Bis auf den heutigen Tag haben sich im Depot des Gerolzhöfer Stadtmuseums zwei Gestell-Nähmaschinen des ehemaligen jüdischen Eisenwarenhändlers Hermann Kohn erhalten. Damit gehören diese Exponate zu den wenigen in der Stadt verbliebenen Zeugnissen aus nahezu 700 Jahren jüdischen Lebens in Gerolzhofen. Grund genug, die Geschichte weiterer jüdischer Geschäfte in Gerolzhofen zu beleuchten, die einst Nähmaschinen in ihrem Sortiment führten.
Zur Vorgeschichte: In einer Beilage des Würzburger Stadt- und Landboten vom 28. Oktober 1857 war zu lesen, dass der Schausteller V. Otto aus Philadelphia mit seinem Naturalienkabinett, bestehend aus 15 000 Gegenständen, nebst lebenden Tieren auch "das Wunderding Nähmaschine" im Saal des Gasthofs von Franz Schlier in der Rügshöfer Straße in Gerolzhofen (heute Gasthaus "Schlapp'n") ausgestellt hatte. Es sollte allerdings noch genau 20 Jahre dauern, bis es bei Uhrmacher Sylvester Schmitt am Marktplatz eine solche mechanische Nähhilfe zu kaufen gab.
Insgesamt 26 Gerolzhöfer Geschäfte verkauften Nähmaschinen
Im Zuge von Recherchen eines Arbeitskreises zur Eröffnung der Dauerausstellung "Welterfolg Nähmaschine – Vom armen Schneiderlein zur Kleiderfabrik" im Gerolzhöfer Stadtmuseum im Jahr 2000 konnten für den Zeitraum von 1877 bis Anfang der 1960er Jahre insgesamt 26 Gerolzhöfer Geschäfte ermittelt werden, die unter anderem mit Nähmaschinen handelten. In der Blütezeit der Nähmaschinen Mitte der 1920er Jahre boten sogar gleichzeitig neun Händler ihre Modelle dem Gerolzhöfer Publikum an. Unter den zahlreichen Geschäften befanden sich auch vier mit jüdischen Besitzern.
Einer von diesen war der aus Lülsfeld stammende Hermann Kohn, der im Mai 1899 mit 28 Jahren das Wohn- und Geschäftshaus von Marianne Vandewart, der Witwe des jüdischen Eisenwarenhändlers David Vandewart, an der Ecke Marktstraße/Rügshöfer Straße (alte Hausnummer 211) erworben hatte. Zu seinem angemeldeten Eisenhandelsgeschäft kam bald der Handel von Schnittwaren hinzu.
Nachdem die wirtschaftliche Grundlage gelegt war, heiratete Hermann Kohn im August 1900 Amalie Schwab aus Rimpar, dem Geburtsort von Kohns Stiefmutter Regina (geborene Frank). Ein Jahr später kam Tochter Rose zur Welt. Kurz danach erschien die erste Anzeige im Boten vom Steigerwald, dass Kohn Nähmaschinen in seinem Verkaufssortiment führte. Ergänzend bot er später auch als Serviceleistung Näh- und Stickkurse an der Nähmaschine im "Henkelmannsaal" an.
Händler Kohn expandiert mit seinem Geschäft in der Nachbarschaft
Im November 1907 kam Sohn Karl zur Welt, der auch später im Geschäft des Vaters tätig war. Im Jahr 1909 erweiterte Hermann Kohn sein Maschinenlager durch den Bau einer Reparaturwerkstätte. Anfang 1912 vergrößerte er seine Geschäftsfläche durch den Erwerb des Nachbaranwesens (alte Hausnummer 212) von Seifensieder Thomas Goldstein, ließ es im gleichen Jahr abbrechen und einen Neubau als Wohn- und Lagerhaus mit Werkstätte errichten.
Verkaufte er anfangs etwa nur Öfen, Zentrifugen und Waschmaschinen, kamen später noch größere landwirtschaftliche und gewerbliche Maschinen, Form- und Stabeisen sowie Eisenbahnschienen hinzu.
Im Jahr 1927 heiratete Tochter Rose den Bankier Ludwig Löwenthal, zog in dessen Heimatstadt Bad Kissingen und ein Jahr später kam dort Sohn Willi auf die Welt. Bis in die 1930er Jahre lässt sich der Verkauf von Kohn'schen Nähmaschinen über Anzeigen in der Lokalpresse nachweisen. Zu dieser Zeit gehörte Hermann Kohn zu den zehn größten Gewerbesteuerzahlern in der Stadt.
Kinder der Familie Kohn emigrierte in die USA und Niederlande
Nach mehreren überstandenen "Schutzhaftaufenthalten" in den Jahren 1933/34 von Vater und Sohn Kohn, von denen Anzeigen im Boten vom Steigerwald berichten, emigrierte Karl (1907-1983) Ende April 1936 in die USA, wo er sich im Oktober 1937 mit der aus Bamberg stammenden Martha Sternberg vermählte. Karl Kohn wurde, wie im elterlichen Geschäft erlernt, in den USA ebenfalls als Eisenwarenhändler tätig. Schon im Oktober 1933 emigrierte Schwester Rose mit ihrer Familie in die Niederlande.
Nach der erzwungenen Aufgabe der Eisenhandlung kam es im Jahr 1937 zum Verkauf des Kohn`schen Anwesens an den Münchner Kaufmann Stefan Suckfüll. Mit dem gleichen Sortiment wie Kohn dort am Platze, handelte Suckfüll später mit Schwiegersohn Franz Schönmeier in der Frankenwinheimer Straße unter anderem auch mit Nähmaschinen.
Im gleichen Jahr wurde auch der schon im Jahr 1904 von Kohn erworbene Lagerplatz in der Bahnhofstraße an Malermeister Ludwig Kühl, kurz danach an die Stadt und später ans Butterwerk verkauft.
Flucht der Eltern endet im Vernichtungslager Sobibor
Die Eheleute Hermann und Amalie Kohn emigrierten im Februar 1939 nach Amsterdam zu ihrer Tochter Rose Löwenthal. Vermutlich durch Verrat an die Gestapo kamen die Eheleute Kohn über das Internierungslager Westerbork am 25. Mai 1943 ins polnische Vernichtungslager Sobibor. Dort erklärte man sie drei Tage später für tot. Rose Löwenthal, ihr Mann Ludwig sowie Sohn Willi wurden im April 1943 von Amsterdam nach Theresienstadt deportiert. Dort verstarb Ludwig Löwenthal im Februar 1944.
Der 16-jährige Willi kam im Oktober 1944 über das Konzentrationslager (KZ) Auschwitz ins KZ Bergen-Belsen, wo sein weiteres Schicksal ungeklärt blieb. Rose Löwenthal überlebte bis zu ihrer Befreiung durch die Rote Armee im Mai 1945 das Lager Theresienstadt und wanderte über die Niederlande 1946 in die USA aus.
Erste Kontaktaufnahmen an die Stadt Gerolzhofen bezüglich der unrechtmäßigen Verkäufe Kohn`schen Besitzes vor dem Krieg erfolgten schon ab dem Jahr 1945 von Karl Kohn aus New York und später von Karls Schwester Rose Lowell (geborene Kohn). Im Juli 1955 liest man in der Gerolzhöfer Lokalpresse von einem Räumungsverkauf der Eisen- und Maschinenhandlung Suckfüll & Schönmeier in der Marktstraße wegen "Rückerstattung unsrer Häuser", ab 1. August wäre man nur noch in der Frankenwinheimer Straße für Kauflustige zu finden.
Hassbotschaft auf der Wand enthält Todesdrohung
Daraufhin erwirbt im Jahr 1956 die Familie Johann und Hildegard Göttemann mit ihren drei Kindern das Anwesen in der Marktstraße, um in dem früheren Kohn´schen Eckhaus eine Weinhandlung mit Weinstube einzurichten. Nach Aussage von deren in den USA lebenden Tochter Doris Beeler im Jahr 2014, befand sich im ehemaligen Lagernebengebäude (alte Hausnummer 212) im ersten Stock groß auf einer Wand in Schwarz geschrieben: "Wer dieses Haus erwirbt der stirbt!". Auf ihre kindliche Nachfrage bei der Mutter habe diese zu ihr gesagt, dass dies "die Antwort auf die Wiedergutmachung" gewesen sei, berichtete Doris Beeler, die im März 2019 starb. Sie konnte sich auch noch erinnern, dass "eine Frau aus New York" angereist war, um den Verkauf abzuschließen. Erbin war seinerzeit Rose Lowell aus New York, die im Jahr 2000 im Alter von 99 Jahren starb.
Auch der jüngere Bruder von Hermann Kohn, der im Jahr 1872 geborene Benno Benjamin Kohn, handelte für kurze Zeit in Gerolzhofen neben Schnittwaren, Fahrrädern und landwirtschaftlichem Gerät auch mit Nähmaschinen. Im August 1905 liest man in einer Anzeige von Kohns Eröffnung eines Manufakturwaren- und Maschinengeschäfts im neu erbauten Haus des Steinbildhauers Otto Tully in der Bahnhofstraße (alte Hausnummer 390).
Nach der Heirat folgt der Umzug nach Bamberg
Ein Jahr später heiratete Benno Kohn mit 34 Jahren Luise Freitag, die Tochter des Privatiers Lazarus Freitag und Jette Frohmann aus Dormitz in Oberfranken. Die Niederlegung seines Geschäftes und der Umzug nach Bamberg erfolgte laut eines Hinweises auf der Online-Plattform von Alemannia Judaica, einer Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung jüdischer Geschichte, im März 1907 kurz vor der Geburt von Tochter Anna Rosa (1907-1975). Dort wurde er Inhaber des "Landwirtschaftlichen Maschinengeschäftes verm. Gebrüder Buxbaum". Im Jahr 1915 kam die zweite Tochter, Maria, zur Welt.
Benno Kohn war innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg der Vorsitzende des Vereins der Gesetzestreuen Adas Israel. In Folge des Novemberpogroms wurde er am 10. November 1938 festgenommen und in das Landgerichtsgefängnis Bamberg eingeliefert, aber wegen seines hohen Alters bald wieder entlassen.
Verzweifelte Fluchtversuche ins Ausland scheitern
Die Firma von Benno Kohn unterlag 1938 auch dem Zwangsverkauf. Sein Maschinengeschäft wurde im Jahr 1939 als Auslieferungslager einer Nürnberger Nährmittelfabrik "arisiert". Wohnadresse der Familie Kohn war ab April 1939 das sogenannte Judenhaus in Bamberg. Ihrer wirtschaftlichen Grundlagen beraubt, versuchte die Familie daraufhin verzweifelt, aber ohne Erfolg auszuwandern.
So wurden die Eheleute Kohn mit ihrer Tochter Anna Rosa nach Angaben von Alemannia Judaica mit weiteren 116 Personen am 27. November 1941 ab Nürnberg nach Riga deportiert. Ihr letzter bekannter Aufenthaltsort war ab 2. Dezember 1941 das Lager Riga-Jungfernhof. Nur Tochter Anna Rosa überlebte und kehrte nach Ende des Zweiten Weltkriegs kurzzeitig nach Bamberg zurück, um anschließend in die USA zu emigrieren. Maria, die zweite Tochter von Benno Kohn, war mit dem Bamberger Kaufmann Josef Kohn verheiratet. Beiden gelang die rechtzeitige Flucht in die USA.
Wie am ehemaligen Wohnhaus seines Bruders Hermann in Gerolzhofen, wo Stolpersteine für Hermann und Amalie Kohn liegen, wurden auch am letzten Bamberger Wohnsitz von Benno und Luise Kohn in der Luitpoldstraße 16 zwei Stolpersteine "gegen das Vergessen" verlegt.
Das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland", das bis 31. Juli 2022 geht, nimmt diese Redaktion zum Anlass, in einer losen Reihe von Artikeln den vielfältigen Spuren nachzuspüren, die jüdische Einwohner in Gerolzhofen hinterlassen haben und sich mit der Erinnerung an diese auseinanderzusetzen.
Gastautor Bertram Schulz ist einer der beiden ehrenamtlichen Leiter des Stadtmuseums Gerolzhofen und hat sich intensiv mit der Geschichte der Gerolzhöfer Nähmaschinenhändler befasst.
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