Eigentlich. Dies ist, wie so viele derzeit, eine Geschichte voller Eigentliche und Abers. Eigentlich wäre Mario Schmitt im Moment mit der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe DAHW in Äthiopien unterwegs. Eigentlich wäre sein Terminkalender bis Jahresende komplett dicht.
Eigentlich hätte er den März 2020 in Indien verbracht. Aber Mario Schmitt blieb zum ersten Mal seit Jahren die Wintermonate über in Würzburg und begleitete nicht mit seiner Kamera eine Non-Profit-Organisation bei ihrer Arbeit in aller Welt. Aber der Fotograf sitzt vor einem nahezu leeren Terminbuch, falls wieder alle Veranstaltungen, für die er 2021 gebucht wurde, abgesagt werden. Aber er reiste vor einem Jahr eilig aus Rajasthan ab, statt noch Urlaub zu machen.
Seit sieben Jahren arbeitet Schmitt als Fotograf. Der Würzburger war Schlagzeuger, hatte viel als Musikjournalist gearbeitet und jettete für den fränkischen Instrumenten-Hersteller Meinl durch die Welt. Bis zu einem Fotoshooting über einen Flamenco-Musiker in Madrid. Für die Session hatte Schmitt extra einen hiesigen Profi-Fotografen gebucht, mit dessen Bildern er allerdings nicht zufrieden war. Kurzerhand fotografierte Schmitt die nächsten Shootings selber – und entdeckte eine Leidenschaft für sich.
Er wollte Menschen fotografieren und ihre Geschichten erzählen. Also machte er sich selbstständig als Reportage- und Porträt-Fotograf. Mario Schmitt bezeichnet sich selbst als Workaholic. Sein Lebensmodell: Von April bis Oktober in Deutschland sein und arbeiten, arbeiten, arbeiten um Geld zu verdienen. Hochzeiten, Events, Kongresse, Firmen, Konzerte. Dann, im Winter, fünf Monate lang für Herzensprojekte unterwegs sein, reisen, in fremde Kulturen eintauchen, Hilfsorganisationen begleiten, nicht nur das Schöne zeigen, sondern kritische Themen sichtbar machen. Etwas zurückgeben eben.
Eigentlich wäre Mario Schmitt auch jetzt als NGO-Fotograf unterwegs, würde die Arbeit der DAHW in Reportagen dokumentieren. Im März vor einem Jahr hatte er in Indien einen Fotoworkshop geleitet. Reisefotografie abseits ausgetrampelter Pfade. Er wollte eigentlich danach selbst noch eine Weile dort unterwegs sein . . .
Aber. Dann kamen die Nachrichten. Die Welt veränderte sich. Schmitt versuchte, ein Ticket für den letzten Flug aus Indien zu bekommen und eilte am Tag nach dem Kurs zum Flughafen in Delhi. "Endzeitstimmung", sagt Schmitt. "Das Militär hatte da schon alle Straßen geräumt."
Als er zurück in Deutschland war, hagelte es Stornierungen. Gebuchte Hochzeiten, Rock im Park, Konzerte, Shootings – von jetzt auf gleich hatte Schmitt bis zum Jahresende keine Aufträge mehr. Ausnahmesituation. Seit einem Jahr nun schon. "Eine schwere Prüfung für jeden von uns", sagt der Würzburger über sich und seine Kollegen, die wie er vom Lockdown auf null gesetzt wurden. "Viele selbstständige Künstler und Unternehmer aus allen Bereichen hat diese Zeit auf eine harte Probe gestellt."
Schmitt versuchte, durchs Jahr zu kommen. Frischte seine Homepage auf, fotografierte Zahnarztpraxen, versuchte die Sparte Businessfotografie auszubauen. Von Mai bis September bekam er Arbeitslosengeld II. Seitdem lebt er vom Ersparten. Weil er im Homeoffice sitzt und keine Betriebskosten angeben kann, erhält er keine Überbrückungshilfe. Weil er – eigentlich – ja im Winter immer durch die Welt reist und in den Monaten keine Einnahmen hat, fällt die November-, Dezember-, Januarhilfe für ihn flach.
"Mich hat als freien Fotografen die Pandemie mit aller Wucht getroffen", sagt der 46-Jährige. Und noch im selben Atemzug: "Aber wir wären keine Künstler, keine Macher, keine unermüdlichen Optimisten, wenn wir nicht versuchen würden, auch diese Krise zu meistern, etwas Sinnvolles damit anzufangen und Hoffnung zu schenken." Als absehbar wurde, dass der Terminkalender 2021 wieder ähnlich großlückenhaft und blank bleibt wie der fürs erste Corona-Jahr, suchte sich Workaholic Schmitt eine Aufgabe.
Anfang Februar startete er auf Facebook einen Aufruf: Ehrenamtliches Fotoprojekt! "Ich porträtiere Künstler und Unternehmer in ihrem gewohnten Arbeitsumfeld, die wie ich von der Pandemie betroffenen sind. Ich gebe den Menschen eine Stimme und die Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen. Wer Lust hat, bei diesem Projekt teilzunehmen, kann sich gerne melden."
Mit einer Handvoll Bekannten fing Mario Schmitt an, 20 Shootings wollte er machen. Keine drei Wochen später hat er Dutzende Selbstständige von Wertheim bis Aub fotografiert. Täglich fünf, sechs Termine in kleinen Betrieben, Cafés, Studios, Kneipen. Und bis Mitte März geht es so weiter. Mit seiner Fotostrecke will Mario Schmitt, die Menschen in Würzburg "motivieren durchzuhalten". Und er will "gleichzeitig ein dokumentarisches Zeitzeugnis entstehen lassen, das uns auch nach dieser außergewöhnlichen Phase immer daran erinnern lässt, in schwierigen Zeiten zusammenzuhalten".
Vor allem aber will der Fotograf, der mit der Kamera gerne den Stimmungen und der Seele der Porträtierten nachspürt, Betroffenen der Pandemie eine Stimme geben. Deshalb gibt es zu den drei ausgewählten Bildern jedes Protagonisten im Blog eine Tonspur. "Die Leute sollen berichten können, wie es ihnen geht."
Mario Schmitt ist überwältigt von der Resonanz. Überwältigt und berührt von den Geschichten, die er hört und erfährt. Die Perspektivlosigkeit, die Hilflosigkeit. Die Ungewissheit, ob und wie es weitergeht. "Da sind Existenzen in Gefahr!" Er selbst sei einfach nur froh, endlich wieder eine Aufgabe zu haben. "Ich lebe halt für die Fotografie." Inzwischen gibt es die Idee: "Das könnte ein schöner Bildband werden."
Ohne "eigentlich" und "aber".
Das Fotoprojekt online: www.marioschmitt.com/fotoprojekt-zur-coronavirus-pandemie-wuerzburg/
Toll, dass Du dieses Projekt angehst. Wir wünschen Dir viel Erfolg und alles Gute. "Gut Licht" für Deine anspruchsvollen Bilder. Herzlichen Gruß W. und B. Hartmann