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Würzburg
Was Opfer und Angehörige der Würzburger Messerattacke wollen - und was nicht
Der Messerangriff in der Würzburger Innenstadt am Abend des 25. Juni 2021 hat das Leben zahlreicher Betroffener für immer verändert. Wie ihnen geholfen wurde.
Auch Wochen nach der Messerattacke in der Würzburger Innenstadt am 25. Juni 2021 zündeten die Menschen an der Gedenkstätte am Barbarossaplatz noch Kerzen an und legten Blumen nieder.
Foto: ArchivPatty Varasano | Auch Wochen nach der Messerattacke in der Würzburger Innenstadt am 25. Juni 2021 zündeten die Menschen an der Gedenkstätte am Barbarossaplatz noch Kerzen an und legten Blumen nieder.
Angelika Kleinhenz
 und  Benjamin Stahl
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:50 Uhr

Am Abend des 25. Juni 2021tötete ein 32-jähriger Somalier im Kaufhaus Woolworth am Würzburger Barbarossaplatz drei Menschen mit einem Messer und verletzte mindestens fünf weitere schwer. Die Tat hat das Leben der Opfer und ihrer Angehörigen für immer verändert. Dieser Artikel ist ihnen gewidmet.

Drei Frauen starben: eine 24-Jährige aus dem Landkreis Main-Spessart, eine 49-Jährige aus dem Landkreis Würzburg und eine 82-Jährige aus der Stadt Würzburg. Drei weitere Frauen im Alter von 39, 52 und 73 Jahren, ein elfjähriges Mädchen und ein 16-jähriger Jugendlicher wurden schwer verletzt. Eine 26-jährige Frau und ein 57-jähriger Mann wurden leicht verletzt.

Mindestens 80 Betroffene nach der Messerattacke in Würzburg

Unmittelbar betroffen sind auch die Angehörigen der Getöteten, die ihre Familienmitglieder verloren haben. Die couragierten Menschen, die sich dem Angreifer mit Stühlen, Rucksäcken oder bloßen Händen entgegenstellten und ihn in eine Seitengasse am Barbarossaplatz trieben. Der Polizist, der den Täter in der Gasse durch einen Beinschuss stoppte. Die Mediziner, die zufällig in der Nähe des Tatorts waren und den Verletzten Erste Hilfe leisteten. Die Rettungskräfte, die sich um die Betroffenen kümmerten. Die Augenzeugen im Kaufhaus und auf der Straße, die das schreckliche Geschehen mit ansehen mussten. Die Menschen, die voller Angst in einem nahegelegenen Restaurant ausharrten, bis die Gefahr vorüber war. Die Fahrgäste in der Straßenbahn, darunter auch Schülerinnen und Schüler, die das Ganze mitbekamen. Und die Freunde und Klassenkameraden der verletzten Jugendlichen.

So hat der Abend des 25. Juni 2021 laut Polizei das Leben von mindestens 80 Menschen in und um Würzburg nachhaltig verändert. Viele Leserinnen und Leser wünschen sich deshalb, all jenen - den Opfern, Angehörigen und Betroffenen - eine Stimme in der Öffentlichkeit zu geben.

Dafür hat diese Redaktion mit den drei Verantwortlichen gesprochen, bei denen seit einem halben Jahr die Fäden der Opfer- und Angehörigenbetreuung zusammen laufen: Holger Baumbach und Carolin Rothaug, Leitender Kriminaldirektor und Kriminalhauptkommissarin bei der unterfränkischen Polizei, sowie Erwin Manger, Vizepräsident vom Zentrum Bayern, Familie und Soziales und zentraler Ansprechpartner für Opfer größerer Straftaten in Bayern.

Vier Anliegen, die den Opfern und Angehörigen der Messerattacke heute wichtig sind:

1. Keine Öffentlichkeit ohne Zustimmung der Opfer

Für Unbeteiligte ist der 25. Juni 2021 ein halbes Jahr her. Für Betroffene dagegen sei das Geschehene immer noch frisch, sagt der Opferbeauftragte Erwin Manger. Wenn die Geschädigten eines nicht wollten, dann sei das Öffentlichkeit. "Die Opfer brauchen Zeit", bestätigt Kriminaldirektor Holger Baumbach.

Leitender Kriminaldirektor Holger Baumbach 
Foto: Silvia Gralla | Leitender Kriminaldirektor Holger Baumbach 

Kriminalhauptkommissarin Carolin Rothaug appelliert deshalb an alle Menschen, die immer noch in vermeintlich guter Absicht Bilder und Nachrichten über Opfer der Würzburger Messerattacke in Sozialen Netzwerken teilen. Dies werde von den Betroffenen als absolut pietätlos empfunden. Noch schlimmer seien Demonstrationen und Versammlungen, die über das vorgeschobene Argument, den "Opfern ein Gesicht zu geben", ihre eigenen politischen Ziele verfolgten. Das Gegenteil sei der Fall, so Rothaug. "Es ist ein Schlag ins Gesicht für die Opfer und ihre Angehörigen."

2. Auch die Bedürfnisse der Opfer im Blick haben

Nicht nur die Ergreifung des Täters und die Ermittlung der Tathintergründe, sondern auch die Bedürfnisse der Opfer im Blick zu haben, ist Aufgabe der Polizei. Dies sei nach der Messerattacke in Würzburg eine große Herausforderung gewesen, so die Kommissare. "Wir hatten eine Vielzahl von Betroffenen", berichtet Carolin Rothaug. "Die Verletzten und die Angehörigen der Getöteten, die Mitarbeiter von Woolworth, die Menschen, die Erste Hilfe geleistet haben und die zahlreichen Betroffenen, die sich im Nachhinein bei uns gemeldet haben."

Doch ist es die Aufgabe der Polizei, teils traumatisierte Kriminalitätsopfer aufzufangen? "Ja, ich finde schon", sagt Rothaug, "weil wir im ersten Moment den besten Überblick haben, weil bei uns alle Fäden zusammenlaufen und weil wir zeitnah die Betroffenen an die vielen unterschiedlichen Netzwerkpartner weitervermitteln können."

Kriminalhauptkommissarin Carolin Rothaug 
Foto: Silvia Gralla | Kriminalhauptkommissarin Carolin Rothaug 

Nach dem islamistischen Axt-Attentat in Würzburg am 18. Juli 2016 und dem rechtsextremistisch motivierten Amoklauf am 22. Juli 2016 im Olympia-Einkaufszentrum in München habe man sich bei der Bayerischen Polizei konzeptionell mit dem Thema "Opferschutz" beschäftigt. Denn plötzlich reichte ein ermittelnder Sachbearbeiter nicht mehr aus, um sich um alle Betroffenen zu kümmern.

In Unterfranken wurde eine Opfer-Betreuungsgruppe innerhalb der Polizei eingerichtet, deren Mitglieder bei Straftaten mit vielen Betroffenen (wie etwa im Missbrauchsprozess gegen den Würzburger Logopäden) oder bei größeren Verkehrsunfällen hinzugezogen werden. "Es sind 30 Beamtinnen und Beamte aus Dienststellen der ganzen Region, die sich freiwillig für dieses Nebenamt gemeldet haben", sagt Holger Baumbach. Viele von ihnen hätten Vorerfahrungen, etwa aus dem Bereich "Häusliche Gewalt", wo die Polizei ebenfalls stark beim Opferschutz engagiert sei. Empathie sei dabei ganz wichtig, so Baumbach, denn oft gehe es um die Überbringung von Todesnachrichten oder den Umgang mit Leid und Traumata.

Aus dieser Opfer-Betreuungsgruppe habe man ab dem ersten Tag nach der Messerattacke, also am 26. Juni 2021, eine 1:1-Betreuung für die Angehörigen der Getöteten und die Verletzten der Messerattacke organisiert. "Ein festes Team, das zehn Familien betreut hat", sagt Carolin Rothaug. Holger Baumbach ergänzt: "Die Opfer und Angehörigen sollten ein Gesicht der Polizei haben, an das sie sich wenden können." Einen festen Ansprechpartner, fast ein halbes Jahr lang, der auch die Bedürfnisse der Opfer im Blick hat. Dies habe die Würzburger Polizei sehr gut und mit sehr viel Engagement gemacht, lobt der Opferbeauftragte Erwin Manger.

Erwin Manger, Opferbeauftragter und Vizepräsident beim Zentrum Bayern Familie und Soziales
Foto: Silvia Gralla | Erwin Manger, Opferbeauftragter und Vizepräsident beim Zentrum Bayern Familie und Soziales

3. Informationen aus erster Hand bekommen

Doch wie konnten Polizistinnen und Polizisten den Opferfamilien überhaupt helfen? "Wir sind keine ausgebildeten Therapeuten", sagt Holger Baumbach. Dafür gebe es qualifizierte Netzwerkpartner in der regionalen Opferbetreuung, die man den Hilfesuchenden umgehend vermittelt habe. Die Kommissare loben die gute Zusammenarbeit mit dem Kriseninterventionsteam der Diözese Würzburg, der Trauma-Ambulanz der Uniklinik in Zusammenarbeit mit der Stadt Würzburg, dem Zentrum Bayern Familie und Soziales, dem Weißen Ring, der Landesunfallkasse, der Stiftung Katastrophenhilfe sowie verschiedener Krisendienste in Bayern. "Wir versuchen, als Vermittler die Menschen und Organisationen innerhalb der ersten Tage zusammenzubringen", so Baumbach.

Darüber hinaus organisierte die Polizei drei Informationsveranstaltungen für die Opfer und ihre  Angehörigen im Juli und im Oktober. Bei diesen Terminen ging es vor allem um den Stand der Ermittlungen, den die Betroffenen "aus erster Hand und nicht aus der Zeitung erfahren" sollten und zwar "in einem geschützten Rahmen, um all ihre Fragen zu stellen", sagt Baumbach. Erst nachdem alle Betroffenen unter anderem vom Leiter der Soko und der Staatsanwaltschaft informiert wurden, gingen die Informationen an die Presse und Öffentlichkeit.

4. Das erste Weihnachtsfest und den Prozess überstehen

Heute, sechs Monate nach der Messerattacke, sind viele Hintergründe, die zur Tat am 25. Juni 2021 geführt haben, aufgeklärt. Die Polizei zeigte wochenlang Präsenz in der Würzburger Innenstadt, um das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung wiederherzustellen. Sicherheitsbehörden, die mutmaßliche Extremisten im Blick haben, Polizei und Kliniken für psychisch Kranke stimmen sich intensiver ab als vorher. Eine Tat wie am Barbarossaplatz soll es nie mehr geben. Doch ausschließen kann das niemand.

Der "Unterbringungsprozess" gegen den 32-jährigen Somalier rückt näher. Zwei ärztliche Gutachten bescheinigen dem Mann Schuldunfähigkeit. Ohne die Gutachten würde ihm eine lebenslange Haftstrafe drohen. 15 Jahre sind das maximal. Durch die Gutachten dagegen könnte er sein ganzes Leben lang in der Psychiatrie eingesperrt werden.

Egal, wie das Urteil ausfällt: Es wird das Geschehene für die Opfer nicht ungeschehen machen. Drei Familien steht das erste Weihnachtsfest ohne ihre getöteten Angehörigen bevor. Danach wird es für viele Betroffene darum gehen, den Prozess durchzustehen. Um es ihnen zu erleichtern, denken die Verantwortlichen über einen separaten Eingang und einen eigenen Aufenthaltsraum für Nebenkläger während der Verhandlung nach. Denn eines wollen die Opfer zum jetzigen Zeitpunkt nicht: Öffentlichkeit.

 
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