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LESERANWALT
Leseranwalt: Überschriften sollen Aufmerksamkeit erregen - sie können aber auch trügerisch sein
"Wann kommt die große Pleitewelle?" lautete die Überschrift eines Artikels, in dem es um Überschuldung ging. Warum der Titel nun online geändert wurde.
Mit dieser Illustration wurde ein Beitrag über eine Pleitewelle und private Insolvenzen bebildert. Die dazugehörige Überschrift war viel zu zugespitzt.
Foto: Illustration: Ivana Biscan | Mit dieser Illustration wurde ein Beitrag über eine Pleitewelle und private Insolvenzen bebildert. Die dazugehörige Überschrift war viel zu zugespitzt.
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 27.04.2023 14:59 Uhr

Überschriften fallen auf. Das ist ihre Aufgabe. Sie sollen schnell erfasst werden, das Thema erkennbar machen und Interesse erregen. Das fordert zuweilen Leser-Vorwürfe heraus, wenn Schlagzeilen zuspitzen. Ja, der Blick auf das, was über einem Beitrag steht, ist wichtig. Titel können nämlich auch trügerisch sein. Sie wollen ein kostbares Gut einfangen: Ihre Aufmerksamkeit.

Ohne diese Aufmerksamkeit funktionieren Medien nicht. Das birgt Gefahren in sich. Dennoch ist es zu verstehen. Es liegt schließlich auch im Sinne von Nutzerinnen und Nutzern, nichts für sie Bedeutsames zu übersehen. Dargestellt habe ich schon kürzlich ("Wer verantwortlich ist für einen reißerischen Titel"), dass meist nicht Autorinnen und Autoren die Überschriften zu ihren Artikeln machen, sondern die im nächsten Arbeitsschritt zuständigen Redaktionen. Das bringt notwendige Kontrolle. Kritisch wird es, wenn das Erzielen von Aufmerksamkeit so in den Vordergrund tritt, dass dahinter präzise inhaltliche Aussagen der Autorinnen und Autoren zu weit zurücktreten.

Überschrift suggeriert eine bevorstehende Pleitewelle

So bewerte ich eine Schlagzeile im Wirtschaftsteil der Main-Post vom 21. Januar, selbst wenn dazu bei mir keine Leser-Kritik eingetroffen ist: "Wann kommt die große Pleitewelle?" stand über dem Artikel. In dieser Frage steckt die Nachricht, dass eine große Pleitewelle bevorsteht. Offen bleibt lediglich deren Zeitpunkt.

Hoffentlich haben alle, die von der Pleitewelle erschreckt wurden, das getan, was in solchen Fällen zu empfehlen ist: den Text gelesen. Der könnte sie etwas beruhigt haben.

Aus dem, was Schuldnerberatungen offenbar spüren, wird eine Tatsache

Kein einziges Mal kommt im Artikeltext die "Pleitewelle" vor. Es wird berichtet, wie häufig Überschuldung vorliegt und Zahlen regionaler Privatinsolvenzen werden genannt. Zu lesen ist sogar, dass Unterfranken eine "Insel der Glückseligen" sei, weil hier verhältnismäßig wenige Menschen leben würden, die massiv in der Kreide stehen. Bislang jedenfalls.

Dass diese Situation aber "eher die Ruhe vor dem Sturm" ist, so heißt es warnend, "spüren offenbar auch die regionalen Schuldnerberatungen". In der Schlagzeile ist aus dem Sturm und daraus, was "Schuldnerberatungen offenbar spüren", eine Pleitewelle als Tatsache entsprungen.

Das ist nicht der angestrebte konstruktive Journalismus

Dieser Negativismus ist nicht der angestrebte konstruktive Journalismus. Die zuständigen Redakteurinnen und Redakteure und ihre Kompetenz meine ich zu kennen. Keinesfalls unterstelle ich ihnen Lust an reißerischen Titeln. Es soll nichts rechtfertigen, wenn ich denke, dass bei hoher Belastung, die durch die Transformation der Branche entsteht, oft die Zeit für die schwierige Abwägung für die Wirkungen eines Titels fehlt.

Wer mal zuhause mit der Zeitung oder einem iPad in der Hand Überschriften diskutiert, wird die Problematik bestätigen. Daraus kann ein Spiel gemacht werden: Wer empfängt die schlechteste/beste Botschaft? So lässt sich Nachrichtenkompetenz gewinnen.

Autor entschärft die Online-Überschrift

Dieses Spiel wird für Redaktionen zur Verpflichtung. Weil Schlagzeilen eine so hohe Beachtung finden, wird auch deren Gestaltung zum sensiblen Thema. So sollten Zeit und Arbeitsschwerpunkte darauf ausgerichtet sein. Auch auf die Frage, ob in Zeitungen wirklich die bekannten Reizworte, mit denen man Online-Reichweiten erzielt, einfließen müssen. Schlechte Beispiele aus dem Internet sollten nicht auf die Zeitung überspringen.

Um dem Vorwurf eines unseriösen "Clickbaiting" zu entgehen, hat der Autor des Artikels selbst den Titel der Internet-Fassung seines Beitrages nachträglich entschärft. Die "Pleitewelle" ist geblieben, wird aber in Frage gestellt: "Überschuldung: Lage in Unterfranken ist entspannt - aber kommt doch noch die Pleitewelle?"

Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Frühere Leseranwalt-Kolumnen, die das Thema Überschriften ergänzen:

2018: "Kampf um Aufmerksamkeit und Reichweite"

2019: "Erkennen Sie, was Nachrichten mit ihrem Gehirn machen"

2020: "Clickbaiting verspielt Glaubwürdigkeit"

2021: "Wie ein Reizwort eine Sportart negativ behaftet hat"

2021: "Wie ein Leser zu einer klaren Überschrift beigetragen hat"

2022: "Plädoyer für menschliche Kostbarkeiten zwischen unerfreulichem Inhalt"

 
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  • antonsah
    Liebe/r @carlofes, so bedauerlich die beschriebene Überschrift ist, von den Bild-Abgründen ist diese Zeitung trotzdem meilenweit entfernt. Da sollten Sie einfach mal auf presserat.de die Rügen durchlesen, dann werden Sie verstehen, was ich meine. Und der "Pleitewellen"-Titel, den bedauert diese Redaktion selbst. Sollten Sie aber mal auf eine "reißerische" Schlagzeile stoßen, geben Sie mir Nachricht über Email: leseranwalt@mainpost.de. Und am besten, Sie schreiben dann auch dazu, warum diese Überschrift aus ihrer Sicht kritikwürdig ist.
    Anton Sahlender, Leseranwalt
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  • carlofes
    Das ist leider nicht das erste Mal, dass Überschriften zumindest grenzwertig sind! Diese war ganz besonders reißerisch - BILD-Niveau!
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