Ein Wintervormittag in Würzburg, es hat minus zwei Grad. Wer vor die Tür muss, packt sich warm ein. Die Kälte kriecht durch jede Spalte, die Fenster der Cafés sind dicht beschlagen. Im Büro der Fahrradkuriere von "radius" in der Eichhornstraße wird die Türe mit festem Griff zugedrückt.
"Heute hab' ich doch mal die Handschuhe angezogen", sagt Sven Sittler und grinst unter seiner wild gemusterten Radkappe hervor. Der 34-Jährige kommt gerade von einem fünfstündigen Kurierdienst auf dem Rad zurück. Das alleine wäre eine Erwähnung wert. Doch der gebürtige Schweinfurter tritt nicht mit Füßen in die Pedale. Sven Sittler trägt zwei Beinprothesen. Und die baut er sich selbst.
Ein Gespräch über Behinderung - und die Freiheit auf dem Rad.
Sven Sittler: Bisschen kalt am Kopf. Aber sonst geht's (grinst).
Sittler: Häufig sind es wichtige Dokumente, die man nicht per Fax schicken kann. Dazu Laborproben, Blumen oder Essen. Und Größeres mit dem Lastenrad.
Neben dem zum Werkzeugschrank umfunktionierten alten Schreibtisch stehen Räder und Lastenräder- mal mehr, mal weniger in Schuss. Wenn es irgendwo hakt, fachsimpelt Sven Sittler hier mit seinen Kollegen über die Ursache. Dann wird geschraubt, geölt, geputzt.
Sittler: Das ist immer so phasenweise. Mal quatschen mich ziemlich viele an, manche checken es aber auch auf den ersten Blick gar nicht.
Sittler: Eigentlich sind es eine Prothese und eine Orthoprothese. Eine Prothese ist es immer, wenn dir was fehlt. Dann wird das quasi dazugebaut. Eine Orthese bekommst du, wenn du nur muskuläre Einschränkungen hast, Lähmungen oder so. Also wenn an sich alles ausgebildet ist, du aber trotzdem eingeschränkt bist (klopft auf sein linkes Bein). Ich habe beispielweise hier einen Fuß, aber kein Sprunggelenk.
Sittler: Ich bin so auf die Welt gekommen. Meine Mutter hat zwar lange geraucht, aber keine Medikamente wie Contergan oder so in der Schwangerschaft genommen. Kann sein, es hat was mit Tschernobyl oder dem AKW in Grafenrheinfeld zu tun, aber keiner weiß das genau. Meine beiden Geschwister haben keine Behinderung.
Sittler: Ich habe viel Zeit in der Physiotherapie und in Kliniken verbracht, da ich auch mehrmals operiert werden musste. Meine ersten Prothesen, die aussahen wie so Piratenbeine, habe ich mit ein paar Monaten bekommen. Laufen gelernt habe ich dann erst mit zwei, drei Jahren. Aber ansonsten bin ich in Poppenhausen in eine ganz normale Grundschule gegangen und später auch aufs Gymnasium.
Sittler: Im Schulsport habe ich alles mitgemacht, was ging: Leichtathletik, Handball, beim Fußball war ich im Tor. Ich habe nie Noten bekommen, konnte aber alles probieren. Dann habe ich mit Rollstuhlbasketball angefangen, was echt Laune macht. Ist quasi wie Autoscooter, nur mit einem Ball.
Sven Sittler macht das erste Mal im Gespräch eine Pause. Bisher sind die Sätze nur so aus ihm rausgesprudelt. Jetzt stockt er.
Sittler: Krüppel. Das macht was mit einem. Das sagt niemand mehr ohne Absicht, sondern um sich bewusst von einem zu distanzieren.
Sittler: Dass es nicht die feine Art ist, dieses Wort zu sagen. Es mag früher mal normal gewesen sein, aber das gilt für andere Bezeichnungen auch.
Sittler: Ich habe damals ein neues Prothesenknie gebraucht. Die sind verdammt teuer, da kostet eines mindestens 10.000 Euro. Damit die Krankenkasse das bezahlt, musst du angeben, wofür du es brauchst und was du damit erreichen willst. Gleichzeitig war ich an einem Punkt, an dem ich endlich selbst mein Geld verdienen wollte - und auf dem Rad habe ich mich schon immer wohlgefühlt. Das Knie war dann mein Ansporn zu sagen: Ich brauche es für meinen Job, ich werde jetzt Fahrradkurier.
Sittler: Es fühlt sich alles viel geschmeidiger und eleganter an. Es ist weniger mühsam als Laufen und ich kann ganz andere Strecken schaffen als im Rollstuhl. Für mich ist es ein großer Schritt zur Selbstständigkeit. Ich konnte gemeinsam mit meinem Bruder mit dem Rad meine Schwester in London besuchen. Das ist doch was!
Sittler: Recht früh (lacht). Ich war bei uns nahezu das einzige Kind, das eine Prothese gebraucht hat und die Hersteller waren hauptsächlich auf ältere Menschen eingestellt. Die machen ja einen Gipsabdruck, und bis zur Fertigstellung kann das Monate dauern. Mir haben meine Prothesen oft nicht richtig gepasst. Und ich bin schneller gewachsen, als die die neuen Prothesen fertiggestellt hatten. Ich bin dann auch schon als Grundschüler immer wieder mit den Technikern in die Werkstatt gegangen, wenn die an meinen Beinen gewerkelt haben, sodass ich mir da schon was abgucken konnte. Mittlerweile kann ich meine Beine genauso anpassen, wie ich sie brauche.
Sittler nimmt sein rechtes Bein in die Hand, dreht die Prothese mit einem Handgriff auf die Seite und lässt sie wieder zurückgleiten.
Ich hab hier beispielsweise einen Drehadapter drin, damit kann ich, wenn ich ins Auto steige oder in enge Sitzecken reinkommen will, das Ding einfach hochklappen. Wenn ich merke, dass passt nicht hundertprozentig, schraube ich einfach bisschen rum. Es ist auch praktisch, weil ich neue Ideen immer erst an mir selbst austesten kann.
Sittler: Es ist ein sehr handwerklicher und spannender Beruf, in dem sich immer viel tut. Und eigentlich habe ich sowas ja schon immer gemacht. Cool ist auch, dass ich so viel mit Menschen in Kontakt bin.
Sittler: Es ist immer emotional, wenn jemand eine Prothese braucht. Ich kenne das von mir selbst, dass man manchmal in ein tiefes Loch fällt. Eine Abwärtsspirale, aus der man nicht so leicht rauskommt. Manche tragen schon jahrelang Prothesen und kommen ganz routiniert zu den Treffen. Andere haben Krebs, wieder andere einen Unfall. Auch altersmäßig ist alles dabei. Das lässt mich natürlich nicht kalt.
Sittler: Für mich ist das, was ich mache, nicht besonders. Aber ich merke, dass ich manchen vielleicht helfen kann, weil ich mich ein Stück weit in sie reinversetzen kann. Ich kann erahnen, was in ihnen vorgeht, welche riesige Hürden sie im Alltag sehen. Allein dadurch, dass ich da mit zwei Prothesen ihnen gegenüber sitze und mit dem Fahrrad zur Arbeit komme, kann ich ihnen vielleicht zeigen, was trotzdem gehen kann. Und dass immer etwas geht.
Ich war 2017 auf Grund einer neu diagnostizierten und seltenen Autoimmunerkrankung in der Uniklinik, konnte kaum laufen und hatte extreme Schmerzen. Da sah ich eines Tages Herrn Sittler schwungvoll ins Gebäude gehen. Er unterhielt sich voller Lebensfreude mit der Dame am Empfang. Ich war sehr überrascht, als ich bemerkte, dass er Prothesen trug. Seine Energie und sein Auftreten machten mir Mut für meine eigene Erkrankung und Genesung.
Noch heute denke ich oft an diese Begegnung und habe mich mit meiner Erkrankung arrangiert. Es läuft nicht immer gut - aber ich versuche das Beste daraus zu machen. Danke Herr Sittler!