936). Brodmann war ab dem Jahr 1934 Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Gerolzhofen. Er wurde im Jahr 1940 von den Nazis "entmietet", das heißt, aus seinem Haus vertrieben, und wohnte bis zu seinem Tod in einem Zimmer im Haus Nr. 131 (heute Steigner) am Marktplatz.
Das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" nimmt diese Redaktion zum Anlass, in einer losen Reihe von Artikeln den vielfältigen Spuren nachzuspüren, die jüdische Einwohner in Gerolzhofen hinterlassen haben und sich mit der Erinnerung an diese auseinanderzusetzen.
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