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LESERANWALT
Leseranwalt: Warum sich ein Flug-Chaos im Titel selbstständig gemacht hat
In einer Überschrift im Wirtschaftsteil wird aus Vermutung voreilig eine Nachricht. Für Leseranwalt Anton Sahlender ein Sündenfall, der Gefahren von Schlagzeilen offenbart.
In Überschriften bei den Fakten bleiben, nicht vermuten: Ein Artikel über erwartete Warnstreiks bei der Lufthansa erhielt einen verfälschenden Titel. Das Foto zeigt eine Kundgebung am Flughafen Hamburg am 17. Februar. 
Foto: Bodo Marks, dpa | In Überschriften bei den Fakten bleiben, nicht vermuten: Ein Artikel über erwartete Warnstreiks bei der Lufthansa erhielt einen verfälschenden Titel. Das Foto zeigt eine Kundgebung am Flughafen Hamburg am 17.
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:52 Uhr

Es ist in einer überinformierten Gesellschaft schwer, noch Aufmerksamkeit zu finden. In Zeitungen soll das gerade mit Hilfe der Überschriften gelingen. Erkenntnisse und Regeln helfen Redaktionen, Schlagzeilen zu kreieren, die ins Auge fallen. Sie machen Themen von Nachrichten schnell sichtbar und deren Kernaussagen oder die Neuigkeiten, die die daraus hervorgehen. Das Ziel: Leserinnen und Leser sollen stets gleich erkennen, was für sie wichtig ist.

Was auch immer Titel sagen: Es muss korrekt sein!

Aus fortwährenden Messungen und Erfahrungen entspringt eine Menge Wissen über Reichweiten von Überschriften, die viele Kriterien erfüllt haben, die also auch neugierig machen oder überraschen können. Man weiß zudem, welche Worte Erfolg versprechen. Dem Wissen wird gerade für die erfolgreiche Verbreitung journalistische Beiträge im Internet große Bedeutung beigemessen. Dass Stichwort heißt "Suchmaschinen-Optimierung", kurz SEO (engl. "Search Engine Optimization"). Doch was Titel auch immer sagen, es muss korrekt sein!

Für Überschriften wird große redaktionelle Sorgfalt erwartet

Ob ihrer Bedeutung darf bei der Überschriftengestaltung größte Sorgfalt der Redaktion erwartet werden und vor ihrer Verbreitung ausreichende Kontrollen. Ausnahme sollte es bleiben, dass sich Leser danach darüber beschweren müssen. Wohl ob der mit großen Lettern hervorgehobenen Rolle, geschieht das nicht selten. Einige Male habe ich hier schon Erklärungen geliefert. Eine Überschrift aber, die greife ich diesmal selbst auf. Sie eignet sich um mediale Gefahren sichtbar zu machen.

Der Text bestätigt das Chaos aus der Überschrift nicht

"Das Flug-Chaos geht los" - so lautet die Schlagzeile auf der Wirtschaftsseite der Zeitung vom 17. Februar. Darin kommt keine Vermutung mehr zum Ausdruck, sondern eine Feststellung, also eine Nachricht. Das angesagte Chaos wird in zwei Unterzeilen unter dem Titel verdeutlicht. Die sagen an, dass nach den IT-Problemen der Lufthansa ganztägig ein Warnstreik ansteht und wissen im voraus, dass damit die Geduld der Fluggäste wieder auf eine harte Probe gestellt wird.

Dies schafft einen Konflikt: Denn der Text deckt oder bestätigt das Chaos, mit dem er überschrieben worden ist, überhaupt nicht. Zu lesen ist dazu nichts. Und das Archivbild, das den Beitrag illustriert, strahlt eher Ruhe aus. 

Die Deutsche Presseagentur hat Nutzwert geliefert

Der Artikel selbst, der sorgt also eher für Klarheit zum bevorstehenden Tarifkonflikt und den erwarteten Folgen. So viel wie eben zu diesem Zeitpunkt möglich. Er informiert über Flugausfälle und betroffene Flughäfen, über Hilfsflüge ins Erdbebengebiet, über die Auswirkung auf die Münchner Sicherheitskonferenz und erklärt, was Passagiere tun können.

Die Deutsche Presseagentur hat sich mit diesem Text um Nutzwert bemüht. Aber die Überschrift, die in der Redaktion in Würzburg entstand, vernichtet per Reizwort "Flug-Chaos" jeden Hauch des allenthalben angestrebten konstruktiven Journalismus.

Voreilige Feststellungen als Nachrichten vermittelt

Mit dem Framing "Chaos" bedient der Titel einen negativen Bedeutungsrahmen für betroffene Flughäfen und für die Fluggesellschaft. Ein kritischer "Mainstream", der sich schon nach deren IT-Problemen abgezeichnet hat, wird dabei verstärkt. Der Warnstreik droht dahinter zu verschwinden. Er wird gleich als Geduldsprobe für Passagiere geframt.

Journalistisches Ergebnis: Eine Schlagzeile hat sich vom Artikel gelöst, hat sich selbstständig gemacht. Sie erfüllt nicht mehr ihre eigentliche Aufgabe, vermittelt voreilige Erwartungen statt Nachrichten.

Die Überschrift bleibt ein Sündenfall

Reißerisches Clickbaiting könnte nun der Redaktion unterstellt werden. Aber der Chaos-Titel stand nur in der Zeitung. Er entspricht dort einem kritikwürdigen Aufregungsjournalismus. Unzulässig wäre er in den Internet-Angeboten dieser Redaktion gewesen, für die es bekanntlich der Reichweite bedarf. Keine Optimierung für Suchmaschinen könnte die Überschrift dort rechtfertigen, weil sie verspricht, was der Beitrag nicht hält. Das bringt diesen in einen entscheidenden Widerspruch zum Pressekodex in seinen Ziffern 1 und 2, zu Wahrhaftigkeit und Sorgfalt. Diese Grundsätze finden sich auch in den journalistischen Leitlinien der Main-Post Redaktionen.

Schlussbemerkung und ein Hinweis

Selbst wenn irgendwann festgestellt würde, dass an jenem Tag nachweislich ein "Flug-Chaos" eingetreten ist, bleibt die Überschrift ein Sündenfall.

Mit meinen Kolumnen suche ich keine Schuldigen. Ich öffne damit den Blick auf redaktionelle Arbeit. Der Redaktion sollen sie helfen, Ursachen zu finden und abzustellen.

Anton Sahlender, Leseranwalt

Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Der Artikel aus der Main-Post vom 17. Februar 2023. Die Überschrift ist nicht korrekt.
Foto: Repro Sahlender | Der Artikel aus der Main-Post vom 17. Februar 2023. Die Überschrift ist nicht korrekt.

Frühere ergänzende Leseranwalt-Kolumnen:

2023: "Überschriften sollen Aufmerksamkeit erregen, aber sie können auch trügerisch sein"

2022: "Wer in der Redaktion verantwortlich ist für einen reißerisch wirkenden Titel"

2022: "Warum fragende Überschriften nicht für Klein-Erna entstehen"

2020: "Clickbaiting verspielt Glaubwürdigkeit"

2018: "Reichweite ist nicht alles"

2016: "Trügerische Überschrift"

2016: "Vom Bewusstsein für eine korrekte Überschrift im Stich gelassen"

2014: "Artikel mit Selbstverständlichkeiten in der Überschrift überblättern viele Leser einfach"

 
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Kommentare
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  • Online
    Die Überschrift ist die Königsdisziplin. Heutzutage scheint das in Vergessenheit zu geraten. Übrigens gehört der Leseranwalt auf Seite 2 am Samstag. Dort fände er das Gehör, das er verdient hat.
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  • antonsah
    @Online ... auf Seite 2 stand sie einst, die Kolumne, ab 2004. Damals hatte sie bei einer Nutzungsuntersuchung (readerscan) ordentliche, manchmal die besten Werte, zumindest auf dieser Meinungsseite. Es freut mich, dass sie ihr mehr Gehör verschaffen wollen. Es ist immerhin ein Beitrag und eine Einrichtung, wie sie in Deutschland nur wenige Zeitungen anbieten, siehe Vereinigung der Medien-Ombudsleute www.vdmo.de. Ich denke, die Leser-Seite mit Meinungszuschriften, die sollten auch samstags mehr in den aktuellen Blickpunkt gerückt werden. Das befördert den Leseranwalt mit und stärkt Interaktivität im Rahmen der Möglichkeiten einer gedruckten Zeitung. Hinzu kommen Medienbildung und selbstreflexive, selbstkritische Beiträge und mehr Aufmerksamkeit für die Leserschaft und ihre Kritiken. Ich wirke zwar sehr unabhängig von außerhalb der Redaktion, aber Zeitung und Platzverteilung obliegen selbstverständlich der Redaktion, bzw. Chefredaktion.
    Anton Sahlender, Leseranwalt
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  • mponline
    Herr Sahlender, Sie waren und bleiben auch im Ruhestand ein kritischer Beobachter und Kommentator der heutzutage doch ach so oberflächlichen und schnellen Presse.
    Bleiben Sie gesund und uns kritischen Lesern hoffentlich weiterhin lange erhalten!
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