Die Leiterin des Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken, Dr. Rotraud Ries, verlässt nach 13 Jahren ihre Wirkungsstätte. Im Gespräch mit dieser Redaktion berichtet sie von ihren Erfahrungen mit der Erinnerungskultur, Zeitzeugengesprächen und wie man durch mitmenschliche Qualitäten Rassismus und Antisemitismus bekämpft.
Rotraud Ries: Unterfranken ist eine Landschaft mit einer langen und reichen jüdischen Vergangenheit. Am meisten habe ich mich bei meiner Arbeit allerdings mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt: Das 20. Jahrhundert mit seinem tragischen Verfolgungsgeschehen steht bei der jüdischen Geschichte für die meisten Menschen im Vordergrund. Dadurch bin ich auch stark in die Erinnerungskultur hineingekommen. Aber die Beschäftigung mit diesem Thema belastet auch sehr.
Ries: Mein Credo ist, eine systematische Herangehensweise an historische Informationen zu bieten, gut aufbereitet und anschaulich. Das wurde zum Beispiel beim DenkOrt-Projekt umgesetzt, an dem ich stark beteiligt war, was die historischen Hintergrundinformationen und das Online-Angebot angeht. Jeder, der aus Unterfranken kommt und wissen will, ob es in seinem Ort Juden gegeben hat und was mit ihnen passiert ist, findet bei diesem Projekt die Möglichkeit, sich zu informieren. Konkret geht es um 142 Orte, in denen es 1933 jüdische Bevölkerung gab. Die 2069 Biografien für Menschen, die aus Unterfranken deportiert wurden, sind im Johanna-Stahl-Zentrum geschrieben worden.
Ries: Ein großer Bereich des Wandels ist der Weg ins Digitale. In meiner Anfangszeit war viel Grundlagenarbeit nötig, um überhaupt im digitalen Sinne arbeiten zu können: Datenbanken für die Bibliothek und Sammlungsbestände erstellen, eine eigene Webseite sowie das systematische Erfassen und Digitalisieren von Quellen. Bei einer Landschaft mit so vielen jüdischen Gemeinden muss man sich einen Überblick verschaffen, auf den man immer wieder zurückgreifen kann. Neben wissenschaftlichen Untersuchungen und Online-Angeboten war mir außerdem immer wichtig, Ausstellungen zu machen, um jüdische Geschichte auch auf andere, anschaulichere Weise zu vermitteln.
Ries: Das ist eine bedauerliche Veränderung. Gerade auf junge Leute, die in der Regel nicht so intensiv mit der Thematik befasst sind, hat ein Zeitzeuge eine ganz besondere Wirkung. Da wird so viel transportiert, durchs Sprechen, aber auch durch den persönlichen Eindruck. Viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben eine unglaubliche Ausstrahlung. Durch das Leid, das sie erfahren haben, haben sie eine tiefe Menschlichkeit entwickelt, es ist überraschend, das so zu erleben. Dieser Eindruck lässt sich kaum ersetzen.
Ries: Sie sind eine wichtige Brücke, auch wenn dabei nicht so viel rüberkommt, wie wenn man jemanden persönlich erlebt. Alternativ gibt es in der zweiten Generation interessante Gesprächspartner – auch wenn sie etwas ganz anderes zu erzählen haben. Ich hatte zum Beispiel Kontakt mit David Hanauer, dessen Vater ein Kindertransportkind war und dessen Großeltern und Großonkel deportiert wurden. Er hat sich auf wissenschaftlichem Niveau mit seiner Familiengeschichte auseinandergesetzt und darüber geschrieben. Man bekommt einen Einblick, wie in Familien nicht über die Vergangenheit gesprochen werden konnte und die Kinder doch spürten, dass es eine verborgene Geschichte gab. Diese psychologische Ebene ist sehr spannend, aber nicht gleichzusetzen mit Zeitzeugenaussagen.
Ries: Wichtig ist, jede Generation neu anzusprechen. Man müsste für jeden Schüler-Jahrgang Angebote machen, die sich an den jeweiligen Interessen der Jugendlichen orientieren. Schön wäre auch, junge Leute zu finden, die sich in die Vermittlung miteinbringen. Zudem müsste man viel stärker in digitale Angebote investieren. Würzburg ist zum Beispiel bayernweit die Stadt mit den meisten Stolpersteinen. In manchen Städten gibt es eine App, mit der man Stolpersteine und die Biografien dahinter vor dem Stein erschließen kann, idealerweise per Audio. In Würzburg jedoch nicht. Auch das Konzept individuell zu nutzender digitaler Angebote, das ich am DenkOrt eingeführt habe, könnte man stärker in die Menge bringen.
Ries: Es ist ein Baustein für eine moderne Auseinandersetzung mit Diversität, mit den verschiedenen Gruppen und Orientierungen der Bevölkerung. Im gedenkenden Sinn, aber auch dadurch, dass man sich mit der Vergangenheit beschäftigt, um zum Beispiel gegen Verschwörungsmythen gefeit zu sein, wie sie im Zusammenhang mit den Corona-Protesten herumgingen. Wer in diesem Zusammenhang Judensterne verwendet, ignoriert nicht nur, was damals den Juden passiert ist, sondern blendet auch den Kontext aus. Es gehört zur Menschenbildung, nicht zu vergessen, dass es in der Region eine jüdische Minderheit gegeben hat – und wie Nachbarn, Behörden und Nazi-Schergen mit ihr umgegangen sind. Antisemitischen, rassistischen und ähnlichen Ideologien nicht aufzusitzen beziehungsweise sich den Anfängen solcher Prozesse entgegenzustellen, bleibt auf Dauer wichtig.
Ries: Antisemitismus ist ein Bestandteil der christlich-europäischen Kultur – seit der Entstehung des Christentums. Die Konfrontation mit dem Judentum ist in der christlichen Religion eingebaut und hat über viele Jahrhunderte die Menschen geprägt. Selbst wenn wir uns heute überwiegend in einem säkularen Umfeld bewegen, sitzt das noch in der kulturellen Matrix. Antisemitismus war auch nie weg. Laut Umfragen haben seit Jahrzehnten etwa 20 Prozent der Bevölkerung antisemitische Einstellungen.
Ries: Eine angstbesetzte Situation führt immer dazu, dass Leute mehr zu Verschwörungsmythen und zur Sündenbocksuche tendieren. Durch die sozialen Medien gibt es zudem eine enthemmte Form, sich zu bestimmten Themen zu äußern, was sich in entsprechenden Foren noch verstärkt. Früher gab es Kneipenunterhaltungen, wo auch Schlimmes losgelassen wurde, was aber im Raum blieb. Wenn jemand heute rassistische oder antisemitische Äußerungen in die Welt pustet, lesen es möglicherweise Tausende.
Ries: Ich halte es für eine wichtige Aufgabe, die Menschen gegen solches Gedankengut zu immunisieren und sie dazu zu bringen, auf andere mit Respekt zuzugehen und sie so zu nehmen, wie sie sind – egal, wie sie aussehen, aus welcher Kultur sie kommen, welche sexuelle Orientierung sie haben. Und nachzudenken, bevor man etwas sagt oder fragt: Nicht jeder schwarzhäutige Mensch kommt zum Beispiel aus Afrika. Jemanden sofort nach seiner Herkunft zu fragen, ist distanzlos und übergriffig: Man sollte sich zuerst in das Gegenüber hineinversetzen, wie die Frage ankommt.
Ries: Ja, wir brauchen eine Ausbildung mitmenschlicher Qualitäten. Manche reden von Toleranz – aber das hat immer was Abfälliges, "ich dulde denjenigen". Aber darum geht es nicht. Sondern darum, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Wir sollten anderen zuhören, wenn sie von Diskriminierungserfahrungen erzählen und diese auch für möglich halten. Es gibt keine Menschenrassen – und schon gar keine Hierarchien zwischen Menschengruppen.