zurück
Der Krieg in einer Kiste
Erinnerungen: Vor mehr als 70 Jahren hat der Zweite Weltkrieg begonnen, jetzt sterben die letzten Zeitzeugen. Dies ist die Geschichte des Soldaten Eduard Röthlein, für den als junger Mann der Krieg ein Abenteuer und eine Lehre fürs Leben war.
Einsatz in Afrika: Soldat Eduard Röthlein in Tunis auf einem Foto aus dem November 1942.
Foto: Privatarchiv | Einsatz in Afrika: Soldat Eduard Röthlein in Tunis auf einem Foto aus dem November 1942.
Von unserem Redaktionsmitglied Achim Muth
 |  aktualisiert: 18.11.2012 21:19 Uhr

Es geht gerade eine Generation, die als letzte das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte erzählen kann. 73 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verschwinden nun die letzten Zeitzeugen auf Friedhöfen. Ihre Geschichten sind Erinnerungen an das dunkelste Kapitel Deutschlands, und dies ist eine davon: Es ist die Geschichte von Eduard Röthlein, dem Soldaten, und sie handelt von verlorener Jugend, der Wüste Afrikas, der „Queen Mary“ und der Gefangenschaft in den USA und Frankreich.

Er hat sie dem Reporter erzählt in stundenlangen Gesprächen am Küchentisch, bezeugt vom silbernen Jesus an der Wand und dem kleinen Engel neben dem Gewürzregal.

Der Ofen ist angeschürt. Eduard Röthlein ist auch im Alter ein stattlicher Mann, er gibt eine Ahnung davon, was für ein Bursche er damals war, Anfang der 40er Jahre. Groß. Schlank. Blond. In diesem alten Haus mit dem kleinen Hof in der Schustergasse 4 in Erlabrunn (Lkr. Würzburg) ist Eduard Röthlein am 13. Januar 1921 geboren worden, und wenn er das Drehbuch hätte schreiben können, es hätte auch hier geendet. Er ist der Sohn von Eusebius Röthlein, geboren 1881, und Coletta Herbert, geboren 1885. Eduard kommt bei einer Hausgeburt zur Welt, damals besteht das Dorf nur aus dem heutigen Altort. 720 Einwohner, eine Hauptstraße, zwei Bäckereien, drei Wirtschaften.

Eduard Röthlein erinnert sich an eine Kindheit voller Entbehrungen, voller Arbeit, voller Mühe. Die Eltern haben eine Landwirtschaft, einen Weinberg, ein Pferd und eine Kuh, „seit frühester Jugend musste ich mit raus aufs Feld.“ Im Haus gibt es kein warmes Wasser und die Toilette ist ein Klohäuschen im Hof neben dem Misthaufen. „Es gab keinen Kanal, nix, und bei Gewitter lief die Sudel die Straße entlang“, sagt Eduard Röthlein. Geheizt wird das Haus im Winter mit einem Holzofenherd.

Er besucht die Volksschule im Ort, 1934 wird er entlassen und findet Arbeit in einer Kistenfabrik. Als die Nazis 1933 an die Macht kommen, ist er ein Kind von zwölf Jahren, aber er kann sich gut erinnern: „Wir waren begeistert“, gibt er zu. Die Zeit ist geprägt von hoher Arbeitslosigkeit, großer Unsicherheit, die Inflation war immens. „Man hat gesehen, dass ein Nazi leichter eine Stelle bekommen hat.“ Die neue Hierarchie übt ihren Reiz aus. Die Nazis bestimmen schnell das öffentliche Leben auch in Unterfranken, das Staatsarchiv im Nordflügel der Würzburger Residenz ist voll mit Akten der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), die das widerspiegeln. In einer Anordnung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) vom 24. August 1935 von Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess wird deutlich, wie sehr die Nazis versuchten, die Menschen zu beeinflussen: „Der Führer hat der Partei die Aufgabe gestellt, alle deutschen Menschen zu nationalsozialistischem Denken und Handeln im Dienst am deutschen Volk zu erziehen.“ Deshalb sollten alle Buben und Mädchen „körperlich und geistig vorbereitet“ werden: „Es ist deshalb selbstverständlich, dass alle, die es mit ihrem Bekenntnis zum Führer und seiner Bewegung ehrlich meinen, aus Verantwortungsbewusstsein gegenüber der deutschen Zukunft ihren Kindern den Weg zur Hitlerjugend freigeben und das Werk des Führers unterstützen.“

Es ist eine Zeit, die von Armut und Angst geprägt ist, und in der Misstrauen und Denunziantentum geschürt werden. In der Anordnung Nr. 166/37 vom 20. November 1937 an alle Gauamtsleiter, Kreisleiter und Ortsgruppenleiter der NSDAP wird unter dem Vermerk „Nicht zur Veröffentlichung, GEHEIM!” deutlich, wie der Druck steigt: „Ganz besonders betone ich, dass alle der Partei zur Kenntnis kommenden Fälle von hoch- und landesverräterischen Umtrieben ohne jeden Zeitverlust der Geheimen Staatspolizei mitzuteilen sind.“ Auch in Erlabrunn, das zur NSDAP-Ortsgruppe Thüngersheim gehört, wird sich gefügt. Im Staatsarchiv gibt es dazu Akten wie den Fall aus dem Februar 1939. An die Kreisleitung meldete der Ortsgruppenleiter einen Verdächtigen in einer Wirtschaft: Der Reisende habe dort einige Mass Bier bezahlt und „gebrauchte ständig den kommunistischen Gruß, die geballte Faust“. Es gab in der Folge Verhöre anderer Gäste, darunter ein 34-Jähriger aus dem Ort, ein SA-Oberscharführer, der im März 1939 zu Protokoll gab: Er habe ohne weiteres den Eindruck, dass der Reisende „dem Nationalsozialismus noch abseits steht und ein großer Lump bezw. Luftikus ist“.

Auf diesem Nährboden wächst Eduard Röthlein heran und meldet sich freiwillig zu einer Musterung für die Waffen-SS. An jenem Morgen, ein Sonntag, „machte ich mich früh zusammen mit einem Schulkameraden auf den Weg nach Thüngersheim auf der anderen Seite des Mains. Ja, wir waren ein bissle begeistert und haben auch alles gar nicht überblickt.“ Röthlein besteht die Musterung, doch irgendwie beschleichen den jungen Mann dann Zweifel, er zieht seine Zusage zurück.

Als der Krieg ausbricht, ist Eduard Röthlein 17 Jahre alt. Ein Junge noch, und doch gestählt von der Arbeit. Sein Vater war selbst als Soldat im Ersten Weltkrieg in Frankreich, überlebte dort den Stellungskrieg. Am 3. Februar 1941 erhält Eduard Röthlein seinen Einberufungsbefehl, er reist mit dem Zug nach Fürth. In der Armee wird der Erlabrunner an einer FlaK 8,8 ausgebildet, einer Zwölf-Tonnen-Zugmaschine, mit der die Soldaten feindliche Flugzeuge beschossen. Flugabwehrraketen dieses Typs wurden ab 1933 in Serie produziert und allein im Oktober 1944, so schreiben es Geschichtsbücher, werden 3,1 Millionen Granaten damit abgeschossen. Insgesamt, heißt es, sterben bis Kriegsende 1945 rund 100 000 alliierte Soldaten durch den Granatenhagel.

Fast ein Dreivierteljahr dauert die Ausbildung, dann wird es ernst: Röthlein und seine Kameraden müssen nach Köln, wo der Dom und die Stadt beschützt werden sollen, anschließend werden sie nach Berlin abkommandiert. Später geht es weiter nach Leipzig, wo die Leunawerke, eine für die Nazis wichtige Chemiefabrik der BASF, des Schutzes bedürfen. Aus dieser Zeit stammt auch ein vergilbtes Bild, das Eduard Röthlein zusammen mit sieben Kameraden am Weihnachtsabend zeigt. Sie sind alle jung, gut gelaunt. Auf dem Tisch stehen sechs Weinflaschen und in der Ecke ein Weihnachtsbaum, von dem das silberne Lametta herabhängt wie Eiszapfen. Eduard Röthlein hat viele Erinnerungsstücke, die er in einem Karton im Schlafzimmerschrank aufbewahrt. Zerknitterte Ausweise, Essensmarken, Musterungsbescheide: der Krieg in einer Kiste. Darin auch das Soldbuch mit der Nummer 126, in dem Röthleins Beförderung zum Gefreiten am 1. Dezember 1941 ebenso vermerkt ist wie seine Gasmaskengröße: 2. Das blaue Büchlein mit dem Adler und dem Hakenkreuz diente dem Soldaten gleichzeitig als Personalausweis und enthielt auf der zweiten Seite die „10 Gebote für die Kampfführung des deutschen Soldaten“.

Von Leipzig führt den jungen Soldaten seine Deutschlandreise nach Rostock an die Ostsee. Immer wieder haben die Soldaten die feindlichen Flieger im Fadenkreuz – und umgekehrt. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, und irgendwann, so Röthlein, stumpft ihn das ständige Feuer ab. Für ihn ist jetzt jeder Tag eine Existenzfrage: „Du musstest ja immer damit rechnen, dass du der Nächste bist, der dran glauben muss.“ Er ist an der FlaK Richtkanonier. Er sitzt neben dem Gefährt, und wenn der Geschützführer „Feuer frei“ schreit, schießt er. „Das war schon ein Feuerwerk, das wir veranstaltet haben. Eine Granate hatte ja 30 Pfund.“ Selbst hat Eduard Röthlein Glück, bleibt gesund, unversehrt, „ich war nie auch nur verwundet“.

Dass parallel zum Krieg von deutschen Nazischergen an der Zivilbevölkerung fürchterliche Gräueltaten verübt wurden, dass Konzentrationslager gebaut und benutzt wurden, das hat Röthlein alles nach und nach erfahren: „Ich fand das nie richtig. Die Juden waren doch Menschen wie wir. Wir als Soldaten waren aber nur in militärische Aktionen verstrickt.“

Im November 1942 hat Eduard Röthlein acht Tage Einsatzurlaub und reist heim nach Erlabrunn. Doch von Erholung keine Spur, der Soldat muss in der elterlichen Landwirtschaft mit anpacken. „Nach zwei Tagen kam meine jüngere Schwester Klara ganz aufgeregt aufs Feld gelaufen. Dort, wo heute das Gemeindezentrum und das Feuerwehrhaus stehen, war ich gerade dabei, die Wurzel eines alten Apfelbaumes rauszuhacken. In der Hand hielt sie ein Telegramm, und mir war gleich klar, dass der Urlaub zu Ende war.“ Das Telegramm ist ein Befehl. Röthlein wird von seinem Vorgesetzten zurückgerufen nach Rostock. An einem klammen Novembertag 1942 verlässt Eduard Röthlein seine Eltern, er wird sie nie mehr wiedersehen.

Die Ostseestadt ist das Sammelbecken, Ausgangspunkt einer Odyssee: Mit dem Güterzug geht es längs durch den europäischen Kontinent hinunter bis an den südlichsten Zipfel, nach Palermo auf Sizilien. Einige Tage später setzt sich der Trupp wieder Richtung Norden in Bewegung: „Dann hieß es plötzlich, dass wir nach Nordafrika kommen.“ Vielleicht liegt es an seiner Art, dass Eduard Röthlein weniger Angst denn Neugier empfindet. Mit der legendären JU 52 fliegen die Soldaten von Neapel aus nach Tunesien. In den 30er Jahren macht die „Tante JU“, wie das Flugzeug von Liebhabern bald gerufen wird, fast 75 Prozent der Lufthansa-Flotte aus. Nach der Enteignung von Hugo Junkers durch die Nazis wird der Flieger hauptsächlich im militärischen Bereich eingesetzt, später vornehmlich für den Transport.

In einer dieser Maschinen also fliegt Röthlein Ende November 1942 auf den unbekannten Kontinent Afrika und landet in der tunesischen Hauptstadt Tunis. Es ist der erste und bleibt der letzte Flug seines Lebens. In der Wüste Nordafrikas tobt zu dieser Zeit der Kampf zwischen den deutschen und Mussolinis italienischen Soldaten gegen die amerikanischen und britischen Alliierten. Die Leitung des deutschen Afrikakorps hat seit 1941 Generalfeldmarschall Erwin Rommel. Unter seiner Führung wird im Juni 1942 die britische Festung Tobruk, eine libysche Stadt am Mittelmeer, eingenommen. Vier Monate später allerdings starten die Alliierten ihre erfolgreiche Gegenoffensive, und es ist diese Zeit der deutschen Aussichtslosigkeit in Afrika, in der „Tante JU“ mit Eduard Röthlein an Bord landet. Der Erlabrunner erinnert sich noch gut an die „herrliche Stadt Tunis“. Der Soldat kommt unter das Kommando von Generalfeldmarschall Albert Kesselring. Der 1885 im unterfränkischen Marktsteft geborene Kesselring stammt aus der ortsansässigen Bierbrauer-Dynastie.

Was Röthlein also nicht weiß, als er in Afrika in den Kampf geschickt wird: Der Feldzug ist eigentlich schon verloren. Ein Bild von damals zeigt ihn als Stenz in Wüstenuniform mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, akkurater Frisur und dem Reichsadler am rechten Revers. Er war als tropentauglich gemustert worden. „Die Hitze hat mir eigentlich nicht viel ausgemacht. Ich war schon immer eher kälteempfindlich“, sagt Röthlein, „das ist noch heute so“. Wie festgefroren sind seine Erinnerungen an die strengen Winter der Jahre 1941, 1956 oder 1962/63, „damals gab es jeweils über lange Zeit Temperaturen bis minus 20 Grad und viel Schnee.“

Im Mai 1943 ist für Eduard Röthlein der Krieg vorbei. In der Wüste gerät er mit seinem Trupp in amerikanische Gefangenschaft und wird auf ein Schiff gebracht. Von dort geht es durch die Straße von Gibraltar bis hoch nach Schottland, wo er mit anderen Gefangenen im Fußball-Stadion von Glasgow übernachtet. Im Hafen der Stadt liegt bereits die „Queen Mary“, damals das größte Passagierschiff der Welt. Der Dampfer mit seinen 200 000 PS und den 81 235 Bruttoregistertonnen war 1936 vom Stapel gelaufen. Das Ungetüm ist 310,74 Meter lang und erreicht als Höchstgeschwindigkeit 33 Knoten, während des Krieges wird es zum Transport von Soldaten oder Gefangenen eingesetzt.

Auf diesem Giganten der Meere fährt Eduard Röthlein am nächsten Morgen in eine ungewisse Zukunft, zusammen mit 15 000 deutschen Kriegsgefangenen verlässt der Koloss den schottischen Hafen. Die Soldaten sind im Unterdeck untergebracht, „einmal am Tag durften wir eine Stunde nach oben“, erinnert sich Röthlein an die Minuten mit dem Blick auf das unendliche Wasser. Nach fünfeinhalb Tagen und Nächten auf dem Atlantik erreicht die „Queen Mary“ den Hafen von New York. Rasch werden die Gefangenen aufgeteilt, und Eduard Röthlein findet sich in einem Zug Richtung South Carolina wieder. Im Fort Jackson, einem Ausbildungszentrum der US-Army, das in ein Gefangenenlager umfunktioniert worden ist, endet die Reise. „Wir wurden zur Heuernte eingesetzt“, erzählt Röthlein, und bald sieht er das erste Mal in seinem Leben Melonen, die sie ernten müssen. „Zum Holzhacken wurden wir regelmäßig mit einem Lkw in den Wald gefahren.“ Sie sind in Baracken und Zelten untergebracht, „und einmal wurde das Fort evakuiert, weil ein Hurrikan im Anrücken war“. Das Lager war stets bewacht mit bewaffneten Posten, „über eine Flucht habe ich mir nie Gedanken gemacht. Das war ja aussichtslos. Wenn ich das versucht hätte, würde ich heute nicht mehr leben. Ich habe es erlebt, wie ein Flüchtling erschossen wurde.“ Mit der Heimat steht Röthlein in Kontakt, alle Briefe müssen allerdings durch die Zensur. Einige davon liegen in seiner Kiste. Etwa der vom 10. August 1944 an „Eusebius Röthlein, Erlabrunn bei Würzburg, Great Germany“. Darin schreibt Röthlein: „Meine Lieben: Eure Briefe vom 17.5., 25.4. und den von Paula vom 13.5. mit vielem Dank erhalten. Ich kann nicht verstehen, dass ihr so wenig Post von mir bekommt, ich habe doch immer geschrieben.“ Dann wurde von den amerikanischen Zensoren eine große Passage des Briefes mit dicker Tinte geschwärzt. „Weshalb, das weiß ich nicht“, sagt Röthlein fast 70 Jahre später, als er das Papier in seinen knöchrigen Fingern hält. In dem Brief geht der Text weiter: „Wie ich aus euren Zeilen ersehe, habt ihr ja wieder eine gute Obsternte zu erwarten, was mich sehr freut. Gesundheitlich geht es mir immer noch sehr gut.“

Letztlich hat er seine Zeit in der US-Gefangenschaft in guter Erinnerung: „Wir wurden gut behandelt“, sagt er, „in Russland, oh weh, da hätte es anders ausgesehen, mein Lieber.“ Im Fort Jackson lernt Eduard Röthlein Coca Cola kennen, zwei Kantinenmarken zu ein und fünf Cent hat er noch. „Aber Alkohol haben wir keinen bekommen.“ Zur Heuernte arbeitet er auf Farmen, die so „groß waren wie die ganze Erlabrunner Flur“. An Pakete kann er sich nur an eines erinnern, es enthält die Reste eines Weihnachtskuchens, den ihm eine ausgewanderte Verwandte aus New York geschickt hatte. Die Wächter im Fort haben das Geschenk allerdings in einen Bröselhaufen verwandelt, um sicherzugehen, dass keine Waffen eingebacken wurden. Erst dann durfte Röthlein die Krümel essen.

Während Eduard Röthlein in US-Gefangenschaft sitzt, gewinnen die Alliierten in Europa den Krieg. „Der Hitler hat ja einen Größenwahn gehabt. Die ganze Welt war ja gegen uns“, sagt Röthlein in seiner Küchenstube. Im März 1946, ein Jahr nach Kriegsende, kommt ein besonderer Tag: Eduard Röthlein und einigen seiner Kollegen wird gesagt, dass sie nach Hause dürfen. Mit dem Schiff geht es nach Le Havre. Doch die Aussicht auf die Heimat erwies sich als Trugschluss, von einem französischen Kommando wird Eduard gemustert und als Straßenbauarbeiter eingeteilt. In Rennes in der Bretagne musste er schuften, bevor er von einem Militärarzt nochmals gemustert und als bergwerktauglich eingestuft wurde. Nun ging es nach Lille in den schwarzen Kohle-Norden Frankreichs, wo aus ihm Eduard, der Mineur wurde. 500 Meter unter Tage ackerte er als Hauer. Von 14 bis 22 Uhr ging die Schicht im Schacht. Ausgerüstet mit Presslufthammer, Laterne und Stirnleuchte kratzte er die Kohle aus dem Fels, „dabei hatte ich vorher noch nicht mal ein Bergwerk von oben gesehen. Die ersten acht Tage hatte ich ganz schön Muskelkater.“ Nach der Schicht ging es zurück ins Lager und ins Bett. Trotz der harten Arbeit ist er letztlich froh, wie es gekommen ist. „Wir hatten immer genug zu essen. Wäre ich im Russlandfeldzug gewesen, ich wäre nicht mehr nach Hause gekommen.“

Am 21. Oktober 1948 ist Eduard Röthlein aus der Gefangenschaft entlassen worden. Er kehrte heim in sein Dorf, in dem seine Eltern zwischenzeitlich gestorben sind. „An Krebs“, sagt er. Der junge Mann zog wieder in das Haus in der Schustergasse. 1949 kam er in den Dienst des Wasser- und Schifffahrtsamtes, arbeitete 30 Jahre an der Erlabrunner Mainschleuse. Er heiratete, das Paar bekam zwei Kinder. In einen Verein ist er nicht eingetreten. „Ich hatte die Schnauze voll von Gefolgschaft.“ Das politische Geschehen aber beobachtet er genau. „Die von der NPD, das sind die letzten Heuler, alles verkappte Nazis“, sagt er, und den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr kann er auch nicht verstehen: „Was tun deutsche Soldaten dort? Alle, die das anordnen, gehören selbst dorthin, damit sie wissen, wie Krieg ausschaut.“

Lesen kann Eduard Röthlein diese Geschichte, die seine Geschichte ist, nicht mehr. Das letzte Gespräch mit ihm findet Anfang dieses Jahres statt, da lebt er bereits in einem Pflegeheim in Zellingen (Lkr. Main-Spessart). Im Alter von 91 Jahren stirbt Eduard Röthlein am 7. Mai 2012.

Schustergasse 4: Eduard Röthlein mit 90 in seiner Küche in Erlabrunn.
Foto: Achim Muth | Schustergasse 4: Eduard Röthlein mit 90 in seiner Küche in Erlabrunn.
 
Themen & Autoren / Autorinnen
BASF AG
Deutsche Lufthansa AG
Erwin Rommel
Gestapo
Hitlerjugend
NPD
NSDAP
Residenz Würzburg
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen