Mit großen Hoffnungen hatte nicht nur die Kulturwelt das Jahr 2021 begrüßt. Doch es wurde ein weiteres Corona-Jahr – mit Auflagen, Hygienekonzepten, Absagen und Verboten. Nun ist das Jahr so gut wie vorüber, die Inzidenzen so hoch wie nie, die Aussicht auf Normalität so gering wie lange nicht. Aber ein bisschen was ging dann doch – unsere Autorinnen und Autoren blicken zurück und benennen Höhepunkte, Entdeckungen, Enttäuschungen und mehr.
Mathias Wiedemann
Höhepunkt des Jahres
Corona hin oder her, aber das war ein Kulturjahr mit vielen Höhepunkten – und alle live. Mozartfest und Bayreuther Festspiele fanden statt, das Mainfranken Theater spielte, Museen und Kunsthallen konnten Ausstellungen eröffnen. Aber der Höhepunkt der Höhepunkte war für mich der Anfang der Würzburger "Zauberflöte". Die ersten Szenen gingen mir unglaublich zu Herzen. Warum, kann ich gar nicht richtig beschreiben, aber genau dafür gehe ich in die Oper.
Kulturbild des Jahres
Entdeckung des Jahres
Die französische Autorin Valérie Perrin. Ihr neuer Roman "Trois" ist ein echter Geniestreich. Leider ist er bislang noch nicht auf Deutsch erschienen, ihr Erstling "Die Dame mit dem blauen Koffer" aber schon. Perrin schreibt Geschichten, die sich über mehrere Generationen entwickeln, und führt die Leserschaft gekonnt durch ebenso komplizierte wie faszinierende Verästelungen der Handlung, die schließlich in verblüffende Auflösungen münden.
Kulturmensch(en) des Jahres
Alle Kultur-Ermöglicher. Die Organisatoren und Organisatorinnen von Kulturpicknicken, Kultursommern, Kulturherbsten, Kunstleeren Räumen und was sonst noch alles der Pandemie zum Trotz stattfand. Alle, die nicht klein beigaben, nicht (oder nicht nur) jammerten, die nicht nur sahen, was alles verboten war, sondern rauskriegten, was möglich war. In diesen Zeiten sind Signale besonders wichtig. Danke all denen, die solche Signale gesendet haben!
Enttäuschung des Jahres
Das Publikum. Ja, das kann man so pauschal sagen. Die Menschen, die einfach nicht mehr vom Sofa runter wollten. Künstlerinnen und Künstler, Theater, Galerien, Museen und Konzerthallen entwickelten immer neue Hygienekonzepte, nahmen riesige Arbeitsbelastung und massive Einbußen auf sich, um weiterhin Kultur anbieten zu können. Und ein erheblicher Teil der Kundschaft winkte einfach ab. Fadenscheinige Begründung: zu mühsam, zu unsicher, zu reduziert.
Christine Jeske
Höhepunkt des Jahres
Mal sehen, wie russische Künstler die französische Lichtmalerei auf- und übernommen haben. Auf nach Potsdam auf einen kurzen Rundgang durchs Museum Barberini, dann schnell weiter nach Berlin. So war der Plan. Daraus wurde nichts, sondern ein sehr langer Besuch. Nicht nur „Impressionismus in Russland. Aufbruch zur Avantgarde“ wird dort (noch bis 9. Januar) präsentiert, sondern (auf Dauer) die Impressionismus-Sammlung von Hasso Plattner. Lauter Highlights!
Kulturbild des Jahres
Entdeckung des Jahres
Die US-Autorin Mikhal Dekel erzählt von ihrem Vater. Hannan Dekel war ein Kind, als er mit seiner Familie aus dem besetzten Polen vor den Nazis flüchten musste. Sein langer Weg nach Israel, die grauenvollen Erlebnisse waren der Tochter völlig neu. Er schwieg zeitlebens. Erst nach seinem Tod folgt sie seinen Spuren und recherchiert eine weitgehend unbekannte Geschichte. Er war eines der vielen „Kinder von Teheran“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
Kulturmensch des Jahres
Ines Geipel, einst Spitzensportlerin der DDR, wechselte vor Jahren zur Literatur. Im Oktober las die 61-Jährige beim Festival MainLit auf Gut Wöllried aus ihrem Buch „Umkämpfte Zone“. Sie erzählte von den Wurzeln für Wut, Hass und Gewalt im Osten der Republik, der weder NS- noch SED-Diktatur aufgearbeitet hat, von der Einheit, die nach über 30 Jahren noch keine ist, von deutsch-deutschen Unwuchten.
Enttäuschung des Jahres
Keinesfalls wegen der Sache, sondern wegen der äußeren Umstände war der Abschluss des Synagogen-Projekts „Mehr als Steine“ enttäuschend. Die Feier im Würzburger Zentrum Shalom Europa, bei der die letzten Bände zu Unterfrankens Synagogen vorgestellt werden sollten, fiel wegen Corona aus. Tipp: Bis 28. Januar gibt es im Staatsarchiv Würzburg dazu eine Ausstellung. Wer mehr wissen möchte: Die beiden gewichtigen Bände sind im Kunstverlag Josef Fink erschienen.
Alice Natter
Höhepunkt des Jahres
Höhepunkt, Höhepunkt. . . Die Höhe war, wie die Sprachverhunzung weitergeht. Die (gut gedachte, gemeinte) Genderei treibt immer üppigere Sternchen und artet in manch phonetischen Blödsinn aus. Und dass unsere Oberen penetrant versuchen, ihre Gebote „schick“ zu machen: Click & Collect in der City, Boostern to go: Mensch, bestellt doch, holt in der Innenstadt ab und macht im Vorbeigehen eine Auffrischungsimpfung! Der Hotspot, Verzeihung Hitzepunkt: ein Tiefpunkt.
Kulturbild des Jahres
Entdeckung des Jahres
Hey, fieses Virus, wir schmunzeln Dich nieder! Das witzigste Buch – neben dem Prachtband „Schlimm“ des Aschaffenburger Zeichner-Duos Greser & Lenz mit FAZ-Karikaturen aus 25 Jahren: „Im Museum gewesen. Überall Corona gesehen“. Wolfgang Luef interpretiert – mit Pandemiebrille – berühmte Gemälde neu. Bruegels Festgelage: ein Schreckensbild zur Wiedereröffnung der Gastronomie! Und Dürers betenden Händen sieht man auch an, wie trocken sie vom vielen Desinfizieren sind.
Kulturmensch des Jahres
Ganz sicher nicht Nena, die sich einen Dreck um Vernunft und Rücksicht scherte. Nein, stellvertretend für die vielen Kulturmacherinnen und Kulturmacher in der Region, die versuchten, das Beste aus der maximal schwierigen Lage zu machen: Musiker und Songschreiber Markus Rill, der mit dem Cover-Album „Times Are Strange“ Bob Dylan zum 80. aufs Feinste Tribut zollte. Und Fotograf Mario Schmitt, der im Lockdown 105 Kollegen, Künstler und Gewerbetreibende porträtierte.
Enttäuschung des Jahres
Oh, davon gab’s so viele. Kultur immer nur instant, nie live. Jetzt mangelt es auch noch an Papier für Zeitungen und (gute) Bücher, weil die Papierindustrie nur noch Pappe für den ganzen Online-Versand produziert. Apropos gute Bücher: Michael Köhlmeier lässt seinen „Matou“ im originellen Roman über 230 Jahre europäische Geschichte aus der Perspektive eines philosophierenden Katers einfach 400 Seiten zu viel quatschen. 1000 Seiten?! Eine Strapaze und ein Ärgernis!
Michi Bauer
Höhepunkt des Jahres
Garten-Kunst als Kultur gewertet, war die Bundesgartenschau in Erfurt definitiv ein Höhepunkt mit ihrer kreativen, teils innovativen Präsentation. Musikalisch geht’s einige Ligen tiefer, in eine subkulturelle Nische: Je eine Prise Neofolk, Epic, Pagan und Black Metal gab’s im Oktober in der Würzburger Posthalle mit Munarheim und drei weiteren starken Underground-Bands – mein erstes Indoor-Konzert 2021 ohne Bestuhlung und mein letztes ohne Maskenpflicht.
Kulturbild des Jahres
Entdeckung des Jahres
Kann man Musik einfach nur als „schön“ beurteilen? Ja! Die fünf Lieder auf dem Erstling des Projekts „Circle & Wind“ sind genau das. Die Würzburgerin Viola Petsch, unterstützt von ihrem Partner, dem Black-Metal-Musiker Nikita Kamprad, lädt zum Träumen ein mit ihren selbstgeschriebenen Stücken - und ihrer engelsgleichen, klaren und in den Spitzen festen Stimme. Ruhig, eindringlich, poetisch – und irgendwie an Heather Nova erinnernd.
Kulturmensch des Jahres
Lou Bihl. Die Ärztin und Schriftstellerin wagt sich an das sensible Thema Transidentität. Abseits ausgetretener Pfade: In „Ypsilons Rache“ überstrapaziert sie weder Klischees, noch das medizinisch- psychotherapeutische Labyrinth, das jene, die sich ihrem biologischen Geschlecht nicht zugehörig fühlen, durchlaufen. Sie lässt, so schonungslos wie empathisch, ihre 55-jährige Romanfigur Mensch sein. Ein wertvoller Beitrag, der hilft, Transidentität zu entmystifizieren.
Enttäuschung des Jahres
Große Versprechen im ersten Corona-Sommer: 2021 werden alle Festivals stattfinden. Nein! Erneut keine musikalische Großveranstaltung in Deutschland. Was auch an einigen Veranstaltern lag, die auf sinkende Inzidenzen vertrauten, statt auf Alternativ-Konzepte. Aber auch an einer Politik, die nicht nur das 60-seitige Hygiene-Dossier der „Summer-Breeze“-Macher in Dinkelsbühl ignorierte, während in Belgien 24 000 Fans beim „Alcatraz“ feierten – ohne Inzidenz-Folgen.
Joachim Fildhaut
Höhepunkt des Jahres
Jazzfestival Würzburg: Es ist immer etwas gewagt, ein Programmheft für Konzerte zu schreiben, wenn man deren Künstler lediglich von Videos kennt. Aber für die sechs Bands am letzten Oktoberwochenende hatte ich nicht zu laut getrommelt: eine wunderbar lockere Begegnung von Zukunftsmodellen verschiedener Mischformen zwischen Jazz, an- und unverwandten Genres. Wer sagt, sowas wie Reinrassigkeit wär besser, hat keine Ohren am Kopf.
Kulturbild des Jahres
Entdeckung des Jahres
"Die Anomalie": Hervé le Telliers Roman mit der Zeitschleife überrascht bei jedem Wechsel der Figurenperspektive. Man kann den vielen Personen immer einigermaßen folgen, auch nachdem sie sich infolge besagter Zeitschleife verdoppelt haben. Da der kosmische Zwischenfall auf einem Interkontinentalflug geschieht, spielen nur Leute aus etwas besseren Kreisen mit. An den Rändern bringt le Tellier trotzdem prekäre Verhältnisse unter. Diversität bis zum Ende der Zeit.
Kulturmensch des Jahres
Sandra Müller: 2018 lud sie zum Weihnachtsmarkt in ihr Margetshöchheimer Höfchen. Schon da erstaunte die Qualität der Waren. Sandra Müller hat ihr Häuserensemble zur „Kleinen Industrie“ ausgebaut und ihre Kontakte zu Künstlern gepflegt. Diesen Sommer machte sie Ausstellungen mit einigen der Besten der Region, mit bekannten Profis und frappanten Entdeckungen. Kultur findet nicht nur in arrivierten Einrichtungen statt.
Enttäuschung des Jahres
Zoe Wees: Ein Freund schwärmte per Mail von dem Song „Girls Like Us“. Der entpuppte sich als lästiger Ohrwurm. Soviel zur Enttäuschung. Aber es ging weiter. Ich mailte zurück, aus Treue zu unserer Freundschaft hätte ich dieses arg simple Stück bis zum zweiten Refrain durchgehalten, er möge verzeihen. Tat er nicht, sondern analysierte meine Sound-Kritik, mein Alter, meine Hautfarbe u.a. So bringt ein kleiner Ohrwurm die hässlichsten Einsichten hervor.
Siggi Seuß
Höhepunkt des Jahres
Dass der Intendantenwechsel am Meininger Staatstheater von Ansgar Haag, der sein Amt 16Jahre bekleidete, zu Jens Neundorff von Enzberg trotz der andauernden Notlage so freundlich und öffentlich reibungslos über die Bühne ging. Der Einstand des Neuen als Ermöglicher spektakulärer und sinnlicher Inszenierungen ist gelungen. Hervorragendes Beispiel zum Auftakt: Händels Oper „Amadigi di Gaula“ in Regie und Ausstattung von Hinrich Horstkotte.
Kulturbild des Jahres
Entdeckung des Jahres
Die Wiederentdeckung der Lyrik für Kinder durch einige Buchverlage. Freche, fröhliche und hintersinnige Gedichte, die auf den Spuren von Christian Morgensterns „Großem Lalula“ wandeln. Da möchte man doch zusammen mit seinen Enkelchen sofort losdichten, nach der Lektüre von Chris Owens/Chris Nixons „Pandazamba“ (Carlsen) oder Arne Rautenbergs „Kuddelmuddel Remmidemmi Schnickschnack“ (Peter Hammer Verlag).
Kulturmensch des Jahres
Der eine wohnt in den Bodenkammern von Schloss Maßbach. Es ist der gute Geist des Hauses (egal welchen Geschlechts), der es immer wieder schafft, den Theatermenschen auf ganz verschiedene Weise einzuflüstern, dass es weitergeht, mit Blut, Schweiß, Tränen, Augenzwinkern und einer gehörigen Portion Lust und List. Und das seit nunmehr 75 Jahren. Der andere ist der Fernsehjournalist, Reporter und Autor Georg Stefan Troller, der eben seinen 100. Geburtstag beging und dessen Spezies vom Aussterben bedroht ist.
Enttäuschung des Jahres
Man könnte zwar ständig losseufzen. Aber seltsamerweise gelingt mir das nicht so richtig, weil mir das, was trotz allem an kreativen Ideen und durch gemeinsames Anpacken zutage gefördert wird, zeigt, dass in solchen Zeiten nicht nur rohe Kräfte walten. Fantasie und Improvisation stellen sich immer wieder dem Unvermeidbaren und, vor allem, der menschlichen Dummheit. Und die ist, wie Albert Einstein meint, so unendlich wie das Universum (wobei er sich beim Universum nicht so ganz sicher war).