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Lülsfeld
Suizid im Umfeld der Lülsfelder Gemeinschaft Go&Change: Warum wollte Sophie nicht mehr leben?
Eine neugierige junge Frau auf der Suche nach Orientierung zieht ins frühere Kloster "Maria Schnee". Sechs Monate später ist sie tot. Lesen Sie jetzt Teil 1 der Geschichte.
Der Auftakt der dreiteiligen Recherche zu 'Go&Change': Eine junge Frau nahm sich nach wenigen Monaten im Kloster Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt) das Leben. Die 32-Jährige war im Februar 2022 in die Gemeinschaft gezogen.
Foto: Ivana Biscan | Der Auftakt der dreiteiligen Recherche zu "Go&Change": Eine junge Frau nahm sich nach wenigen Monaten im Kloster Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt) das Leben. Die 32-Jährige war im Februar 2022 in die Gemeinschaft gezogen.
Benjamin Stahl
 und  Christine Jeske
 |  aktualisiert: 03.08.2023 03:08 Uhr

Wäre Sophie nicht in dieses ehemalige Kloster gezogen, hätte sie sich nicht "Go&Change" angeschlossen, dieser Gemeinschaft, die die alten Gemäuer in Lülsfeld im Landkreis Schweinfurt bewohnt – sie würde noch leben. Davon ist Sophies Mutter überzeugt.

Die Redaktion hat unter anderem mit Sophies Mutter gesprochen, mit medizinischen und weltanschaulichen Experten. Aussteigerinnen und Aussteiger haben ihr gegenüber vom Leben im "Kloster" berichtet. Die Redaktion hat Nachrichten und Sprachmemos von Sophies Smartphone ausgewertet. Und sie hat "Go&Change" mit den Vorwürfen konfrontiert. Aus all diesen Gesprächen und Informationen soll hier die Geschichte von Sophie rekonstruiert werden.

Aufgeteilt wird die Suche nach dem Warum in drei Teile. Teil 1 handelt von der Vorgeschichte und Sophies Einstieg bei "Go&Change". Was für ein Mensch war Sophie? Wie kam sie ins "Kloster" und welche Veränderungen nahmen ihre Nächsten an ihr wahr?

Bevor die eigentliche Geschichte von Sophie beginnt, noch eine wichtige Anmerkung:

In der Regel berichtet diese Redaktion nicht über Selbsttötungen, außer die Umstände erlangen besondere Bedeutung in der Öffentlichkeit. Wenn Sie Gedanken quälen, sich selbst das Leben zu nehmen, dann kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.

Die quälende Frage nach dem Warum

Seit Jahren dringen schockierende Nachrichten aus dem "Kloster" an die Öffentlichkeit. "Go&Change" bestreitet die Vorwürfe. Aussteigerinnen und Aussteiger berichten der Redaktion aber immer wieder von Psychodruck. Und von einem System der Angst, etwas falsch zu machen, rausgeworfen zu werden. Vom Verlust der eigenen Persönlichkeit. Von sexualisierter Gewalt und Drogenpartys. Ein Fall von Kindesmissbrauch ist inzwischen juristisch belegt. Nun kommt ein Suizid im Umfeld von "Go&Change" hinzu. Man sei "tieftraurig" über den Tod von Sophie, teilt die Gemeinschaft auf Anfrage mit. Doch Fragen dazu beantwortet "Go&Change" nicht.

Die Redaktion trifft sich mit Sophies Mutter, 66, an einem Ort weit weg von Lülsfeld. Auch Sophies Tante ist dabei, die ein enges Verhältnis zu der jungen Frau hatte. Ihre persönlichen Erinnerungen wollen Mutter und Tante nicht am Telefon erzählen. Auch nicht in der Nähe des Ortes, an dem sich Sophie im August 2022 das Leben nahm. Kurz vor ihrem 33. Geburtstag. Sechs Monate, nachdem sie bei "Go&Change" eingezogen war.

Aber sie wollen reden. Verstehen. Informieren. Warnen. Die intensive Begegnung dauert fast den ganzen Tag. Es geht um Verlust, um Trauer. Und um das Entsetzen über die Machenschaften im "Kloster", an dessen Spitze ein – so beschreiben ihn Aussteiger – "charismatischer Machtmensch" steht. Einer, von dem sie sich "sofort erkannt" gefühlt hätten und der sie innerlich berührt haben soll: Kai K.

Seit 2017 bewohnt die Gemeinschaft 'Go&Change' das ehemalige Kloster 'Maria Schnee' in Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt).
Foto: Johannes Kiefer | Seit 2017 bewohnt die Gemeinschaft "Go&Change" das ehemalige Kloster "Maria Schnee" in Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt).

Erzählt die Mutter von Sophie, schwärmt sie, lächelt – mit glitzernden Augen. Hält zwischendurch inne. Kämpft mit den Tränen. Wenn ein Mensch Suizid begeht, steht für Angehörige die Frage nach dem Warum im Raum. Tiefschwarz. Bleischwer. Riesengroß. Bei Tag, in der Nacht.

Warum? Die Frage quält. Lässt fassungslos und verzweifelt zurück. Sophies Mutter hat zum Gespräch viele Fotos mitgebracht. Sie zeigen eine großgewachsene attraktive junge Frau. Meist lacht sie auf diesen Bildern. Schaut selbstbewusst in die Kamera. "Sophie hat sich sehr verändert, als sie nach Lülsfeld ging", sagt ihre Mutter und ringt um Fassung.

21. Februar 2022. Der Einzug bei "Go&Change" - für die Mutter ist er der Beginn des schnellen und tragischen Endes ihrer Tochter. Es gibt die schönen Erinnerungen an Sophie. Vor "Go&Change". Und es gibt den "Horror" und "manipulative Einflüsse", wie die Mutter sagt, als Sophie nach Lülsfeld ging. Text- und Sprachnachrichten auf Sophies Handy, das die Mutter nach ihrem Tod erhält, wirken wie ein digitales Tagebuch. Sie dokumentieren zumindest einen Teil der Ereignisse und offenbaren den Druck, unter dem die 32-Jährige sehr schnell gestanden haben muss.

Sophie, die Einser-Abiturientin, studierte Islamwissenschaften mit Stipendium, wurde Kulturwissenschaftlerin. Arbeitete als freie Journalistin in Berlin und begann eine Ausbildung als Ergotherapeutin. Sophie, erzählt ihre Mutter, sei ein naturverbundener, dem Leben zugewandter Mensch gewesen. Eine Suchende. Neugierig. Tiefgründig. Eine, die ständig neue Sachen ausprobierte, aufgeschlossen für alternative Lebensentwürfe. Bevor sie sich "Go&Change" anschloss, lebte sie im "Zegg", dem "Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung", einer anderen alternativen Gemeinschaft in Bad Belzig, südwestlich von Berlin.

"Schließlich wurde sie eiskalt rausgeworfen."
Sophies Mutter über den Umgang von "Go&Change" mit ihrer Tochter

Für kurze Zeit sei Sophie überzeugt gewesen, im ehemaligen Kloster "Maria Schnee" in Lülsfeld an ihrem Sehnsuchtsort angekommen zu sein, ihre große Liebe getroffen zu haben, sagt ihre Mutter. Sophie, sagt die Mutter, habe "Go&Change" ein "Zentrum für Friedensforschung" genannt. Und die Gemeinschaft, in der sie seit 2019 immer wieder Gast gewesen war, als ihre "neue Familie" bezeichnet. Mehrfach aber sei ihre Tochter dort rüde zurückgewiesen worden:  "Schließlich wurde sie eiskalt rausgeworfen."

Ob diese Schilderung zutrifft, wie oft und warum Sophie das "Kloster" verlassen musste – dazu äußert sich "Go&Change" auf Anfrage nicht.

Rapide Veränderungen im Charakter und Weltbild

Schon bald nach ihrem Umzug nach Lülsfeld habe sie an ihrer Tochter deutliche Wesensveränderungen bemerkt, sagt die 66-Jährige. "Sie sprach anders, wollte mir nichts mehr über ihre Zeit im 'Kloster' erzählen." Immer wieder habe Sophie den Kontakt abgebrochen, sich dann doch wieder gemeldet. "On – Off – On – Off, das zerrt an den Nerven", beschreibt Sophies Mutter ihre Gefühle. "Du warst durch ihr Verhalten verletzt", sagt Sophies Tante.

Auch das Männerbild von Sophie, erinnert sich die Mutter, verändert sich mit dem Einzug in Lülsfeld radikal. Sie, die Emanzipierte, die Feministin, sieht Männer plötzlich als Opfer, die von Frauen unterdrückt werden.

All das erinnert an frühere Schilderungen von Aussteigerinnen und Aussteigern: Sie berichten von eingefordertem Kontaktabbruch zur Familie, Trennung von Partnern und von Frauenfeindlichkeit. Davon, dass Mitglieder von der Gemeinschaft zeitweise verstoßen, in Wohngemeinschaften außerhalb des "Klosters" geschickt und – bei entsprechendem Verhalten – nach einer Weile zurückgeholt werden.

Der Weltanschauungsbeauftragte im Bistum Würzburg, Dr. Jürgen Lohmayer, kennt solche Schilderungen. Er beschäftigt sich seit 2019 mit "Go&Change" und steht mit Betroffenen in Kontakt, die den Ausstieg geschafft haben – und mit Angehörigen von Menschen, die im "Kloster" leben.

Dr. Jürgen Lohmayer, Weltanschauungsbeauftragter der Diözese Würzburg.
Foto: Thomas Obermeier | Dr. Jürgen Lohmayer, Weltanschauungsbeauftragter der Diözese Würzburg.

"Seit Jahren höre ich immer wieder von Kontaktabbrüchen und Rausschmissen, von Vorwürfen und Schuldzuweisungen, die sich häufig gegen die Mütter richten", sagt Lohmayer. Das, was ihm berichtet wird, bezeichnet er als Leben im emotionalen Ausnahmezustand. Dem Theologen zufolge arbeitet "Go&Change" mit sogenannten Schattenprozessen, mit Sexualpraktiken, die Kontext genannt werden, oder mit Rausschmissen und der Ungewissheit, ob man wieder zurückdarf – "das sind alles hoch aufgeladene Situationen".

Doch der Mensch sei dafür nicht geschaffen. Irgendwann komme die psychische Erschöpfung, irgendwann die körperliche. Und, sagt Lohmayer: "Der Bestimmungsmacht über die Sexualität des Einzelnen, dem Eingehen neuer sexueller Beziehungen und Praktiken scheint bei 'Go&Change' eine umfassende Rolle zuzukommen." Wer über diese Macht verfüge, dem stehe "ein effizientes Herrschaftsinstrument" zur Verfügung.

Die Redaktion hat "Go&Change" erneut mit all diesen Vorwürfen konfrontiert. Doch auch auf Fragen dazu geht man in einer Antwort-E-Mail nicht ein.

Der zweite Teil handelt von den psychologischen Abhängigkeiten und vorgeblich therapeutischen Ansätzen innerhalb von "Go&Change":

Im abschließenden dritten Teil der Reihe lesen Sie jetzt, wie es Sophie nach dem Aufenthalt in Lohr ging und wie ihre Mutter und Tante vergeblich versuchten, sie von einer Rückkehr ins "Kloster" abzuhalten:

 
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  • M. S.
    Könnte es sein, dass neue angemeldete Mitglieder von Go & Change hier mitschreiben?
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  • P. E.
    Ich verstehe den Bericht nicht wirklich.

    Ich bin jemand, der von Grund auf misstrauisch gegenüber Sekten ist. Ich würde es auch vermeiden mit Menschen, die einer solchen angehören überhaupt zu diskutieren. Meiner Meinung nach leben diese in ihrer Welt und sind nicht zugänglich für logisch aufgebaute Argumente, sondern versuchen nur dich in ihre Welt zu ziehen.

    Sophie wurde von der Sekte ausgestoßen. Man wollte sie nicht mehr dabei haben.

    Sie hatte schon zwei Suizidversuche, wurde aber von den anerkannten Fachärzten wohl als nicht mehr suizidgefährdet eingestuft.
    Liegt hier nicht eher die Schuld bei genau diesen Fachärzten als bei der Sekte, die sie seit Monaten nicht mehr dabei haben wollten? Egal welche "Gehirnwäsche" ihr widerfahren ist.
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  • R. E.
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  • P. K.
    Ich wünsche mir einen Staat der solche Sekten wie Go&Change ganz einfach verbietet. Auch solche die Exorzismuskurse anbieten.
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  • G. L.
    Exorzismen (Teufels- oder Dämonenaustreibung) werden auch heute noch von der katholischen Kirche vollzogen, nicht nur von Sekten.

    Ziemlich interessant:
    https://www.arte.tv/de/articles/tracks-exorzismus
    https://taz.de/Exorzismus-Doku-im-WDR/!5122259/
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  • M. E.
    Auch verbieten! Wer ist die Kirche??
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  • P. K.
    Das weiss ich.
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  • A. F.
    Im Grunde genommen bin ich bei Ihnen, was ein Verbot solcher Gruppierungen angeht.

    Das Problem ist nur, dass viele solcher Gruppierungen sich auf Art. 4 GG beziehen, welches die Religionsfreiheit regelt und da sin ziemlich (sehr) hohe Hürden gesetzt, soll heißen, die haben eigentlich Narrenfreiheit.

    Ich erlebe dies schon seit Jahrzehnten im Umgang mit der totalitären und menschenverachtenden $cientology-Organisation, dieser ist ganz schwer beizukommen.

    Das A und O im Umgang mit solchen Gruppierungen ist die Aufklärungsarbeit, und da macht die Main-Post qualitativ einen guten Job, auch wenn sie quantitativ nachlegen könnte.
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  • M. F.
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    In diesem Artikel wird 11x vom Kloster gesprochen. Gleich zu Beginn: "Eine junge Frau nahm sich nach wenigen Monaten im Kloster Lülsfeld (Lkr. Schweinfurt) das Leben". Auch für die Mainpost sollte es doch nach so langer Zeit endlich einmal möglich sein, bei einem Artikel über Go und Change nicht mehr Kloster zu erwähnen.
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  • M. M.
    Es ist in dem Artikel mehrmals und unübersehbar der Hinweis zu lesen, dass es sich um ein "früheres/ehemaliges Kloster" handelt - was schließlich völlig korrekt ist.
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    "In der Regel berichtet diese Redaktion nicht über Selbsttötungen" - außer, Sie können solch eine traurige Geschichte über drei Folgen hinweg sensationsheischend auswalzen und die "besondere Bedeutung" in der Öffentlichkeit gleich selbst herstellen. Ein (!) sachlicher Artikel hätte genügt. Der sich im Übrigen auch mit dem keineswegs unumstrittenen "Zegg" hätte befassen sollen.
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    Sie sind nicht gezwungen den Bericht zu lesen!
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  • H. B.
    Als Abonnent muß ich aber diesen
    " Qualitätsjurnalismus" teuer bezahlen!
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  • C. J.
    Auf eigenen Wunsch hin entfernt.
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