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Burgsinn
Dem Burgsinner Josef Muthig wurden beide Beine amputiert - aber er will wieder jagen gehen
Vor einem Jahr verlor er beide Beine, jetzt geht Josef Muthig wieder. Wie dem Metzger seine Motivation und extra ausgetüftelte Prothesen halfen - und die Menschen um ihn herum.
Josef Muthig aus Burgsinn (Lkr. Main-Spessart) hat nach schwerer Krankheit beide Beine verloren, kann aber mit Gehhilfe wieder laufen. Hier steht er im Hinterhof der Metzgerei Muthig, die er 1979 vom Vater übernahm und 2017 an den eigenen Sohn übergab.
Foto: Johannes Kiefer | Josef Muthig aus Burgsinn (Lkr. Main-Spessart) hat nach schwerer Krankheit beide Beine verloren, kann aber mit Gehhilfe wieder laufen.
Anna Kirschner
 |  aktualisiert: 08.02.2024 16:18 Uhr

Wer Josef Muthig zuhause besucht, sieht zuerst den neuen Treppenlift und dahinter Geweihe von Rothirschen, die er selbst in Polen und im Spessart erlegt hat. Einen Treppenabsatz weiter stehen ein Murmeltier aus Österreich und ein Marder und ein kleines Wildschwein aus heimischen Wäldern. Lift und Jagdtrophäen, ein Sinnbild für Josef Muthigs Situation. Der Metzgermeister aus Burgsinn im Landkreis Main-Spessart will wieder jagen gehen. Ein großes Ziel für einen Mann, dem beide Beine an den Oberschenkeln amputiert wurden.

Aber ein Ziel, das der 71-Jährige mit der Hilfe von Jagdfreunden und von Michael Klopf erreichen könnte. Klopf ist Orthopädiemechanikermeister und half Muthig nach der Amputation im April 2022 auf die neuen Prothesenbeine. Mit Gehbock kann der Burgsinner inzwischen wieder gehen, vorsichtig, Schritt für Schritt. Doch bis ihn sein starker Wille und die Helfer soweit brachten, erlebte er eine Tortur.

Arterienverkalkung und Durchblutungsstörung: Offene Beine führten zur Amputation

Muthig sitzt an seinem Küchentisch und erzählt: Dass er das hatte, was man umgangssprachlich "offene Beine" nennt, schlecht heilende Wunden an den Unterschenkeln. Grund: die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), eine Durchblutungsstörung durch Arterienverkalkung. Die habe erst das linke, dann auch das rechte Bein betroffen, schildert der 71-Jährige: "Von Arzt zu Arzt, von Krankenhaus zu Krankenhaus, es hat nichts mehr geholfen."

Josef Muthig aus Burgsinn auf dem Weg zum umgebauten Auto, mit dem er allein fahren kann.
Foto: Johannes Kiefer | Josef Muthig aus Burgsinn auf dem Weg zum umgebauten Auto, mit dem er allein fahren kann.

Irgendwann habe er sich einen Krankenhauskeim geholt, kein Antibiotikum wirkte. "Es wurde immer schlechter." Starke Schmerzen, Blutvergiftung, Nierenversagen – ein Rettungswagen habe ihn schließlich erneut in die Klinik gebracht, erzählt Muthig. Wenige Tage später habe ihn der Arzt von der Amputation überzeugt: "Wenn Sie nicht zustimmen, werden Sie sterben."

Amputation beider Beine: Entscheidung fürs Leben

Er habe nicht lange gezögert, schildert der 71-Jährige ein knappes Jahr später: "Ich habe gesagt, Herr Doktor, ich habe eine Frau, zwei Kinder und drei Enkel. Ich möchte leben." Als er ein paar Stunden später nach der OP wieder aufwachte, seien die Schmerzen weg gewesen. "Und mir war klar, ich muss jetzt aus meinem Leben wieder was machen."

"Dann habe ich gesagt, Herr Doktor, ich habe eine Frau, zwei Kinder und drei Enkel. Ich möchte leben."
Josef Muthig über die Entscheidung zur Amputation

Auf vier Wochen Krankenhaus folgten drei Wochen im Pflegeheim, weil kein Reha-Platz frei war. Dann fünf Wochen Reha - unter widrigen Umständen. Zuerst sei er noch fröhlich gewesen, berichtet der Metzgermeister. "Sie sind zu bewundern", hätten andere Patienten in der Reha zu ihm gesagt. "Die konnten das gar nicht verstehen, wie ich mit meiner Behinderung jetzt noch so gut drauf bin. Aber es nutzt doch nix", sagt Muthig. 

Doch Zimmer und Bad in der Reha hätten nicht einmal rollstuhlgerechte Maße gehabt, berichtet Muthig empört: "Ein Vierteljahr musste ich auf die Bettschüssel." Ihm sei angekündigt worden, dass er in der Reha lerne, wie er selbst auf die Toilette gehen und duschen kann. "Nichts war", bilanziert Muthig. "Die hatten keine Zeit."

Gelieferte Prothesen "so lang wie Stelzen"

Endlich wieder zuhause, erhielt er von einer Orthopädiefirma Prothesen. Auf deren Finanzierung hat jeder Krankenversicherte Anspruch, dem Gliedmaßen amputiert wurden. "Die Prothesen waren aber so lang wie Stelzen", berichtet der Burgsinner. Der Mann, der die Prothesen lieferte, habe ihm  geraten, lieber Geld in einen guten Rollstuhl zu investieren: "Das war für mich ein Schlag ins Gesicht."

Michael Klopf, Orthopädiemechanikermeister aus Waldbüttelbrunn, ist zwar schon in Rente, tüftelt aber immer noch gerne an Lösungen.
Foto: Johannes Kiefer | Michael Klopf, Orthopädiemechanikermeister aus Waldbüttelbrunn, ist zwar schon in Rente, tüftelt aber immer noch gerne an Lösungen.

An diesem kritischen Punkt kam Orthopädiemechanikermeister Michael Klopf aus Waldbüttelbrunn (Lkr. Würzburg) ins Spiel. Über einen Jagdkollegen Muthigs war der Kontakt entstanden. Klopf, eigentlich schon in Rente, habe ihn wieder auf die Beine gebracht, sagt Muthig: "Das ist wie ein kleines Wunder! Dem habe ich so viel Lebensqualität zu verdanken, das kann man gar nicht eigentlich sagen."

"Ein Doppeltamputierter ist mit der Konfektion nicht zu versorgen. Das ist mir erst mit dieser Versorgung klar geworden."
Michael Klopf, 64, Orthopädiemechanikermeister

Klopf und Muthig gingen so etwas wie eine Tüftelgemeinschaft ein. Hier der motivierte Patient, dort der Mechaniker mit Ideen für neue Gelenke. Denn statt wackelig auf Prothesen wie Stelzen zu stehen, habe der Burgsinner ein kompakteres Modell gebraucht, schildert Klopf. Das biete der Markt aber gar nicht: "Ein Doppeltamputierter ist mit der Konfektion nicht zu versorgen. Das ist mir erst mit dieser Versorgung klar geworden." Durch die ausgetüftelten Prothesen von Klopf ist Muthig zwar nicht mehr so groß wie früher. Doch die fehlenden 20 Zentimeter nimmt er mit Humor: "In Burgsinn gibt es Männer, die waren schon immer kleiner als ihre Frauen."

Durch einen fest an der Haut haftenden Gummischlauch mit Gewinde wird die neuartige Prothese am Beinstumpf befestigt. Das Kniegelenk ist viel kompakter als bei herkömmlichen Modellen und lässt sich bei Bedarf lösen. Im 'Knöchel' gibt es einen Dämpfer, der verhindert, dass sich die Position des Fußes beim Abheben zu schnell verändert.
Foto: Johannes Kiefer | Durch einen fest an der Haut haftenden Gummischlauch mit Gewinde wird die neuartige Prothese am Beinstumpf befestigt. Das Kniegelenk ist viel kompakter als bei herkömmlichen Modellen und lässt sich bei Bedarf lösen.

Die Modelle am Markt seien Stecksysteme, erklärt der Orthopädiemechaniker. Aber stecke man alle benötigten Teile zusammen, seien die Beine für Doppelamputierte zu lang, um hoch zu kommen, also den Körperschwerpunkt in der Hüfte über die Prothesen zu heben. Mit den kürzeren Modellen sei es leichter. Und statt sich mühsam aus dem Sitz nach oben zu ziehen, könne man sich auf die kurzen Beine vom Stuhl oder Bett herabgleiten lassen. "Funktionelle Höhe", nennt Klopf das.

Kniegelenk bei den neuen Prothesen nur beim Gehen steif

Klopfs neu entwickeltes Kniegelenk, das beim Gehen steif bleibt, lässt sich lösen. Dann baumelt die untere Hälfte der Metallbeine im Sitzen herunter. So komme man mit Prothesen im Treppenlift voran, sagt der Techniker. Mit den längeren Modellen würde Muthig an der Wand hängen bleiben. Die Beine im Auto hinters Lenkrad zu bringen sei ebenfalls nur mit umgeklappten Prothesen möglich.

Das Haus von Josef Muthig ist mit einem Treppenlift ausgestattet. Mit langen Prothesen käme er nicht durchs Treppenhaus.
Foto: Johannes Kiefer | Das Haus von Josef Muthig ist mit einem Treppenlift ausgestattet. Mit langen Prothesen käme er nicht durchs Treppenhaus.

Josef Muthig demonstriert das stolz, fährt alleine im Treppenhaus nach unten und geht zum Auto. Dabei müsse er "voll konzentriert sein", sagt der Hobbyjäger, "umfallen geht nicht", denn aufstehen könnte er nicht mehr. Ins umgebaute Automatikauto einzusteigen ist eine Herausforderung: Schließlich muss er dabei gleichzeitig den Kopf einziehen und sich mit steifen Kniegelenken hineinsetzen. Sobald Muthig sitzt, kann er das Kniegelenk wieder lösen, die Prothesen unter das Lenkrad schwenken – und losfahren.

Als Muthig im Hof der Autowerkstatt das erst mal im Hof gefahren sei – "das war wie ein Wunder", berichtet Klopf. Und als der Burgsinner die ersten Male durch den Ort fuhr, hätten ihm die Leute nachgeschaut, weil sie es nicht fassen konnten: "Ich war ja schon totgesagt hier im Ort." Zweimal sogar. Der Josef ist gestorben, habe es geheißen. Aber, sagt der Metzger, "mich bringt so schnell keiner kaputt". Nicht der bösartige Tumor in der Lunge, den er vor einigen Jahren hatte und der  operativ entfernt wurde. Nicht die Amputation.

Mit den neu entworfenen und individuell gefertigten Prothesen für Muthig habe er das gängige Prothesensystem hinter sich gelassen, sagt Orthopädiemechaniker Klopf. Die ersten Prothesen, mit der sich Muthig wie auf Stelzen fühlte, würden bei der Krankenkasse für ungefähr 10.000 Euro pro Bein abgerechnet, sagt Klopf. Die seien aber ohnehin nur für das erste halbe Jahr gedacht. Danach würden Doppelamputierten häufig elektronische Prothesen für 50.000 bis 60.000 Euro pro Bein angeboten. Aber auch zu lang und ebenso wenig nützlich, meint Klopf, Muthig hätte "hundertprozentig" damit nicht laufen können. 

Günstiger als elektronische Prothesen

Wenn er die Neuerfindung aus seiner heimischen Werkstatt in Waldbüttelbrunn häufiger herstellen würde, lägen die Produktionskosten bei 20.000 Euro für beide Beine, schätzt Klopf. Zur Kostenübernahme "müssen wir mit den Kassen nochmal ins Gespräch gehen", sagt der 64-Jährige. "Wir sind letztendlich mit einem nicht zugelassenen Bauteil unterwegs. Aber was nützt ihm zugelassen und er kann nicht laufen?"

Mit der rechten Hand bremst und beschleunigt Muthig nun mit einem Hebel. Mit der linken Hand lenkt er über einen Steuerknüppel am Lenkrad und bedient damit auch Licht und Scheibenwischer. Mit wenigen Handgriffen lässt sich der Aufbau für andere Fahrer entfernen.
Foto: Johannes Kiefer | Mit der rechten Hand bremst und beschleunigt Muthig nun mit einem Hebel. Mit der linken Hand lenkt er über einen Steuerknüppel am Lenkrad und bedient damit auch Licht und Scheibenwischer.

Gefertigt wurden die schwerpunktgesteuerten, innovativen Prothesen nach Klopfs Ideen im Caritas-Don Bosco-Bildungszentrum in Würzburg. Das Bildungszentrum unterstützt junge Menschen mit besonderem Förderbedarf bei der beruflichen Aus- und Weiterbildung. "Das ist richtig gute Arbeit", sagt der Orthopädiemechanikermeister. Gut ausgebildetes Personal, hochwertige Maschinen, anders könne man die Teile gar nicht herstellen: "Da ist sehr viel Präzision erforderlich." Außerdem würden die Teilnehmenden im Berufsbildungswerk eigene Ideen einbringen. "Die sagen: Warum machst du das so umständlich? Weil ich es nicht anders kann! Dann kam von denen ein Vorschlag." 

Nächsten Gelenke sind schon in Arbeit

Aktuell würden bei Don Bosco schon die nächsten Gelenke gefräst. Josef Muthig will wissen, ob er auch mit beweglichen Kniegelenken laufen und dann wieder Treppen steigen kann. "Ich will es auch wissen. Man findet auch nicht jeden Tag einen, der so willig ist", sagt Klopf mit fachlicher Faszination für den Fall. Die beiden dutzen sich längst. Wer einem anderen Prothesen an die Beinstümpfe legt, mit ihm das Laufen übt, die ganze Geschichte hört und unterstützt, kommt ihm auch menschlich nahe.

Josef Muthig macht sich auf dem Bett bereit, die Prothesen anzulegen. Dabei hilft ihm Michael Klopf.
Foto: Johannes Kiefer | Josef Muthig macht sich auf dem Bett bereit, die Prothesen anzulegen. Dabei hilft ihm Michael Klopf.

Das Umfeld aber spiele auch eine wichtige Rolle, betont Klopf immer wieder. Ohne den Lift, der ins großzügige Treppenhaus passt, oder die Ehefrau, die immer in der Nähe ist, wäre es für Josef Muthig schwieriger gewesen, auf die Beine zu kommen. Ohne das Geld, das die Muthigs in Treppenlift und Autoumbau investieren konnten. Und ohne die Jagdfreunde, die den 71-Jährigen schon im November 2022 wieder zur Drückjagd mitnehmen wollten und schon alles vorbereitet hatten. 

"Im Mai, wenn die Rehböcke dran sind, dann möchte ich schon mitmischen. Da möchte ich nicht alles meinen Kollegen überlassen."
Josef Muthig, 71, Jäger mit zwei Beinprothesen

"Das war aufbauend", sagt Muthig, aber noch etwas zu früh. "Aber im Mai, wenn die Rehböcke dran sind, dann möchte ich schon mitmischen. Da möchte ich nicht alles meinen Kollegen überlassen." Jagdkollegen würden ihm einen ebenerdigen Sitz anlegen. "An vielen Stellen kann ich das Auto abstellen, und kann mit dem Gehbock oder irgendwann mit Krücken dahin laufen", ist Muthigs Plan. 

Keine Phantomschmerzen gehabt

"Wenn die Kollegen für ihn eine Position ausmachen, wo er schießen kann, und er ist dort, beobachtet, schießt vielleicht nichts, hat aber die Motivation, am nächsten Tag wieder hinzugehen – dann haben wir gewonnen", sagt Klopf. Im Wald sitzen kann der Burgsinner auf jeden Fall stundenlang, die Prothese drückt nicht. Phantomschmerzen habe er auch nie, sagt der 71-Jährige. Nur manchmal, wenn er Fußball schaue, zuckten die Beine reflexartig mit.

Mittlerweile schaut Klopf nicht mehr täglich in Burgsinn vorbei, um Laufen zu üben. "Ein guter Helfer hat sich irgendwann zu verabschieden." Josef Muthig trainiert alleine weiter. Schließlich hat er noch große Ziele und trägt den Mut bereits im Namen: "Ich hab mich bei den Paralympics schon angemeldet – aber eins nach dem anderen."

 
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    Soviel Lebensmut wie Herr Muthig in seiner Situation aufbringt, ist schon beeindruckend. Dann zeigt sich auch, was für ein gutes Umfeld wie Familie, Bekannte u. Freunde man hat. Bleibt zu hoffen, dass die Neuerfindung von Herr Klopf Früchte trägt. Alles Gute für den weiteren Verlauf.
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