Sind Berichte oder Überschriften zu sensationslüstern? Angesichts umfangreicher Artikel über Vorfälle mit dem erkrankten einstigen Radstar Jan Ullrich (siehe Leseranwalt: "Kritikwürdiges Boulevardstück") stelle ich diese Frage. Schon 2015 habe ich mich damit sehr grundsätzlich auseinandergesetzt. Einiges habe ich hier wieder daraus entnommen.
Sensationelles
Sicher ist: Was sensationell anmutet wird meist von Lesern stark genutzt. Dazu gehören Beiträge über Verbrechen, Unglücksfälle oder Skandale, umso mehr, wenn sie Prominente betreffen. Das Internet zeigt das untrüglich an und lässt dabei erkennen, welche Merkmale und Schlüsselworte die Reichweite eines Beitrages erhöhen. Die bestätigten auch die Zugriffsmengen auf die digitalten Angebote aus sozialen Netzwerken. Aber müssen Journalisten solche Merkmale, die nicht immer sachlich, sondern meist emotional sind, zu Kriterien machen? Sie müssen nicht.
Nutzerzahlen als Fingerzeig
Allerdings geht's nicht ganz ohne Reichweite. Macht die doch in schwierigen Zeiten Hoffnung auf mehr unverzichtbare Wirtschaftlichkeit. So werden Nutzerzahlen fast unweigerlich zum Bestandteil journalistischen Bewusstseins. Das muss man nicht nur kritisch sehen. Oft spricht Reichweite, die im Netz erzielt wird, auch für hohe Qualität von Veröffentlichungen. Die können dann Fingerzeig auf eine wünschenswerte Zukunft des Journalismus sein. Wenig wert sind dagegen nur Massen von Klicks auf Beiträge, die dann nicht gelesen werden. Purer Drang nach Klicks wurde schon „Rattenrennen“ genannt.
Im Gleichgewicht bleiben
Es gibt die Wechselwirkung: Klicken und nutzen viele Leser Sensationslüsternes, dann wird das verstärkt angeboten werden und macht vor der gedruckten Zeitung nicht Halt. Die Journalisten sind dieselben. Reichweite haben sie verinnerlicht. Um im Gleichgewicht zu bleiben heißt es, sich Zeit nehmen für kritische Besprechungen: Menschliches Einfühlungsvermögen und journalistische Ethik dürfen nicht verloren gehen. Sie gewinnen im Kontrast zu ungezügeltem digitalen Wildwuchs an Bedeutung. Bei der fortwährenden Suche nach einer stabilen wirtschaftlichen Zukunft des Journalismus sind seine Werte geradezu existenziell geworden.
Empfehlung und Herausforderung
Ich halte jedoch fest: Noch bieten seriöse Medien wertvolle Recherchen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das geht oft ohne Mord, Sensation oder Skandalisierung. Ich verweise nicht zum ersten Mal darauf, dass das Bundesverfassungsgericht eine freie Presse in einem freiheitlichen Staatswesen für schlechthin konstituierend bewertet. Das ist Empfehlung für Leser und Herausforderung für Medien. Online: mainpost.de/ Hinweis: Ich bin den nächsten zwei Wochen nicht erreichbar.
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Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch www.vdmo.de