
Rote Lichter blinken. Es klingelt. Die Schranke senkt sich. Ratternd nährt sich der Regionalzug, pfeift und passiert den Bahnübergang. 15 Minuten dauert es von Geroldshausen bis nach Würzburg, der Stundentakt ist Standortfaktor. Arbeiten in der Stadt, Schlafen und Leben auf dem Dorf. Das hat auch Ralf Schmitt gereizt. "Weil's günstiger war", weil die Großstadt nah ist und ihre Hektik doch weit genug weg.
Geroldshausen liegt im Speckgürtel von Würzburg. Rundherum bilden Zuckerrüben- und Weizenfelder ein überdimensionales Schachbrett, im Nordwesten drehen sich Windräder. Mit dem Ortsteil Moos zählt die Gemeinde rund 1300 Einwohner, Tendenz stark steigend. Bis 2033 soll die Bevölkerung nach Vorausberechnungen des Landesamtes für Statistik um 13 Prozent wachsen, bayernweit ist das der höchste Wert. Woran liegt das?
Die Nachfrage nach Bauplätzen in der Gemeinde ist hoch
Bahnhof, schnelle Anbindung an Würzburg, Spielplätze, Kindergarten. "Wir haben eine gute Infrastruktur, deswegen kommen viele von auswärts und wollen hier bauen", sagt Bürgermeister Gunther Ehrhardt. Seit drei Jahren ist er im Amt, regelmäßig erreichen ihn seitdem Anfragen nach Grundstücken.

Ehrhardt sitzt in seinem Büro im Rathaus. In einer Glasvitrine reihen sich Bildbände und Chroniken, darüber steht die alte Dorfschelle, mit deren Klingeln früher Neuigkeiten bekannt gegeben wurden. An der Wand hinterm Schreibtisch hängt eine Skizze. Sie zeigt die geplante Zukunft: den Kindergarten-Neubau, Grünanlagen, einen Dorfplatz gegenüber des Bahnhofs.
"Eigentlich sind wir ein bescheidenes Dorf", sagt der 55-Jährige. Dass von den Statistikern ausgerechnet für seine Gemeinde ein so enormes Bevölkerungs-Plus errechnet wurde, sieht Ehrhardt zwiespältig. Die Zahlen dürften nicht als exakte Vorhersage missverstanden werden: "Wenn ich in einem kleinen Ort wie dem unseren ein Neubaugebiet ausweise und in einem Jahr 50 Personen herziehen, fällt das mehr ins Gewicht, als in einer großen Stadt."
Demographie-Spiegel für Bayern
Tatsächlich entstand 2019 in Geroldshausen das Neubaugebiet "Kornäcker". Moderne Einfamilienhäuser, schlichte, weiße Fassaden, schwarz-graue Dächer. In den Vorgärten grünen die ersten Sträucher und Hecken, bunte Plastiktraktoren parken neben Kombis. 130 Euro hat hier der Quadratmeter gekostet, sagt Ehrhardt. Ganz ähnlich soll es bald am Ortseingang von Moos aussehen, dort ist die nächste neue Siedlung geplant. Weitere 25 Bauplätze, auch diese deutlich günstiger als in Würzburg.

Auch für Ralf Schmitt waren die Kosten ein Beweggrund. Der 60-Jährige arbeitet an der Würzburger Uniklinik, 1994 ist er nach Geroldshausen in ein Neubaugebiet gezogen. "Noch bevor unser Haus fertig war, bin ich angesprochen worden, ob ich mich im Sportverein engagieren wolle", erzählt Schmitt und lacht. Er wollte. Erst als Jugendtrainer, mittlerweile ist er seit zehn Jahren Vorstandsvorsitzender.
Schmitt steht vor dem Sportheim. Rund 450 Mitglieder hat der Verein, etwa die Hälfte davon sei aktiv. Beim Kickboxen, Volleyball, Tischtennis, in den Gymnastikgruppen oder bei den Fußballern. Nachwuchssorgen gebe es keine. "Wir haben viele Kinder im Ort, das merken wir als Verein." Schmitt zeigt zum neuen Sportplatz, vor drei Jahren habe man den gebaut. Der alte direkt gegenüber war ob seiner Hügel berühmt berüchtigt im Landkreis, "da haben sich manche Gegner schwergetan und wir mehr Punkte geholt als heute".

Schmitt schließt das Vereinsheim auf. Es ist die einzig verbliebene Gaststätte im Ort, geöffnet an drei Abenden pro Woche. Vor der Pandemie seien die hellen Holztische meist gut besetzt gewesen, ehrenamtliche Helfer stemmen den Betrieb.
Wie Sabine Herdt, die "Mutter des Vereins". Die 54-Jährige hat früher selbst Fußball in der Bayernliga gespielt, später erst die eigenen Söhne, dann die Jugendmannschaft trainiert. Heute kümmert sie sich "irgendwie um alles", ist Vorstandsmitglied, organisiert, putzt, räumt auf und betreut die zweite Herren-Mannschaft. Manchmal gehe dafür schon der komplette Sonntag drauf, sagt Herdt. Trotzdem bereue sie ihr Engagement nicht. Im Gegenteil.
Integration über die Vereine oder den Dorfladen
"So kommt man in die Gemeinde rein", erklärt Schmitt. "Wir haben über den Verein viele Leute kennengelernt." Alteingesessene ebenso wie andere Zugezogene. Allerdings sucht und braucht das nicht jeder: "Es gibt in den Neubaugebieten viele, die wohnen hier und wollen sonst mit niemandem Kontakt haben."

Geroldshausen sei eine Schlafstadt, bestätigt Bürgermeister Gunther Ehrhardt. Aber nicht ausschließlich. "Sicher ist es so, dass drei Viertel der Neubaugebiet-Bewohner nur hier schlafen – aber ein Viertel engagiert sich." Im Sportverein, bei der Feuerwehr, den Obst- und Gartenbaulern oder im Dorfladen.
Der liegt mitten im Ortskern, genau zwischen Bahnhof und Rathaus. Über der Eingangstür prangt noch der alte Schriftzug "Bäckerei Lebensmittel Heunisch". Als der Familienbetrieb nach 110 Jahren schließen musste, verschwand ein Treffpunkt. "Da haben wir gedacht, wir müssen etwas machen", sagt Armin Gardill. Gemeinsam mit Daniela Bouveret und einer weiteren Familie gründete er eine Initiative, sammelte Geld, plante und renovierte.
2018 eröffneten sie den neuen Dorfladen. Teile der Bäckerei-Einrichtung blieben, in den hölzernen Regalen stehen jetzt Nudeln aus der Rhön, Honig aus Geroldshausen, Fränkischer Apfelessig oder Säfte aus Großrinderfeld. Es gibt eine Ecke mit Bio- und veganen Lebensmitteln. Alltagswaren von Haferflocken über Marmeladen und Süßigkeiten bis zu Kosmetikartikeln. Ein schwarzes Brett mit Wohnungs-Gesuchen. Und große Kisten mit Obst und Gemüse.

"Die meisten Produkte sammeln wir aus dem Umkreis", sagt Bouveret. Sie arbeitet im Schnitt 15 Stunden pro Woche im Laden, ist Hausfrau und Mutter. "Viele verlassen das Dorf früh und kommen abends zurück. Mir fehlt da manchmal das soziale Leben, dass man ein bisschen mehr Dorfgemeinschaft hat."
Als Neuer stoße man nicht ohne Weiteres dazu, "da muss man schon Eigeninitiative aufbringen", bestätigt Armin Gardill. Er lebt seit 15 Jahren "drüben" im Ortsteil Moos, über seine Kinder hat er Bouveret kennengelernt. Den Laden betreiben sie mit ehrenamtlichen Mitarbeitern und Hilfskräften, die "schwarze Null" stehe.
Bundesweite Schlagzeilen: Name des KZ-Arztes Eduard Wirths stand auf Kriegerdenkmal
Gerade ist Christian Scheermann der einzige Kunde. Der 45-Jährige hat sich Brötchen zurücklegen lassen, packt noch eine Apfeltasche und ein Schoko-Hörnchen dazu. Er ist in Geroldshausen aufgewachsen. Irgendwann zog es ihn weg, beruflich, nach Garmisch-Partenkirchen und München. Vor acht Jahren kehrte er zurück. "Ich bin gerne auf dem Land", sagt Scheermann. "Es ist ruhig." Fehlen würde ihm ein Arzt im Ort.
Den gibt es nicht mehr, genauso wenig wie eine Schule. Grundschüler fahren nach Kirchheim, höhere Klassen nach Würzburg oder Lauda, sagt Bürgermeister Ehrhardt. Das Jugendzentrum sei zu, gefeiert werde in privaten Räumen. Oder eben in Würzburg.
Traditionell ist das Dorf landwirtschaftlich geprägt. Entlang der Hauptstraße reihen sich teils aufwendig renovierte Gehöfte. Buntes Fachwerk, vor einer Scheune picken Hühner in der Erde, eine Katze flaniert über den Bürgersteig. Landidylle, mit der es im vergangenen Jahr plötzlich vorbei war.
Im Frühjahr 2021 stand Geroldshausen bundesweit in den Schlagzeilen und in der Kritik. Der Grund: Auf dem Kriegerdenkmal für die Weltkriegs-Gefallenen war der Name des KZ-Arztes Eduard Wirths eingraviert. Lange rang der Gemeinderat um die richtige Reaktion, suchte Rat von Experten. Mittlerweile ist die Inschrift entfernt, eine Infotafel erklärt den Hintergrund.
Heute liegt das Denkmal verlassen neben dem Friedhof. Kein Mensch ist auf der Straße unterwegs, Nebel zieht über die Felder Richtung Moos. Ab und an tauchen Scheinwerfer aus dem Grau auf, Elterntaxis bringen ihre Kinder nach Hause. Die Kirchenglocke schlägt.

Geroldshausen sei überwiegend evangelisch, der Ortsteil Moos katholisch, sagt Pfarrer Jochen Maier. Er betreut die Pfarrei vertretungsweise, im März soll die Gemeinde wieder eine eigene Pfarrerin bekommen. Es sei wichtig, so Maier, dass man als Pfarrer bei den Menschen sei und ihr Leben teile. Allein zu den Gottesdiensten kämen nicht mehr viele Gläubige, meist säßen nur zehn, zwanzig Menschen in der Kirche. Und natürlich habe Corona "vieles blockiert und eingeschränkt", den Singkreis, den Kinderchor, Gemeindefeste. Nach der Pandemie werde es vor allem darum gehen, die jungen Familien zu erreichen.
Die zog und zieht es nach Geroldshausen. 2033 werden laut Vorausberechnung bereits 1510 Einwohner im Dorf leben. Das Durchschnittsalter bleibe etwa bei 43 Jahren, wobei vor allem die Altersgruppen unter 18 und über 65 wachsen sollen. "Wir müssen also sowohl Perspektiven für Ältere als auch Angebote für Kinder und Jugendliche schaffen", sagt Ehrhardt.

Schon jetzt platzt der Kindergarten "Zaubernest" quasi aus allen Nähten. "Wir haben aktuell 75 Plätze", sagt Leiterin Franziska Fleißner. Das reiche bei weitem nicht, "es kommen einfach so viele". Fleißner kann das verstehen, "ich bin ein Dorfkind durch und durch". Sie habe erst in städtischen Kindergärten gearbeitet, sich aber für das Land entschieden. "Hier können wir raus, alles ist naturverbunden und man kennt sich."
Neuer Kindergarten gegenüber des alten Bahnhofs
Nur wenige Minuten Fußweg sind es vom "Zaubernest" zum Neubau. Das zweistöckige Holzgebäude entsteht unmittelbar neben dem Spielplatz am Birkenweg. Zwei Mütter schieben ihre Kinderwägen zur roten Schaukel, dick eingepackt gegen die Kälte. Ein Junge schwingt sich auf die Seilrutsche, seine Schwester rennt mit wippender Bommelmütze hinterher.
"Auf dem Spielplatz ist fast immer etwas los", sagt der Bürgermeister. Er grüßt einen Passanten, wie üblich auf dem Dorf. "Die Stadt fehlt mir nicht. Ich genieße es, dass ich außerhalb wohne." Ein lautes Pfeifen ertönt, Bremsen quietschen. Am Bahnhof fährt ein Zug ein. Gunther Ehrhardt deutet zu den Gleisen. Aber dass man in 15 Minuten in Würzburg sei, das sei schon schön.
- Lesen Sie hier Teil 1 der Reportage: Wie lebt es sich in Trappstadt, dem Dorf, das am meisten schrumpft?
Wie die Autorin die Recherche erlebt hat
