Es ist in einer überinformierten Gesellschaft schwer, noch Aufmerksamkeit zu finden. In Zeitungen soll das gerade mit Hilfe der Überschriften gelingen. Erkenntnisse und Regeln helfen Redaktionen, Schlagzeilen zu kreieren, die ins Auge fallen. Sie machen Themen von Nachrichten schnell sichtbar und deren Kernaussagen oder die Neuigkeiten, die die daraus hervorgehen. Das Ziel: Leserinnen und Leser sollen stets gleich erkennen, was für sie wichtig ist.
Was auch immer Titel sagen: Es muss korrekt sein!
Aus fortwährenden Messungen und Erfahrungen entspringt eine Menge Wissen über Reichweiten von Überschriften, die viele Kriterien erfüllt haben, die also auch neugierig machen oder überraschen können. Man weiß zudem, welche Worte Erfolg versprechen. Dem Wissen wird gerade für die erfolgreiche Verbreitung journalistische Beiträge im Internet große Bedeutung beigemessen. Dass Stichwort heißt "Suchmaschinen-Optimierung", kurz SEO (engl. "Search Engine Optimization"). Doch was Titel auch immer sagen, es muss korrekt sein!
Für Überschriften wird große redaktionelle Sorgfalt erwartet
Ob ihrer Bedeutung darf bei der Überschriftengestaltung größte Sorgfalt der Redaktion erwartet werden und vor ihrer Verbreitung ausreichende Kontrollen. Ausnahme sollte es bleiben, dass sich Leser danach darüber beschweren müssen. Wohl ob der mit großen Lettern hervorgehobenen Rolle, geschieht das nicht selten. Einige Male habe ich hier schon Erklärungen geliefert. Eine Überschrift aber, die greife ich diesmal selbst auf. Sie eignet sich um mediale Gefahren sichtbar zu machen.
Der Text bestätigt das Chaos aus der Überschrift nicht
"Das Flug-Chaos geht los" - so lautet die Schlagzeile auf der Wirtschaftsseite der Zeitung vom 17. Februar. Darin kommt keine Vermutung mehr zum Ausdruck, sondern eine Feststellung, also eine Nachricht. Das angesagte Chaos wird in zwei Unterzeilen unter dem Titel verdeutlicht. Die sagen an, dass nach den IT-Problemen der Lufthansa ganztägig ein Warnstreik ansteht und wissen im voraus, dass damit die Geduld der Fluggäste wieder auf eine harte Probe gestellt wird.
Dies schafft einen Konflikt: Denn der Text deckt oder bestätigt das Chaos, mit dem er überschrieben worden ist, überhaupt nicht. Zu lesen ist dazu nichts. Und das Archivbild, das den Beitrag illustriert, strahlt eher Ruhe aus.
Die Deutsche Presseagentur hat Nutzwert geliefert
Der Artikel selbst, der sorgt also eher für Klarheit zum bevorstehenden Tarifkonflikt und den erwarteten Folgen. So viel wie eben zu diesem Zeitpunkt möglich. Er informiert über Flugausfälle und betroffene Flughäfen, über Hilfsflüge ins Erdbebengebiet, über die Auswirkung auf die Münchner Sicherheitskonferenz und erklärt, was Passagiere tun können.
Die Deutsche Presseagentur hat sich mit diesem Text um Nutzwert bemüht. Aber die Überschrift, die in der Redaktion in Würzburg entstand, vernichtet per Reizwort "Flug-Chaos" jeden Hauch des allenthalben angestrebten konstruktiven Journalismus.
Voreilige Feststellungen als Nachrichten vermittelt
Mit dem Framing "Chaos" bedient der Titel einen negativen Bedeutungsrahmen für betroffene Flughäfen und für die Fluggesellschaft. Ein kritischer "Mainstream", der sich schon nach deren IT-Problemen abgezeichnet hat, wird dabei verstärkt. Der Warnstreik droht dahinter zu verschwinden. Er wird gleich als Geduldsprobe für Passagiere geframt.
Journalistisches Ergebnis: Eine Schlagzeile hat sich vom Artikel gelöst, hat sich selbstständig gemacht. Sie erfüllt nicht mehr ihre eigentliche Aufgabe, vermittelt voreilige Erwartungen statt Nachrichten.
Die Überschrift bleibt ein Sündenfall
Reißerisches Clickbaiting könnte nun der Redaktion unterstellt werden. Aber der Chaos-Titel stand nur in der Zeitung. Er entspricht dort einem kritikwürdigen Aufregungsjournalismus. Unzulässig wäre er in den Internet-Angeboten dieser Redaktion gewesen, für die es bekanntlich der Reichweite bedarf. Keine Optimierung für Suchmaschinen könnte die Überschrift dort rechtfertigen, weil sie verspricht, was der Beitrag nicht hält. Das bringt diesen in einen entscheidenden Widerspruch zum Pressekodex in seinen Ziffern 1 und 2, zu Wahrhaftigkeit und Sorgfalt. Diese Grundsätze finden sich auch in den journalistischen Leitlinien der Main-Post Redaktionen.
Schlussbemerkung und ein Hinweis
Selbst wenn irgendwann festgestellt würde, dass an jenem Tag nachweislich ein "Flug-Chaos" eingetreten ist, bleibt die Überschrift ein Sündenfall.
Mit meinen Kolumnen suche ich keine Schuldigen. Ich öffne damit den Blick auf redaktionelle Arbeit. Der Redaktion sollen sie helfen, Ursachen zu finden und abzustellen.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Frühere ergänzende Leseranwalt-Kolumnen:
2023: "Überschriften sollen Aufmerksamkeit erregen, aber sie können auch trügerisch sein"
2022: "Wer in der Redaktion verantwortlich ist für einen reißerisch wirkenden Titel"
2022: "Warum fragende Überschriften nicht für Klein-Erna entstehen"
2020: "Clickbaiting verspielt Glaubwürdigkeit"
2018: "Reichweite ist nicht alles"
2016: "Trügerische Überschrift"
2016: "Vom Bewusstsein für eine korrekte Überschrift im Stich gelassen"
2014: "Artikel mit Selbstverständlichkeiten in der Überschrift überblättern viele Leser einfach"
Anton Sahlender, Leseranwalt
Bleiben Sie gesund und uns kritischen Lesern hoffentlich weiterhin lange erhalten!