
Man solle sich "zuerst in einen akustisch jungfräulichen Zustand" versetzen, empfiehlt Gastdirigent Attilio Cremonesi vor der Premiere von Händels selten gespielter Barockoper "Amadigi di Gaula" am Staatstheater Meiningen. Nicht nur akustisch, möchte man anfügen, sondern auch gedanklich sollte man staunen wie ein unschuldiges Geschöpf. Und siehe da: Der Himmel tut sich auf in Händels magischer Welt, in der Dämonen und Furien ihren Schabernack treiben.
Das Meininger Theater, das 500 Menschen in den Saal lässt, derzeit noch mit Maske, erlebt seine erste Sternstunde in der Ära des neuen Intendanten Jens Neundorff von Enzberg. Es geht in dem 300 Jahre alten Werk um Magie, um Begehren und Begierde, um Eifersucht, Rache und um den ewigen Traum von der Unsterblichkeit der Liebe. Die Zauberin Melissa hält in ihrem Reich die Ritter Amadigi und Dardano und die liebliche Oriana gefangen. Amadigi und Dardano lieben Oriana. Oriana liebt Amadigi und missachtet Dardano. Melissa begehrt vergebens Amadigi.
Kleine ironische Brechungen schaffen Verbindung zur Realität
Regisseur Hinrich Horstkotte ist ein Gesamtkunstwerker unter den Theatermachern. Er entwarf auch das Bühnenbild und die opulenten Kostüme aus der Zeit. In Ausstattung und Handlung braucht er keine modernisierende Gebaren, um die Zeitlosigkeit großer Gefühle in Szene zu setzen und Bezüge zur Wirklichkeit herzustellen. Dazu reicht, zum Beispiel, eine perspektivische Öffnung der Kulisse am Ende, hin ins Dunkel der rohen Hinterbühne. Kleine ironische Brechungen wecken reale Assoziationen, etwa das arg schwankende Segelschiff am Horizont oder die konsternierten Gesichter der Liebenden nach der Befreiung, im Sinne von "Was geschieht da jetzt wohl mit uns?"

Horstkotte lässt mitten auf die große Bühne ein kleines barockes Theater bauen und setzt mit wohldosiertem Augenzwinkern und mit Hilfe der nimmermüden Statisterie, den Deus ex Machina der Barockoper in Bewegung, den Gott aus der Theatermaschine. Es züngeln die papierenen Höllenflammen, es stürzen die Felsen aus Pappe, es senkt sich der Hölle Rachen als Monstermaul über die Gequälten. Mir nichts, dir nichts fährt der Held aus dem Untergrund auf die Bühne.
Wenn sich Illusionstheater als märchenhaft wahre Bilderzählung aufs feinste mit den Stimmen und der Musik aus dem erhobenen Orchestergraben – die Meininger Hofkapelle in kleiner Besetzung – verbindet, dann gibt es nichts zu mäkeln. Countertenor Rafal Tomkiewicz (Amadigi), die Sopranistinnen Monika Reinhard (Melissa) und Sara-Maria Saalmann (Oriana) und die Mezzosopranistin Almerija Delic (Dardano, alternierend mit dem Countertenor Meili Li) sind nicht nur eine Augenweide. Sie füllen mit ihrer differenzierten, feinfühligen Dynamik und mit glaubwürdiger Gestik und Mimik ihre Figuren so, dass die Arien die Seele berühren – von der stillen Trauer bis zu Orianas leidenschaftlichem Flehen "Freude, komm in mein Herz".
Selten spürt man im Publikum so etwas wie kollektive Erregung. Hier schon.
Nächste Vorstellungen: 24. September, 9. Oktober jeweils 19.30 Uhr, 3. Oktober 18 Uhr. Kartentelefon (03693) 451222. www.staatstheater-meiningen.de