Heute gibt es Apfelkrapfen. Das süße Faschingsgebäck duftet durch den warmen Raum. Ein Krapfen ist für Helene Werner reserviert. Die 81-Jährige hat sich mit Walking-Stöcken durch den Schneesturm draußen gekämpft. Ein Schwall kalter Luft weht mit ihr herein. Drei Mal pro Woche, immer wenn offen ist, kommt sie in den Dorfladen in Trappstadt im Landkreis Rhön-Grabfeld. Dort kauft sie "alles, was man halt so braucht". Schon immer, seit sechs Jahrzehnten.
Der Laden liegt an der Hauptstraße, direkt in der Ortsmitte. Rundherum wellen sich die Hügel des Grabfelds, im Norden reckt sich der Große Gleichberg mit weißer Schneespitze. Die Landesgrenze zu Thüringen ist vom Rathaus rund einen Kilometer Luftlinie entfernt. 950 Einwohner zählt Trappstadt zusammen mit dem Ortsteil Alsleben. Noch. Nach Vorausberechnungen des Landesamtes für Statistik wird die Bevölkerung stark schrumpfen. Bis 2033, so die Prognose, könnte die Einwohnerzahl um 16 Prozent sinken. Lässt sich das verhindern?
Im Dorfladen gibt es jeden Samstag "warmen Leberkäs'"
Ein Donnerstagvormittag, halb zehn. Die Straßen sind menschenleer. Der Wind pfeift um die Ecke des längst aufgegebenen Gasthauses, Putz blättert von der Fassade. Im Dorfladen steht Michaela Degen hinter der Theke und hilft ihrem 84-jährigen Vater Fritz Niedt. Die Familie betreibt das Geschäft seit drei Generationen.
Wer hereinkommt, wird mit Vornamen begrüßt. Das Sortiment ist ein alltagstaugliches Sammelsurium: Marmeladen, Süßigkeiten, Putzmittel, Batterien, Sekt, Kaffee, Zucker, Mehl, Konserven. Eine vegane oder laktosefreie Ecke sucht man vergeblich. "Wir verkaufen keine Bio-Produkte", sagt Degen und lacht. "Und bei uns braucht auch keiner Kaviar." Natürlich sei es für so einen Laden heutzutage schwierig. Die Jüngeren würden zum Discounter fahren. Nur samstags, "da kommen sie alle". Da gibt es "warmen Leberkäs' beim Fritz", das ist bekannt.
An diesem Morgen sind die meisten Einkäufer Stammkunden. So wie Helene Werner. Die Seniorin lebt seit 70 Jahren in Trappstadt. Sechs Kinder hat sie. Alle seien im Ort geblieben, erzählt sie. Mit den acht Enkeln werde es ihr nie langweilig. "Ich lebe gerne hier."
Es gibt sie hier noch, die Gewissheit und das Bedürfnis, dazu zu gehören. Zur Dorfgemeinschaft, zu "Trappscht". Wenn jemand Hilfe brauche, in Schwierigkeiten stecke, wisse das jeder, sagt Bürgermeister Michael Custodis. Aber es helfe auch jeder.
Sieben Jahre ist Custodis mittlerweile im Amt, besser im Ehrenamt. Im vergangenen Jahr musste der 53-Jährige harsche Kritik einstecken, als Trappstadt zum Corona-Hotspot wurde und eine hitzige Debatte um gefeierte oder nicht-gefeierte Jugendpartys entbrannte.
Der gelernte Steinmetz sitzt im Rathaus-Büro im Torhaus, in dessen niedriger Durchfahrt bleiben des Öfteren Lkw stecken. Custodis zuckt die Achseln. Das gehört zum Dorf dazu. Genauso wie die Grabfeld Alpakas, die wollig-knuffig am Ortsrand grasen und als Wanderbegleiter gebucht werden können. Oder die Edelbrennerei, in der Gin- und Whisky-Verkostungen stattfinden. Aber auch die leerstehende Schule, in der sich der Seniorenkreis trifft. Und die beiden Gasthöfe mit den zugezogenen Gardinen.
Deutlich weniger, aber ältere Einwohner
110 Einwohner habe Trappstadt in seinen Jahren als Bürgermeister verloren, sagt Custodis. Wenig Geburten, die jungen Leute gehen zum Studieren, viele Sterbefälle. "So büßt man auf dem Dorf schnell Bevölkerung ein." 2033 sollen laut Vorausberechnung nur noch 800 Einwohner in Trappstadt leben. Gleichzeitig steigt das Durchschnittsalter von heute 45,3 Jahren auf 48,3.
"Die Prognose hat mich erst erschreckt, aber im Nachhinein doch nicht überrascht", sagt Custodis. Wenn man die Entwicklung der vergangenen Jahre fortschreibe, sei das die logische Folge. "Aber ich bin guter Dinge, dass es nicht so weitergeht." Ein Spaziergang durch die Dorfstraße soll seinen Optimismus untermauern. Restaurierte Fachwerkhäuser, der modernisierte Kindergarten mit Abenteuerspielplatz. So kann die Zukunft auch aussehen.
Demographie-Spiegel für Bayern
Ja, große Industriebetreibe gebe es nicht. Handwerk dominiere. Bäckerei und Metzgerei habe man keine mehr im Ort, so Custodis. Der nächste Allgemeinarzt sei in Bad Königshofen, das nächste Krankenhaus in Bad Neustadt oder Hildburghausen. Der Grabfeldstern, als regelmäßige Busanbindung, werde noch geplant. Bislang fahren Busse eher sporadisch, die Haltestelle liegt verwaist hinter Custodis Wohnhaus. Mit dem Auto erreicht man Bad Königshofen in weniger als 15 Minuten, in gut einer halben Stunde ist man in Schweinfurt. Ohne Pkw allerdings wird es schwierig.
Die ländliche Lage, die Abgeschiedenheit, die Beschaulichkeit, all das kann man als Nachteil sehen. Oder als Pluspunkt. "Hier lässt es sich schön leben", sagt Custodis. Die Stadt habe ihn nie gereizt. Diese Sätze hört man in der Gemeinde immer wieder.
Zum Beispiel von Dominik Schmitt. Der 41-Jährige steht in der Eingangstür des Sportheims, drinnen dudelt leise das Radio. An den langen Holztischen sitzen die Vereinsmitglieder seit Beginn der Pandemie selten zusammen. "Ganz klar, Corona hat uns getroffen", sagt Schmitt. "Das Vereinsleben in Trappstadt ist wirklich wichtig".
Allein der TSV habe 190 Mitglieder, aktiv seien etwa 60. Die Fußball-Herrenmannschaft spielt in der Bezirksliga, Schmitt selbst steht seit einem Unfall nur noch als Trainer auf dem Platz. Und als staatlich geprüfter Greenkeeper. "Rasen ist meine Leidenschaft", sagt der 41-Jährige. In Maria Bildhausen kümmert er sich um den bekannten Golfplatz, in Trappstadt um den Sportplatz.
An Spieltagen versammeln sich regelmäßig um die 250 Zuschauer um den Rasen. "Fußball hat einen hohen Stellenwert bei uns", sagt Schmitt. Nicht nur bei den Männern, vor allem die Damenmannschaft wachse. Eine Jugendmannschaft hingegen gebe es nicht mehr, generell könnten im Grabfeld nur noch wenige Vereine eigene Nachwuchsteams stellen.
Bei den Festen seien trotzdem junge wie alte Vereinsmitglieder dabei, beim Kirchweih-Essen, beim Vatertags-Grillen. Bei allem, was Corona erlaubt. "Der Zusammenhalt macht das Leben hier aus", sagt Schmitt. "Wenn von den Jungs jemand Hilfe braucht, schreibt er eine Whatsapp-Nachricht und ruckzuck sind zehn Mann da und packen mit an." Die Stadt, die Anonymität, "das ist gar nicht meins". Der 41-Jährige deutet aus den breiten Fenstern des Vereinsheims. "Hier geht man raus und ist gleich in der Natur. Besser geht es nicht."
Die Natur. Sie umgibt den Ort von allen Seiten, grüne Wiesen, Felder, Hügel, Waldstücke. Spaziert man vom Sportplatz fast schnurgeradeaus Richtung Osten kommt man zur Altenburg. Vögel zwitschern, Verkehr hört man keinen. Das Naturschutzgebiet wird vom "Grenzgänger" umschlossen, einem elf Kilometer langen Wanderweg entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze.
Statt Warnschildern und Absperrungen säumen heute Infotafeln und Bänke den Weg. In den Köpfen sei die Grenze noch ein Thema, sagt der Bürgermeister. "Das wirkt nach." Ungewollt. Zum Einkaufen fahre seine Generation nach wie vor eher nach Bad Königshofen als nach Thüringen.
Der Naturfriedhof strahlt Würde und Ruhe aus
Verlässt man den Grenzgänger an seinem südlichsten Punkt, ist es nicht weit zur Saalequelle bei Alsleben. Der kleine Wassersprudel ist stolze Sehenswürdigkeit, genauso wie der Naturfriedhof. Mitten im Wald, rund um die St. Ursulakapelle, stehen die grauen Grabsteine zwischen den Bäumen. Laubbedeckt, einige mit frischen Blumen, Kränzen oder Kerzen geschmückt. Es ist ruhig, friedlich, feierlich. Der Blick reicht weit über Alsleben und das Grabfeld. Mehr als 800 Urnengräber seien inzwischen verkauft, sagt Custodis. Sogar ein Kölner habe hier die letzte Ruhe gefunden.
Das Sterben. Es ist Teil des Dorflebens und wird es laut Prognosen in Zukunft noch stärker sein. "Bei Beerdigungen sieht man den Zusammenhalt der Gemeinde, wenn viele Anteil nehmen", sagt der katholische Pfarrer Florian Herzog. Dabei sei das kirchliche Leben in Trappstadt durch Corona aktuell leider auf die Gottesdienste reduziert. Jeden Sonntag kämen ungefähr 40 bis 50 "treue Kirchgänger", eher älter als jünger. Engagieren würden sich aber weit mehr, etwa beim Krippenaufbau oder beim Klappern in der Karwoche. Er sei zuversichtlich, sagt Herzog, dass sich künftig wieder mehr Ministranten fänden – allen Voraussagen zum Trotz.
"Es kehren wieder einige junge Leute zurück", bestätigt Custodis. Baugrund ist günstig, bei alten Grundstücken koste ein Quadratmeter 26 Euro, im Neubaugebiet in Alsleben 52. Ortsfremde junge Familien lockt das bislang jedoch eher selten.
Das spürt auch Athanasios Michos, der Wirt des letzten Gasthofs in Alsleben. Wochentags ist wenig los. Aber "wenn jemand zu Mittag essen will, kommt er zu mir". Und am Wochenende, am Sonntag beim Frühschoppen, da sei es voll im Gastraum. Deshalb habe die Gemeinde den "Grünen Baum" saniert, seit 2011 steht Michos hinter dem Tresen. "Eine Wirtschaft bringt Leben in den Ort", sagt der Pächter.
In Trappstadt fehlte die lange. Custodis hat deshalb den Verein "Dorf beleben" gegründet und das aufgegebene Café Grenzpunkt im Ortskern bei der Wiedereröffnung unterstützt. Heute werden Döner und Pizza angeboten. Nebenan wühlen Bagger in der Erde. Hier entsteht der neue Dorfplatz. Die Gemeinde soll ein modernes Zentrum bekommen, mit Brunnen, Sitzbänken und E-Bike-Ladestation. Für den Bürgermeister ist das eine Chance.
Das "faschingsverrückte Dorf" hofft auf die Zeit nach der Pandemie
"Ich will mich auch mit der Jugend zusammensetzen und hören, wie sie sich ein Dorf vorstellt", sagt Custodis. "Was sie dazu bringen könnte, hier zu bleiben." Hoffnung setzt er auf das Zusammengehörigkeitsgefühl. Und auf den Schützenverein, die Obst- und Gartenbauler, die Feuerwehr, den Sportverein. Und den Faschingsverein.
Fasching. Eigentlich hätte der gerade Hochsaison. "Das fehlt. Wir sind ein faschingsverrücktes Dorf", sagt Custodis. Normalerweise kämen zum Trappstädter Umzug bis zu 7000 Menschen. In diesem Jahr fällt das wegen Corona aus. Überlegungen, das närrische Treiben in den Sommer zu verlegen, sorgen für müdes Kopfschütteln. Manches soll in Trappstadt doch so bleiben, wie es immer war. "Fasching gehört in die kalte Jahreszeit", sagt Custodis. Und Apfelkrapfen gibt es eben auch nur jetzt.
Wie lebt es sich dort, wo die Einwohnerzahlen steigen, wo die Bevölkerung laut Vorausberechnung deutlich wachsen soll? Lesen Sie an diesem Freitag hier den zweiten Teil zu Unterfrankens Zukunft: Ortsbesuch in der boomenden Gemeinde Geroldshausen im Landkreis Würzburg.
2010 besuchte ich zum letzten Mal die Gemeinde.