Knapp zehn Monate später ist das Blumenmeer verschwunden. Vor der gläsernen Eingangstüre des Kaufhauses in der Würzburger Innenstadt flattern längst keine roten Absperrbänder mehr. Nichts erinnert mehr an den Horror des 25. Juni 2021 am Barbarossaplatz. Dennoch: Die Messerattacke mit drei Toten und sechs Schwerverletzten hat sich ins Gedächtnis der Stadt gebrannt. Und jetzt, kurz bevor der Prozess gegen den heute 33 Jahre alten Täter an diesem Freitag beginnt, kommen die Bilder wieder hoch.
Oberbürgermeister Schuchardt: "Kollektiver Schock für die Stadtgesellschaft"
Es ist 17.02 Uhr als Abdirahman J. das Kaufhaus betritt und sich von einer Mitarbeiterin Messer zeigen lässt. Um 17.03 Uhr sticht er auf sein erstes Opfer, eine 39-Jährige, ein. Wie im Rausch geht er auf weitere Menschen mit dem Messer los, ehe sich ihm mutige Passanten vor dem Kaufhaus entgegenstellen und ihn ein Polizist mit einem Schuss in den Oberschenkel stoppt. Die Messerattacke dauerte gerade einmal vier Minuten.
"Ich bin immer noch betroffen davon, welche Last die Angehörigen der Opfer, aber auch die damaligen Helfer tragen und bewältigen müssen", sagt Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchardt (CDU). "Die Bilder des Schreckens und Grauens an einem friedlichen Sommerabend in einer bunten, lebensbejahenden und weltoffenen Stadt haben mich lange nicht losgelassen."
Dass Würzburg nach dem islamistischen Axt-Anschlag von 2016 erneut "Schauplatz von Verbrechen an unbeteiligten Passanten wurde, ist entsetzlich", so Schuchardt. "Diese zweite unsägliche Tat hat mich noch einmal mehr erschüttert." Sie sei "in ihrer Grausamkeit und Durchführung durch das Déjà-vu der Gewalt ein Momentum des kollektiven Schocks für die Stadtgesellschaft".
Die Bilder der Bluttat bleiben nicht nur in den Köpfen, auch im Internet kursieren sie nach wie vor – kurze Videos, die schon kurz nach der Tat mit atemberaubender Geschwindigkeit von Handy zu Handy gingen. Sie zeigen den wirren Zickzacklauf des Somaliers über den Barbarossaplatz, der sich mit gezücktem Messer immer neue Opfer sucht. Wenn das Landgericht Würzburg nun ab Freitag über Abdirahman J. zu urteilen hat, werden die Richter auch um die Sichtung der Filmdokumente, die von Überwachungskameras im Kaufhaus aufgenommen wurden, nicht herumkommen.
Mutige Passanten stellten sich dem Messerangreifer entgegen
Es sind Bilder von Mut und Feigheit zugleich: Die Aufnahmen zeigen laut einem Ermittler, der das Material gesichtet hat, die Brutalität des Täters. Sie zeigen, wie der damals 32-jährige Geflüchtete die Arglosigkeit seiner Opfer eiskalt ausgenutzt hat. Die Videos dokumentieren aber auch, dass es Menschen gab, die eingriffen: Ohne sie hätte es an jenem Abend in Würzburg vielleicht noch mehr Tote gegeben.
Es sind Männer wie Chia Rabiei, der dem Mann, der mit einem Messer in der Hand nach weiteren Opfern suchte, zunächst nur einen Rucksack entgegenhalten konnte. Ein Film zeigt, wie er – vom Messerangreifer verfolgt – wilde Haken schlug und sich dann immer wieder dem Angreifer in den Weg stellte. Der Verkäufer Hussein A. aus einem nahen Supermarkt kam mit einem Stock dazu. Der zufällig vorbeikommende Soldat Elvis P. griff sich ein Schild von einer Baustelle und eilte zu Hilfe.
Passanten, die sich dem Täter entgegenstellten, sollen nun als Zeugen aussagen. Einer von ihnen, der nicht namentlich genannt werden will, sagt: Er habe jetzt mehr "Muffe" als damals. Am Barbarossaplatz habe er einfach keine Zeit gehabt, um Angst zu haben – da sei es ihm einfach nur darum gegangen, zu helfen.
27 Prozesstage an drei unterschiedlichen Verhandlungsorten sind angesetzt
"Das Engagement und der Mut der anwesenden Passanten haben mich schon damals tief beeindruckt", betont Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) gegenüber dieser Redaktion. "Ihr Verhalten bewerte ich nach wie vor als herausragend. Es handelte sich bei diesen Personen gerade nicht um gut ausgebildete Polizeibeamtinnen und -beamte, sondern um Menschen, die sich plötzlich in einem Albtraum wiederfanden. In diesem Moment einem bewaffneten Täter entschieden entgegenzutreten, erforderte unglaublichen Mut und Zivilcourage." Auch die beteiligten Einsatzkräfte hätten "vorbildliche Arbeit geleistet", sagt Herrmann.
Die Justiz hat den harten Teil ihrer Arbeit noch vor sich. Die angesetzten 27 Prozesstage – verteilt über fünf Monate und anberaumt an drei unterschiedlichen Verhandlungsorten im Raum Würzburg, weil keine Halle für die komplette Dauer frei war – werden keine leichte Aufgabe für den Vorsitzenden Richter Thomas Schuster, Oberstaatsanwältin Judith Henkel und Pflichtverteidiger Hanjo Schrepfer. Bei aller Abscheu gegen die Bluttat müssen sie den Fall mit dem Aktenzeichen 502 Js 278/21 professionell verhandeln. 14 Betroffenen oder Angehörige von Opfern werden als Nebenkläger auftreten.
Schon kurz nach der Tat wurden Forderungen laut, den Täter einfach in seine Heimat abzuschieben. Innenminister Herrmann sagt heute dazu: Geflüchtete, wie der somalische Messerangreifer, "die einen subsidiären Schutzstatus haben, können nicht abgeschoben werden. Sollte es jedoch zu strafrechtlichen Verurteilungen wegen schwerer Straftaten kommen, so hat der Widerruf eines subsidiären Schutzes durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gute Aussichten auf Erfolg". Sofern das Bamf "keine gesetzlichen Abschiebungsverbote feststellt, ist dann eine Abschiebung rechtlich grundsätzlich möglich und durch die Ausländerbehörden zu vollziehen".
Wahrscheinlich ist das jedoch zumindest kurzfristig nicht: Eine Abschiebung von straffällig gewordenen Geflüchteten kommt laut Herrmanns Ministerium in der Regel "erst nach Verbüßen eines erheblichen Teils der Strafe in Betracht, um ausländischen Straftätern keinen Strafrabatt zu gewähren".
Täter wurde vor Prozessbeginn nach Lohr gebracht
Unterdessen werden psychiatrische Gutachter den Ausgang des Verfahrens gegen Abdirahman J. maßgeblich beeinflussen: Zwei Sachverständige kamen zu dem Ergebnis, dass der Somalier während seiner Tat schuldunfähig war, er sei paranoid schizophren. Deshalb will ihn die Generalstaatsanwaltschaft München dauerhaft in der Forensik eines psychiatrischen Krankenhauses unterbringen. Dazu hat die Behörde eine Antragsschrift verfasst, in der die Tat in all ihren grausamen Details geschildert wird und die der Redaktion vorliegt. Zitieren darf man aus dem zehnseitigen Dokument vor Prozessbeginn nicht. Die furchtbaren Folgen von über 50 Messerstichen auf mehr als ein Dutzend Menschen sind ohnedies kaum beschreibbar.
Bereits seit Juli 2021 lebt der Messerangreifer hinter den Gittern einer forensischen Klinik außerhalb Unterfrankens. Kurz vor dem Prozess wurde er ins Bezirkskrankenhaus nach Lohr (Lkr. Main-Spessart) verlegt. Verteidiger Hanjo Schrepfer sagt, er habe zuletzt nicht mehr so wirr gewirkt wie während und direkt nach der Tat. Er habe "sehr offen über den Tattag und sein Leben" gesprochen und Bedauern darüber geäußert, dass Menschen durch ihn ihr Leben verloren.
Verteidiger Hanjo Schrepfer: Der Beschuldigte ist medikamentös gut eingestellt
Sein Mandant sei medikamentös gut eingestellt, so Schrepfer. Aber natürlich müssten die ärztlichen Gutachter genau beobachten, ob der Beschuldigte dem plötzlichen Druck im Gerichtssaal gewachsen ist und nicht ausflippt.
Schrepfer ist erfahren genug, um zu wissen, dass in so heiklen Fällen die Öffentlichkeit manchmal auch die Verteidiger stellvertretend für die Taten ihrer Mandanten haftbar macht. Er und seine Familie sind bedroht worden. Ein Unbekannter hat ihm eine 9-Millimeter-Kugel versprochen, wenn er die Verteidigung nicht niederlegt.
"Keinen Menschen, der auch nur einen Funken Gefühl in sich hat, lässt das Schicksal der Opfer kalt, auch ich bin entsetzt", betont Schrepfer nicht zum ersten Mal – aber davonlaufen vor der Aufgabe wäre etwas für Feiglinge: Sein Job sei es, "ganz rational diesen Fall zu beurteilen und dem Beschuldigten zur Seite zu stehen – unabhängig davon, was ich persönlich von seiner Tat halte". Dass ihm renommierte Kollegen öffentlich den Rücken stärkten, half ihm, die ungewöhnlich heftigen Attacken leichter zu ertragen.
Wie die Polizei rund um die Verhandlung für Sicherheit sorgen will
Auch vor diesem Hintergrund ist das Thema Sicherheit bei diesem Prozess ein großes. Zwar erklärt Björn Schmitt, Sprecher des Polizeipräsidiums Unterfranken: "In Zusammenhang mit dem Prozessauftakt gibt es bislang keinerlei Hinweise auf konkrete Gefährdungen von Prozessteilnehmern." Dennoch werde die Polizeiinspektion Würzburg-Land im Einsatz sein, um einen sicheren und störungsfreien Verlauf des Prozesses zu gewährleisten.
Zum Prozessauftakt in den Mainfrankensälen in Veitshöchheim (Lkr. Würzburg) sei im erweiterten Umfeld mit erhöhter Polizeipräsenz zu rechnen. "Darüber hinaus ist im unmittelbaren Umfeld der Mainfrankensäle mit lageangepassten Verkehrs- und Absperrmaßnahmen, aber auch mit sonstigen gefahrenabwehrenden Maßnahmen zu rechnen." Und: "Straftaten sowie Sicherheits- und Ordnungsstörungen werden von der Polizei konsequent unterbunden", betont Schmitt.
Unterdessen leben am Barbarossaplatz die Menschen ihren Alltag, fahren mit der Straßenbahn am Tatort vorbei, gehen in der Fußgängerzone bummeln oder in den Restaurants um die Ecke essen. Zwar soll dort ein Gedenkort für die Opfer der Messerattacke geschaffen werden. Wann und wo genau dieser entstehen soll, ist nach aktueller Planung jedoch noch nicht geklärt. Oberbürgermeister Schuchardt rechnet nicht vor Ende dieses Jahres mit dem Ergebnis eines künstlerischen Gestaltungswettbewerbs für das Denkmal. Auch ein geeigneter Standort müsse noch gefunden werden.
Vom Prozess erhofft sich Schuchardt "natürlich Antworten auf die Frage, wie es zu diesem furchtbaren Messerangriff kommen konnte". Und doch: "Selbst wenn wir Antworten auf die Frage nach dem 'Warum' erhalten, werden wir die Tat nicht verstehen können."