Im Jahr 2005 haben die Vereinten Nationen den 27. Januar zum jährlich wiederkehrenden internationalen Gedenktag an den Holocaust eingeführt. Anlass war der 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee. Bereits 1996 hatte Bundespräsident Roman Herzog den Tag zum bundesweiten, gesetzlich verankerten Gedenktag ernannt. In Gerolzhofen, aber auch in der Nachbargemeinde Frankenwinheim, erinnern sogenannte Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig Passanten an das Schicksal ehemaliger jüdischer Bürgerinnen und Bürger. Sie sind vor deren einstigen Wohnhäusern in den Gehsteig eingelassen.
In Gerolzhofen sind mittlerweile 16 Stolpersteine von Demnig (siehe Infobox) verlegt, in Frankenwinheim sind es 38. "Der Weg dorthin war durchaus steinig", sagt Evamaria Bräuer im Rückblick auf die Entstehungsgeschichte dieses Denkmals wider das Vergessen in Gerolzhofen. Sie gehört dem Gerolzhöfer Kulturforum als Beirätin an, das das Verlegen der Steine initiiert hat und sich bis heute vor Ort darum kümmert. Für Bräuer ist diese Aufgabe auch so lange nicht abgeschlossen, bis für alle ehemalige Gerolzhöfer Jüdinnen und Juden, die während des Regimes der Nationalsozialisten (NS) ermordet wurden, Stolpersteine verlegt sind, die an die begangenen Verbrechen erinnern. Zeitliche Vorgaben gebe es allerdings nicht, sagt die 73-Jährige. "Es wäre zwar wünschenswert, aber leider lässt sich nicht alles von unserer Generation realisieren."
Neue Namen auf der Liste der Stolperstein-Anwärter
Lange ging man von 28 Jüdinnen und Juden aus, die unmittelbar vor ihrer Ermordung durch NS-Schergen in Gerolzhofen lebten. Seitdem vor kurzem das Schicksal des körperlich und geistig beeinträchtigten jüdischen Mädchens Käthe Krämer neu erforscht und bewertet wurde, sollte laut Bräuer auch dieses Kind in die Liste derjenigen aufgenommen werden, an die ein Stolperstein erinnern soll. Deren Familie hatte vor der Vertreibung während der NS-Zeit in der Häfnergasse in Gerolzhofen gewohnt, dies war ihr letzter frei gewählter Wohnsitz. Damit wäre dies gemäß der Vorgaben des Stolperstein-Projekts auch der passende Ort für diese Form des Gedenkens in einem öffentlichen Gehweg.
Doch auch in diesem wie in allen anderen Fällen gelte für die Verlegung von Stolpersteinen in Gerolzhofen die Vorgabe des Stadtrats: Ohne das Einverständnis der heutigen Hausbesitzer wird vor deren Anwesen kein Stolperstein verlegt. "Es geht niemals mit der Brechstange", ist Bräuer überzeugt. Idealerweise konnten heutige Hausbesitzer sogar als Paten für die Stolpersteine gewonnen werden, die sich darum kümmern und darauf achten, den kleinen Gedenkort vor ihrem Haus zu pflegen.
Die Hausbesitzer müssen der Verlegung zustimmen
Dass es ohne das Einverständnis der Hausbesitzer nicht geht, ist bereits den Vertretern von Geo-net klar gewesen, als sie vor genau 16 Jahren, am Abend des Holocaust-Gedenktags 2006 in Gerolzhofen die Idee vorgestellt hatten, auch hier Stolpersteine zu verlegen. Hierzu waren Vertreter des Würzburger Stolperstein-Arbeitskreises nach Gerolzhofen gekommen, um die dort bereits angelaufene Verlegung von Stolpersteinen vorzustellen. Doch in der Folge scheiterte der Vorstoß am Veto des Stadtrats. Dieser stimmte erst acht Jahre später zu, Stolpersteine in der Stadt zu verlegen – vorausgesetzt die heutigen Besitzer der Häuser, vor denen Stolpersteine verlegt werden sollen, stimmen dem schriftlich zu. Der Stadtrat entscheidet seitdem auch nicht mehr über jeden weiteren Stolperstein in der Stadt, sondern wird darüber nur noch informiert.
Die ersten Stolpersteine in Gerolzhofen wurden im Dezember 2014, ein halbes Jahr nach dem Stadtratsbeschluss verlegt. Die Steine vor dem Anwesen Marktstraße 7 erinnern an die Ermordung von Meta und Max Henle und deren Sohn Paul. Im September 2015 wurden Stolpersteine für Amalie und Hermann Kohn in der Marktstraße 20 und für Stefan Löbhardt am Marktplatz 15 verlegt. Es folgten im Mai 2016, bei der bisher größten Verlege-Aktion Demnigs in der Stadt, Stolpersteine für Janette, Rafael, Albert und Jenny Lichtenauer in der Bahnhofstraße 16 sowie für Kathi Langstädter (geb. Lichtenauer) in der Bahnhofstraße 5.
Nach einigen vergeblichen Versuchen war einige Jahre Pause, bis im Mai 2021 mit Einverständnis der Hausbesitzer erneut fünf Stolpersteine verlegt werden konnten, für Familie Rheinfelder, für Rosa, Jakob, Lina und die Buben Werner und Siegbert. Deren Gedenksteine in der Steingrabenstraße 13 haben damals Mitarbeiter des Gerolzhöfer Bauhofs anstelle des Künstlers Demnig fachgerecht verlegt, der wegen der Corona-Pandemie nicht anreisen konnte.
Grundsätzlicher Widerstand gegen diese Form des Erinnerns
Neben Bedenken, heutige Besitzer könnten sich wegen der Stolpersteine vor ihrem Haus für Verbrechen angeprangert fühlen, für die sie nicht verantwortlich sind, gibt es auch grundsätzlichen Widerstand gegen diese Form des Erinnerns. Dies darf nicht unerwähnt bleiben. Am vehementesten hält sich eine Kritik, die bereits manche Gerolzhöfer Stadtratsmitglieder vorgebracht hatten, als im Gremium über die Zustimmung zur Verlegung von Stolpersteinen diskutiert wurde. Da hatte es geheißen, es könne nicht sein, dass durch die im Gehsteig-Belag verewigten Namen Nazi-Opfer gleichsam "mit den Füßen getreten werden" und deren Schicksal wörtlich im Schmutz liegt.
Dem setzen Befürworter immer wieder entgegen, dass Vertreter der israelitischen Kultusgemeinde, etwa der aus Würzburg kommende Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sich bereits mehrfach für diese plastische Form des Erinnerns ausgesprochen habe. Zudem hatte im Jahr 2014 der damalige SPD-Stadtrat und Vorsitzende des Kulturforums, Burkhard Tebbe, seine Befürwortung zu dem Projekt unter anderem mit der Aussage eines Nachkommens der damaligen NS-Opfer begründet. Dieser hatte ihm gegenüber mit Blick auf die Geächteten und Ermordeten aus seiner Familien Bedenken gegen Stolpersteine mit den Worten zerstreut: "Wenn man sie nur mit Füßen getreten hätte, würden sie noch leben."
Nachfahren kommen von weit her zur Verlegung der Steine
Bräuer kennt diese Diskussion und die entsprechenden Vorbehalte selbstverständlich. Doch auch sie bekräftigt: Keiner der Nachkommen der einstigen Opfer, mit denen sie gesprochen hat, stehe den Stolpersteinen kritisch gegenüber. Im Gegenteil, allein dadurch, dass sie teilweise weite Reisen auf sich nehmen, um bei der Verlegung der Stolpersteine vor Ort zu sein, bewiesen sie, dass ihnen diese Form des Erinnerns viel bedeutet. Zur ersten Stolperstein-Verlegung in Gerolzhofen etwa waren Nachfahren der jüdischen Familie Henle eigens aus Buenos Aires in Argentinien angereist.
"Die Nazis haben ihre Opfern damals erniedrigt und deren Würde genommen, bevor sie sie am Ende umbrachten", sagt Bräuer. Die Stolpersteine mit den darauf vermerkten Namen und Lebensdaten brächten zum Ausdruck, dass die Ermordeten keine namenlosen Nummern waren, sondern als Menschen Haus an Haus, jahrzehntelang als Nachbarn mit den anderen Bewohnern der Stadt lebten. Sie waren vor der Stigmatisierung durch die Nazis ein Teil der Gesellschaft.
Metall-Koffer steht symbolisch für die Deportation
Diese Verwobenheit mit der Stadt werde mit den Stolpersteinen womöglich stärker deutlich als durch zentrale Gedenkorte. Ein solches findet sich in der Stadt in der Schuhstraße in Form einer Stele, die an die hiesige jüdische Gemeinde und deren gewaltsame Auflösung im Jahr 1938 erinnert. In der Marktstraße steht zudem ein metallener Koffer symbolisch für die Deportation der noch in der Stadt verbliebenen Gerolzhöfer Juden im April 1942 in die Vernichtungslager.
Über die im Boden liegenden Gedenksteine dagegen stolpern Passanten jeden Tag. Wobei stolpern nicht wörtlich zu nehmen ist, denn die Betonwürfel mit Messingplatte sind so in den Gehweg eingelassen, dass niemand daran hängenbleiben kann. "Das Stolpern passiert im Kopf", schildert Bräuer. Es ist symbolischer Natur, indem Menschen mitten im Alltag daran erinnert werden, welch grausame Verbrechen Menschen aus dieser Stadt widerfahren sind – vor den Augen vieler, und ohne dass die Täter seinerzeit dafür belangt wurden.
Das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland", das bis 31. Juli 2022 verlängert wurde, nimmt diese Redaktion zum Anlass, in einer losen Reihe von Artikeln den vielfältigen Spuren nachzuspüren, die jüdische Einwohner in Gerolzhofen hinterlassen haben und sich mit der Erinnerung an diese auseinanderzusetzen.
Stolperstein-Projekt
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