Jüdische Einwohner Gerolzhofens waren in den Jahrzehnten vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 fester Teil des Vereinslebens in der Stadt. Sie waren Mitglieder mehrerer Vereine, teils seit deren Gründung, und bekleideten Posten in Vorständen. Zudem gab es Vereine der jüdischen Gemeinde, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, dem rasch stärker werdenden Antisemitismus zu begegnen – am Ende vergebens.
Bezeichnend für die Rolle, die Juden in Vereinen spielten, ist deren Bedeutung in der Frühphase des deutschen Fußballs. Eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft war hier unwichtig. Was zählte, war die Begeisterung für einen damals, Anfang des 20. Jahrhunderts, neuen, weltoffenen Sport. Die beiden Karlsruher Stürmer Julius Hirsch und Gottfried Fuchs wurden als erste – und bis heute einzige – jüdische Spieler in die Nationalmannschaft berufen. Fuchs stellte im Nationaltrikot sogar einen bisher unerreichten Rekord auf: Während der Olympischen Spiele 1912 schoss er beim 16:0-Sieg gegen Russland zehn Tore für Deutschland.
FC Gerolzhofen hatte jüdischen Vorsitzenden
In mehreren deutschen Spitzenvereinen, wie dem FC Bayern München (Präsident Kurt Landauer), dem 1. FC Nürnberg oder Eintracht Frankfurt zählten Juden zu den Gründungsmitgliedern. Auch in kleineren Gemeinden waren Juden an der Gründung von Fußballvereinen beteiligt. Insoweit wundert es nicht, dass der im Jahr 1917 gegründete FC Gerolzhofen ab dem Jahr 1931 mit Philipp Selig einen jüdischen Vorsitzenden hatte. Im Januar 1933 wurde Karl Kohn zum Vorsitzenden des Spielerausschusses gewählt und war damit als zweiter Jude im Vorstand. Laut der Chronik des Vereins ging es mit Selig als Vorsitzendem wieder aufwärts und der Verein erreichte "auch gesellschaftlich eine beachtliche Höhe". Auf dem Spielfeld erlebten Juden teilweise bis in die 1930er Jahre hinein Seite an Seite mit christlichen Teamkameraden eine Form der Akzeptanz, die ihnen anderswo versagt blieb.
Dies galt sicherlich ebenso für den Turnverein in Gerolzhofen. Im Auftrag der Fußballriege des TV lud der Vereinskassier Stefan Löbhardt, ein Jude, im Jahr 1920 in einer Annonce des "Boten vom Steigerwald" zu einer wichtigen Versammlung ein.
Der Jude Louis Lichtenauer, der im September 1931 im Alter von 47 Jahren vermutlich an einer Lungenentzündung starb, war über 20 Jahre lang dem TV verbunden. Der sportliche Mann, Viehhändler und Hopfenaufkäufer von Beruf, war zudem zusammen mit den jüdischen Metzgern Isaak Klein und Willy Brodmann Teil der Korso-Mannschaft des Radfahrer-Vereins, der heutigen Motorsportvereinigung 1898. Wie stark sich Lichtenauer ehrenamtlich einbrachte, zeigt sich dadurch, dass er auch der Freiwilligen Feuerwehr 27 Jahre lang angehörte, zudem der Schützengesellschaft sowie als ehemaliger Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs auch dem Krieger- und Veteranenverein Gerolzhofen. Im "Bote vom Steigerwald" ist in einem Artikel anlässlich seiner Beerdigung nicht nur die Rede von "einem ungewöhnlich zahlreichen Trauerzug", sondern auch von den Ovationen, die die Vereine ihrem verstorbenen Mitglied erwiesen.
Hinweise auf jüdisches Mitglied sollte verschwinden
Der frühere Gerolzhöfer Stadtarchivar Stephan Oettermann hat in zwei Publikationen im Auftrag der Schützengesellschaft 1907 Gerolzhofen die Geschichte und das Schicksal ihres einstigen Schützenkönigs Siegfried Krämer dokumentiert, die nach Wunsch der damals politisch Verantwortlichen bewusst aus dem Gedächtnis des Vereins getilgt werden sollte. Denn am 25. September 1935 hatte der Ausschuss des Vereins beschlossen, auf der Königsscheibe des Jahres 1928 Krämers Namen als Schützenkönig zu entfernen – weil er Jude war.
Grundlage hierfür waren die von den Nazis erlassenen Rassengesetze, die den Schützenverein veranlassten, seine Satzung so zu ändern, dass Jüdisch-Sein als "vereinswidrig" einzustufen wurde. Krämers Name wurde in den Mitglieds- und Königslisten so gründlich getilgt, dass man noch in den 1990er Jahren annahm, es habe 1928 gar keinen Schützenkönig gegeben. Auf der Königsscheibe von 1928 ist der Name quasi spurlos entfernt worden, es ist nur noch eine schwarze Fläche zu sehen. Auf der Scheibe von 1931, die Krämer als vorangegangener König stiftete, ist sein als Stifter vermerkter Name nur noch zu erahnen. Beide Scheiben besitzt der Schützenverein bis heute.
Gefeierter Königsschütze und vaterländischer Patriot
Dass der für seinen Meisterschuss von seinen Vereinskameraden seinerzeit gefeierte Krämer ein durch und durch vaterländischer Patriot war, rettete ihn nicht vor der öffentlichen Ächtung. Der Händler war nach seinem Kriegseinsatz als mit Orden dekorierter Soldat des Kaiserreichs stellvertretender Führer der kurz nach Kriegsende im November 1918 gebildeten örtlichen Bürgerwehr. Zudem war er im Krieger- und Veteranenverein und in der Feuerwehr aktiv.
Ausdruck von Krämers Stolz auf sein Vaterland war auch das Motiv der Gedenkmünze, die er 1928 als Schützenkönig traditionsgemäß für die Kette des Schützenkönigs fertigen ließ: Er wählte hierfür den ersten deutschen Ozeanüberflug durch die Piloten Hermann Köhl, Günter Freiherr von Hünefeld und den Iren James C. Fitzmaurice. Diese erreichten im April 1928 in einem einmotorigen Junkers-Flugzeug nach 35 Stunden und 6750 Kilometern den amerikanischen Kontinent, was in Deutschland begeistert gefeiert wurde. Die Gedenkmünze Krämers haben dessen einstige Schützenbrüder später ebenfalls aus der Kette entfernt - sie ist verschollen.
Krämers kleine Tochter bat um Freilassung
Im Zuge der November-Pogrome 1938 wurde Krämer in "Schutzhaft" genommen und erst im Dezember aus dem KZ Dachau entlassen. Ergreifend liest sich in diesem Zusammenhang ein überlieferter Brief von Krämers elfjähriger Tochter Edith, die nach dem Tod der Mutter allein mit ihrem Vater lebte. In kindlicher Schrift bittet sie mit Verweis um dessen Verdienste als Soldat fürs Vaterland in einem Brief an die Gestapo um Freilassung ihres Vaters. Das Mädchen konnte im April 1939 mit einem Kindertransport nach England geschickt werden. In Seattle USA lebt sie heute als einzige noch lebende Gerolzhöfer Jüdin und ist lebhaft an der Geschichte ihrer ehemaligen Heimatstadt interessiert. Ihre ältere Schwester Hanni war bereits 1937 in die USA emigriert. Ihr Vater, der einstige Schützenkönig, gehörte zu den Gerolzhöfer Juden, die im Jahr 1942 deportiert und ermordet wurden.
Zumindest erwähnt werden sollte ein zweites jüdisches Mitglied der Schützengesellschaft, Theo Schwarz, der in der Spitalstraße ein Modegeschäft besaß. Er ist in einem Protokoll des Schützenvereins aus dem Jahr 1931 als deren Schatzmeister aufgeführt.
Gründungsmitglieder des Steigerwaldklubs
Weitere jüdische Vereinsmitglieder in Gerolzhofen waren der Religionslehrer Leopold Godlewsky, der unter anderem dem Liederkranz angehörte. Der Steigerwaldklub zählt zu seinen Gründungsmitgliedern Emanuel Lewisohn, Adolf Selig und Rafael Lichtenauer. Und schlussendlich gehörten die jüdischen Kaufleute Robert Kaufmann, Hermann Kohn, Leopold Krämer und Theo Schwarz dem Verein für Handel und Gewerbe an.
Trotz der zahlreichen Mitgliedschaften in Gerolzhöfer Vereinen sowie den sonstigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen erlebten jüdische Einwohner der Stadt immer wieder Ressentiments und wurden bereits während der Zeit der Weimarer Republik Opfer des sich ausbreitenden Antisemitismus'. Hatte sich bereits im Jahr 1894 der Verein "Frohsinn" gegründet, der soziale Kontakte und Unterhaltung förderte, so folgten weitere jüdische Vereinen, die es sich zum Ziel setzten, gezielt auf die Judenfeindschaft zu reagieren.
Jüdische Vereine wandten sich gegen Judenhass
So gab es eine Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Nach Angaben des früheren Stadtarchivars Martin Frey wurde am 1. Mai 1920 eine Filiale des Jüdischen Jugendvereins ins Leben gerufen, der Jugendliche gegen Anfeindungen von außen stärken wollte, unter anderem durch Wandern und Geselligkeit. Im April 1924 gründete der bereits benannte Siegfried Krämer eine Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, in Reaktion auf antisemitische Verleumdungen.
Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, verloren die Bemühungen um ein friedliches Miteinander abr schnell an Boden. Es wurde klar: "Nicht-arische" Mitglieder waren in keinem Verein mehr erwünscht.