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LESERANWALT
Leseranwalt: Zwei Fälle, in denen vermeintliche Echtzeit leider noch überholt worden ist
Ein Nachruf auf den emeritierten Papst erschien, als er noch lebte. Dies rügte jetzt der Presserat. Die Rüge erinnert Leseranwalt Anton Sahlender ein eigene Voreiligkeit.
Uhren lassen sich verstellen. Aber  auch im Internet  können seriöse Nachrichten tatsächlichen Ereignissen nicht zuvorkommen.  Das kann passieren, wenn es an journalistischer Sorgfalt fehlt. 
Foto: dpa | Uhren lassen sich verstellen. Aber  auch im Internet  können seriöse Nachrichten tatsächlichen Ereignissen nicht zuvorkommen.  Das kann passieren, wenn es an journalistischer Sorgfalt fehlt. 
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 18.06.2023 02:23 Uhr

Dass sie im Internet Ereignisse in Echtzeit weltweit verbreiten können, preisen auch die Redaktionen von Tageszeitungen oft als einen Vorzug an. Live - das ist nicht nicht immer unproblematisch und kann Folgen haben, wenn nicht verantwortlich damit umgegangen wird. Uhren lassen sich bekanntlich verstellen. Doch selbst vielfältige technische Möglichkeiten oder künstliche Intelligenz (KI) sollten nicht den ehrgeizigen Versuch auslösen, Zeit und Wirklichkeit mit Nachrichten ganz zu überholen. Das muss scheitern. Auf solche Gedanken hat mich eine Rüge des Deutschen Presserates gebracht.

Schwere Verletzung redaktionell Sorgfaltspflicht

Vor rund einem Vierteljahr wurde ein Nachruf auf den emeritierten Papst Benedikt XVI. schon verbreitet, als dieser noch am Leben war. Dem lag ganz gewiss kein pietätloser digitaler Überholversuch zugrunde. Denn es handelte sich dem Vernehmen nach um ein Versehen, ein redaktionelles.

Nachgewiesen wurde das der Redaktion von taz.de, die sich dafür eine der jüngsten 17 Rügen des Presserats eingefangen hat. Der erkannte darin nämlich eine "schwere Verletzung redaktioneller Sorgfaltspflicht". Wie kann es dazu kommen?

Nachrufe, die schon zu Lebzeiten entstehen

Ich will es Redakteurinnen und Redakteuren der taz mit diesem Beitrag nicht noch schwerer machen. Dass ein Versehen vorgelegen hat, ist glaubwürdig. Denn viele andere Redaktionen waren gewiss auch nicht ganz ungefährdet. Das liegt daran, dass sich Journalisten nicht unnötig überraschen lassen wollen. Also würdigen sie zuweilen berühmte Personen schon vorsorglich, so als  wären sie bereits gestorben. Sie schreiben "kalt" Nachrufe auf sie, das noch zu deren Lebzeiten.

Das ist in der Branche nicht unüblich und geschieht dann aber streng vertraulich nur fürs eigene Archiv. Das wird organisiert, wenn es vermehrt Anzeichen gibt, dass ein solcher Text bei einer bestimmten Persönlichkeit bald nötig werden könnte.

Wenn sich die Distanz vom Leben zum Tod verliert

Den emeritierten deutschen Papst, der am 31. Dezember 2022 gestorben ist,  betraf diese redaktionelle Vorsorge hierzulande gewiss in vielen Medien. Aber nur einmal war sie, wie uns die Rüge des Presserates nahebringt, nicht sorgfältig genug verwahrt geblieben. Damit wurden ungewollt Wirklichkeit und Echtzeit überholt. Dem gilt es stets vorzubeugen. Denn im täglichen Nachrichtengeschehen verliert sich in den Redaktionen zuweilen die Distanz vom Leben zum Tod. Das verlangt Professionalität. Vertraulichkeit und Sorgsamkeit sind zum Schutz der Menschen und im Sinne von Wahrhaftigkeit geboten.

Verdiente Persönlichkeit in den Todesanzeigen

Dazu eine Erinnerung. Denn Sorgsamkeit ist auch mir in meinen frühen Berufsjahren bei einem Todesfall leider mal gänzlich abgegangen. Damals kamen speziell sonntags mittels Todesanzeigen Informationen über gerade Verstorbene aus der Region in der Redaktion an. Daraus, über Namen, Wohnort, Beruf und Alter, habe ich eines Sonntags sofort eine verdiente lokale Persönlichkeit erkannt. Über die hielt das Archiv alles bereit für den fälligen Nachruf in der Zeitung. Die verbreitete ihn tags darauf.

Der Nachruf - zu früh, der Todgeschriebene lebte

"Dankschön, Main-Post", hat mir ein Anrufer Montagvormittag freudig erregt am Telefon ausgerichtet. "Jetzt hab' ich tatsächlich doch noch selber noch erleb' dörf, was los ist, wenn ich mal sterb'."

Buhhh. Sie haben es auch erkannt. Mein Nachruf hatte den lebendigen von zwei verwechselbaren Senioren getroffen. Ihn hatten viele guten Wünsche, in die überraschte Besucher und Anrufer ihre geplanten Kondolenzen verwandelten, frühmorgens schon ein "neues Leben" beschert.

Gelassenheit des Betroffenen rechtfertigt nicht den schweren Fehler

Versöhnlich hat der Mann nach seiner vorzeitigen irdischen Begegnung mit eigener Endlichkeit noch erklärt: "Da sieht man, wozu eine Zeitung gut ist." Nochmal Glück gehabt. Zumindest hat sich beim Presserat niemand beschwert. Bewundernswerte Gelassenheit eines von der eigenen Todesnachricht Betroffenen rechtfertigt dennoch keinen solchen Fehler. Es gibt Menschen, die würde er schwer treffen und lange belasten. In den beschriebenen Fällen folgte meine Entschuldigung in der Zeitung - und bei taz.de zumindest noch zeitnah die Löschung des Papst-Nachrufes in ihren Internetangeboten.

Die Botschaft, die zurückbleibt

Medien dürfen Horoskope liefern, können Ereignisse vorher ankündigen und schon kühne Prognosen oder Meinungen dazu verbreiten. Die müssen jedoch als solche erkennbar bleiben. Wahrsagen können sie nicht. Sie sind aber einem wahrhaftigen Umgang mit Tatsachen und der Wirklichkeit verpflichtet, die niemanden von uns loslässt. Dabei kann es irgendwie besonders beruhigen, dass selbst mit künstlicher Intelligenz der Echtzeit des Todes nicht seriös vorzugreifen ist, weder mit digitalen noch mit analogen Nachrichten. Das ist eine Botschaft, die zurückbleiben kann. 

Anton Sahlender, Leseranwalt

Siehe Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Auch darüber hat der Leseranwalt schon geschrieben:

2008: "Die Fleischwerbung im Bericht über einen Leichenfund"

2008: "Wo sich Gut und Böse auf engstem Raum begegnen können"

2014: "Fehler in der Zeitung dürfen nicht zu unvermeidlichen Zeiterscheinungen werden"

2018: "Enttäuschung und Erwartung am Jahresende 2017"

2020: "Ein bundesweit beachteter kurzer Sargtransport"

2020: "Eine Empfehlung für die besorgte Großmutter"

2021: "Wie ein Leser zu einer klaren Überschrift beigetragen hat"

2022: "Warum die Bibel für unabhängige Journalisten nicht bindend ist"

 
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