Wir erfahren nichts über Valentine Leopold. Wir hören nur ihre alte Stimme erzählen, was sie als Mädchen Würzburgs Zerstörung am 16. März 1945 gesehen hat. „Das geht mir heut‘ noch nach“, sagt sie. Nach Leichen musste sie schauen. Die waren nicht verbrannt, „die waren erstickt. Das ist was ganz Furchtbares.“ Ein Mann habe für jeden Leichnam ein kleines Schildchen angefertigt, mit Name, Alter, Adresse darauf, „und dann nimmt er eine große Zange und knipst es in den kleinen Zeh jeder Person.“ Ihr Lebtag lang vergesse sie das nicht: „So viel ist der Mensch wert.“
So berichtete sie zwei Schülerinnen vom Matthias-Grünewald-Gymnasium, und die nahmen es auf, für die Schule. Das P-Seminar ihrer 11. Klasse erarbeitete Audioguides über Würzburg in der NS-Zeit. Die Schülerinnen, Leandra Strömer, 18, und Juli Heubeck, 17 Jahre alt, waren sprachlos. „Fast komisch“ sei dieser Moment gewesen, erzählt Heubeck, „weil sie auf Antwort wartete und wir so schockiert waren“.
Sieben Audioguides sind im Seminar entstanden
Sieben Audioguides sind entstanden im Seminar, unterstützt unter anderem von Bayerischem Rundfunk, Johanna-Stahl-Zentrum und der Stiftung Hören. Die Arbeiten, zwischen vier und sechs Minuten lang, dokumentieren, wie junge Leute versuchen zu verstehen, was ihre Vorfahren widerfahren ist und was sie anderen angetan haben. Man kann sie im Internet anhören.
Strömer und Heubeck erzählen, sie hätten während der Arbeit gemerkt, „wie gut es uns geht und dass das nicht selbstverständlich“ sei. Sie sähen die Ereignisse jetzt „viel mehr von der emotionalen Seite“. Vorstellen aber könnten sie sich die Geschehnisse nicht, das habe die Zeitzeugin Leopold auch immer wieder betont.
Wo es keine Zeitzeugen mehr gibt, werden die Schülerinnen im Audioguide selbst zu Zeugen
Drei Schülerinnen beschäftigten sich in ihrem Audioguide mit Unvorstellbarem, das sich bei ihnen um die Ecke abspielte, im Gestapo-Notgefängnis in der Friesstraße. Vor knapp vier Jahren veröffentlichte die Geschichtswerkstatt im Verschönerungsverein ihre Forschungen zu diesem – bis dahin verdrängten und vergessenen – Schreckensort im Frauenland, nahe dem Zwerchgraben, wo seit 1969 das Grünewald-Gymnasium steht.
Aurelia Moritz, Tinka Arlt und Yara Bader versuchten eine Annäherung, indem sie über das Gefängnis aus einem Raum berichteten, in dem sie sich offenbar nicht wohlfühlten: aus dem Schulkeller. Einerseits scheitern sie, weil mit jugendlichem Schauder Folter und Mord nicht greifbar zu machen sind. Andererseits hört man, wie die Auseinandersetzung mit der Not der Gefangenen ihnen zugesetzt hat. Wo es keine Zeitzeugen mehr gibt, werden die Schülerinnen im Audioguide selbst zu Zeugen. Sie sind glaubwürdig, weil sie ihr eigenes Entsetzen spüren lassen.
"Nicht naiv sein und alles glauben, was man ihnen sagt."
Andere Audioguides handeln vom früheren Güterbahnhof Aumühle, von dem aus die Nationalsozialisten die jüdischen Mainfranken in die Vernichtungslager verschleppt haben, vom Musiker Norbert Glanzberg, der Sintezza Rita Prigmore und vom Würzburger Anteil an den NS-Krankenmorden.
Die 94-jährige Ortrun Scheumann, die wie Leopold über den 16. März 1945 berichtete, schickt den jungen Leute im Audioguide eine Forderung: dass sie „selbstbewusst sein sollen, dass sie sich nicht reinreden lassen sollen, dass sie stolz sein sollen auf ihr Urteilsvermögen, dass sie nicht naiv sein sollen und alles glauben, was man ihnen sagt.“ Damals seien sie anders gewesen. Strömer und Heubeck berichten, „wie Ortrun Scheumann das erzählt hat, das war Wahnsinn“.
Die Audioguides sind zu hören unterwuerzburghoeren.wuerzburg-cool.de.