Gegenwärtig erreichen die Redaktion ungewöhnlich viele Lob- und Dankadressen für die Zeitung. Sie ist in den Tagen, in denen Familien an ihr Heim gebunden sind, mit vertrauenswürdigen Informationen nahezu unverzichtbar geworden. Das ist in schwierigen Zeiten für beide Seiten erbaulich. Kritik kommt – weil ich mich dafür anbiete – zuweilen bei mir an. Aber auch das ist seltener geworden.
Zuletzt war eine Leserin über eine Seitenfolge in der gedruckten Zeitung in der Samstagsausgabe vom 18. April unglücklich. Sie fand es nicht gut, dass ausgerechnet auf der Rückseite der Kinderseite "Pfiffikus" ein Gespräch mit der Sexualberaterin Ruth Westheimer erschienen ist. Überschrift: "Sex sollte etwas Privates bleiben".
Die Befürchtung
Die Leserin hat zwar nichts gegen diesen Artikel, fragt aber wörtlich: „Kann man denn nicht aufpassen, auf welche Seite man so einen Artikel druckt?“ Sie begründet ihre Besorgnis damit, dass sie die Kinderseite so nicht ihren Enkeln übergeben könne. Unsere Kinder würden sowieso mit zu viel Sex überschüttet. So sei es kein Wunder, wenn es in Schulen schon zu sexuellen Übergriffen komme. Sie bittet das zu überdenken.
Ich habe das getan. Bei allem Respekt halte ich ihre These für gewagt. Wenn es denn solche Übergriffe gibt, dürften die wohl schwerlich auf Tageszeitungen zurückzuführen sein. Und Kanäle, die Nutzer mit zweifelhaften Sex überschütten, die gibt es ohne Frage, aber in anderen Medienwelten.
Die Chance
Dagegen bleibt Ruth Westheimer im Gespräch seriös und zurückhaltend. Sie spricht die Bedeutung von Sexualität in Beziehungen an. Überdies widmet sich das Interview mit ihr dem Holocaust, den sie überlebt hat. Sie sagt, dass es ihr sehr wichtig ist, dass nachfolgende Generationen darüber Bescheid wissen. Darum habe sie für Schüler das Buch „Roller-Coaster Grandma“ (Die Achterbahn-Oma) geschrieben. „Darin“, so Frau Westheimer, „spreche ich zwar nicht direkt über Auschwitz, aber sehr wohl darüber, dass mein Vater von den Nazis geholt worden ist".
So meine ich, das Interview mit Frau Westheimer bietet die Chance für klärende Gespräche mit Kindern oder Enkeln. Es ist gut, wenn man sie nutzt. Das Interview muss jedenfalls kein Tabu für Kinder sein.
Klar bleibt: In Tageszeitungen begegnen sich gegensätzliche Nachrichten, solche von Krieg und Frieden, Glück und Unglück oder Leben und Tod. Darin spiegelt sich Wirklichkeit, von der uns Teile erfreuen, andere erschrecken.
Besondere Verantwortung
Erfreulich ist, dass derzeit die Tageszeitung offenkundig in Familien verstärkt genutzt wird und damit auch von Kindern, für die es spezielle Angebote (wie Pfiffikus) gibt. Ich habe der besorgten Großmama geschrieben, dass ihre Gedanken angekommen sind und die Redaktion sich durchaus ihrer besonderen Verantwortung bewusst ist, die sich in diesen Tagen und Wochen daraus ergibt.
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2014: "Glückwünsche stehen neben Trauer, weil sich auch im Leben einer Familie Freud und Leid begegnen"
2014: "Für Smartphone und Sex auf der Titelseite hatten viele Leser kein Verständnis"
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2019: "Sexueller Missbrauch: Bitte keine Details"
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch: www.vdmo.de