An den Namen des Mannes erinnert er sich nicht mehr. Doch alles andere von diesem Tag Anfang März 2020 weiß Patrick Meybohm noch genau. Wie der Patient mit dem Intensivtransport ankam. Wie ihn Kollegen, zum Schutz von Kopf bis Fuß vermummt, in ein leeres Zimmer schoben. Wie alle, die an diesem Tag Dienst hatten, angespannt warteten und der Respekt vor dem Virus fast greifbar war in den Fluren. Vor allem aber erinnert sich der Intensivmediziner und Direktor der Klinik für Anästhesiologie des Uniklinikums Würzburg noch an diesen einen Gedanken: "Jetzt ist die Pandemie tatsächlich in Würzburg angekommen. In der eigenen Klinik. Auf der eigenen Station".
Am 5. März 2020 wurde der erste nachweislich mit Corona infizierte Patient in Unterfranken registriert. Für die Kliniken in der Region begann damit der Ausnahmezustand. Auch auf der Intensivstation im Klinikum Würzburg Mitte am Standort Juliusspital musste plötzlich alles sehr schnell gehen. Ein Bereich wurde abgetrennt, isoliert. Bald kämpften dort die ersten fünf Corona-Patienten mit dem noch neuartigen, unbekannten Virus. "Es war nicht absehbar: Wie schnell kommen weitere?", sagt der Intensivpfleger und pflegerische Stationsleiter Joachim Päckert.
Corona-Patienten unterschätzten den Ernst der eigenen Lage
Das Schwierigste, so Päckert, sei die Unsicherheit gewesen. "Keiner wusste, wie virulent das Virus ist. Viele hatten Angst: Bekomme ich es? Wie ist es, wenn ich nach Hause gehe? Bekommen es meine Kinder, mein Lebenspartner?" Auch vielen Patienten sei damals nicht bewusst gewesen, in welch gefährlicher Lage sie sich befanden. Manche hätten sich trotz ernster Symptome erst auf Drängen ihrer Angehörigen ins Krankenhaus begeben.
Egal ob Ärzte oder Pflegekräfte – sie alle standen im März 2020 vor einer nie dagewesenen Herausforderung. Covid-19 war eine neue Krankheit. Es gab keine Behandlungsstandards. Nichts, worüber sich Mediziner weltweit einig gewesen wären. "Man musste sich erst rantasten, in dem Wissen, das ist etwas ganz Neues", beschreibt Patrick Meybohm die Unsicherheit. Und die daraus resultierende Verantwortung. Zum vielleicht ersten Mal in ihrem Berufsleben mussten Ärzte ohne ausreichende wissenschaftliche Grundlagen Entscheidungen treffen – von denen letztendlich das Leben ihrer schwerstkranken Patienten abhing.
In der Uniklinik habe man sich deshalb früh entschieden, auf Sicherheit zu setzen und das zu tun, wovon man wusste, dass es funktioniert: "Wir haben all das angewandt und streng umgesetzt, was auch ohne Covid gut für die Patienten ist", sagt Intensivmediziner Patrick Meybohm. Keine Experimente. Keine Medikamente, die noch nicht zugelassen waren. Stattdessen habe man sich auf bewährte Intensivverfahren konzentriert: lungenschonendes Beatmen, Flüssigkeitsgabe, wenn nötig künstliches Koma, Bauchlagerung der Patienten. "Wir waren in Deutschland unter denen, die sehr früh angefangen haben, das Blut zu verdünnen", sagt Meybohm. "Ich kann mich noch an Telefonate und E-Mails im März erinnern, als andere das noch für lächerlich befunden haben."
Das zeigt: Der Grat zwischen richtig und falsch war für die Behandler zu Beginn der Pandemie schmal, die Anspannung enorm. Psychisch, aber auch körperlich.
"Unter der Schutzkleidung schwitzt man wie ein Spitzensportler", erzählt Joachim Päckert. Und nicht nur das: "Stellen Sie sich vor, Sie haben sich gerade angezogen, mit Schutzkittel, Maske, Sichtschutz und Handschuhen, und dann juckt die Nase – Sie dürfen aber nicht hinlangen." Es sei nicht immer leicht, sich effektiv vor dem Virus zu schützen. Auch beim Ausziehen der Schutzkleidung gelte es, die Reihenfolge ganz exakt einzuhalten, um sich nicht zu kontaminieren. Umso erstaunlicher sei es, so Päckert, dass sich auf seiner Station bei der Arbeit niemand infiziert habe.
Bis ein neuer Corona-Patient gut versorgt war, konnten schnell Stunden vergehen. Und mehrere Pflegekräfte konnten damit beschäftigt sein. So musste immer ein zweiter Mitarbeiter vor der Zimmertür warten. Eine Verbindung zur Außenwelt quasi, damit bei Bedarf zum Beispiel Medikamente in den isolierten Bereich gereicht werden konnten.
Natürlich sei die Situation für alle Kollegen belastend gewesen, sagt Päckert. Anfangs seien die Pflegekräfte nicht regelmäßig getestet worden, es habe aber die Möglichkeit zum freiwilligen PCR-Test gegeben. "Eine Kollegin hat sich immer testen lassen, bevor sie ihre Mutter besucht hat", erinnert sich der Intensivpfleger. Er selbst ließ ebenfalls einige Male einen Abstrich machen. Mit 60 Jahren zählt Päckert zur Risikogruppe. Trotzdem hat er mittlerweile unzählige Covid-Kranke betreut.
"Erschütternd" schwere Krankheitsverläufe auch bei jüngeren Covid-Patienten
Auf über 100 schätzt der Intensivmediziner Patrick Meybohm die Zahl seiner Corona-Patienten im ersten Jahr der Pandemie. Erschreckt habe ihn dabei vor allem der Schweregrad der Erkrankung. "Schwere Lungenentzündungen kannten wir von anderen Krankheiten. Doch in der Regel tritt nach zwei Wochen eine Besserung ein und nach drei bis vier Wochen ist man mit der Intensivmedizin fertig", sagt Meybohm. Anders bei Covid-19. Wochen-, teils sogar monatelang rangen manche Erkrankte um ihr Leben. Nicht nur hochbetagte Senioren, auch jüngere. Er habe Patienten gesehen, die waren gerade einmal 35 oder 45 Jahre alt und hatten als Risikofaktoren, "wenn überhaupt, ein bisschen Übergewicht", so Meybohm. Dann aber waren sie wochenlang schwerst krank und fast ohne Lungenfunktion. "Das ist erschütternd und zeigt, wie bedrohlich das Krankheitsbild im Einzelfall ist."
Abschalten, den Kampf gegen das Virus nach Feierabend in der Klinik zu lassen, das sei da kaum möglich gewesen. "Anfangs habe ich Tag und Nacht gearbeitet", erinnert sich Meybohm. "Ich habe jeden Tag Nachrichten, Podcasts und medizinische Literatur gestreamt. In der Hoffnung, dass irgendwo auf der Welt neue Behandlungsstandards identifiziert werden." Bloß nichts übersehen, allen Patienten auf der Station die bestmögliche Therapie anbieten, irgendwie Sicherheit gewinnen – und die Oberhand über Sars-CoV-2.
Trotz Isolation: Vater durfte Baby am Fenster sehen
Leicht war das nicht. Im Juliusspital habe man versucht, die Zahl der Mitarbeiter in den isolierten Bereichen gering zu halten – um Ansteckungen zu verhindern. Dies habe andererseits dazu geführt, "dass jemand, der fünf bis sechs Tage am Stück drin war, am Ende gesagt hat: jetzt muss ich raus", berichtet der Stationsleiter Päckert. Raus aus der psychischen Anspannung, aus der täglichen Konfrontation mit Corona und auch mit dem Sterben. Natürlich sei man auf einer Intensivstation "immer mit dem Tod konfrontiert", sagt Päckert. "Mit der Zeit lernt man, damit umzugehen." Irgendwie. "Doch bei Corona-Patienten ist die Sterberate höher."
Trotz allem gab es im Kampf gegen Corona auch schöne, bewegende Momente für den Pfleger. Etwa, als ein Patient und frisch gebackener Vater trotz Isolation sein vier Wochen altes Baby das erste Mal sehen konnte. "Das Kind wurde von der Parkseite des Juliusspitals ans Fenster gehalten, damit er es sehen konnte und wusste, dass es ihm gut geht", erinnert sich Päckert. Das Besuchsverbot machte erfinderisch.
Ein Jahr Pandemie: Ist Corona nun Routine?
Ein Jahr später, es ist Anfang März 2021. In ganz Unterfranken waren mehr als 35 000 Menschen mit Corona infiziert. Die zweite Welle ebbt langsam ab, die Lage auf den Intensivstationen beruhigt sich, die Impfungen laufen. Holprig zwar, aber immerhin: Große Ausbrüche in Kliniken und Seniorenheimen soll es bald nicht mehr geben. "Das tut gut zu wissen", sagt Patrick Meybohm.
Der Intensivmediziner ist inzwischen – wie auch Joachim Päckert – geimpft. Hat die Pandemie ihr Leben verändert? "Ich habe, wie viele meiner Kollegen, vorher schon gelernt, sehr wertschätzend mit dem eigenen Leben umzugehen", sagt Meybohm. Gesundheit sei nicht selbstverständlich. Ebenso wenig wie grenzenlose Freiheit und die Möglichkeit, zu jeder Zeit alles tun zu können. Corona und die damit verbundenen Beschränkungen hätten das im vergangenen Jahr gezeigt. Aber wenn man als Arzt oder Pfleger täglich die Corona-Patienten auf der Station sehe, "die so völlig aus dem Leben herausgerissen sind", habe man "maximales Verständnis" für die Schutzmaßnahmen.
Bleibt die Frage: Wie geht es weiter? Ist der Umgang mit Covid – zumindest in den Kliniken – Routine geworden? "Ja, es ist Routine", sagt Meybohm. "Wir wissen, was wir können. Im Vergleich zu anderen Ländern arbeiten wir in Deutschland auf einem sehr hohen Niveau."
Komme heute ein Corona-Patient mit dem Intensivtransport an, gebe es keine Unsicherheit mehr. Die Angst vor dem Unbekannten sei verschwunden. Der Respekt vor dem Virus bleibe. Denn: "Dass wir Covid-frei sind, das sehe ich für dieses Jahr noch nicht", so Meybohm. Auf den Intensivstationen werden Pfleger und Mediziner weiter um das Leben von schwer an Corona Erkrankten kämpfen. Und nach wie vor gibt es Fragezeichen: "Wir wissen immer noch nicht: Wieso erkrankt der eine 45-Jährige so schwer und 99 andere Corona-Patienten haben nur Halskratzen und das war's?"