Auswahl-Kriterien bleiben für journalistische Medien bedeutend. Strenger als in der digitalen Welt (zum Beispiel mainpost.de) fallen sie für die gedruckte Zeitung aus, weil deren Platzangebot und Aktualität endlich sind. Beim digitalen Journalismus könnte man fast schon über eine Unendlichkeit der Möglichkeiten sprechen, ließe man die Leistungsfähigkeit von Redaktionen und die Aufnahmefähigkeit der Leserschaft ganz außer Acht. Was die ganz persönliche Auswahl betrifft, können sich Leser digital ohnehin selbst einen bevorzugten Nachrichten-Mix zusammenstellen.
Digital oder gedruckt darf von einer Tageszeitung grundsätzlich erwartet werden, dass die Redaktion wesentliche Nachrichten und Entwicklungen der Öffentlichkeit ausreichend zugänglich macht. Immerhin gehört es zu ihrem Auftrag, Menschen ein Informationsangebot zu machen, das sie in die Lage versetzt, gut und selbstbestimmt am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen. Sie müssen es nur nutzen. So können journalistische Medien zum Orientierungspunkt in einer unübersehbaren Flut von guten und schlechten, bestätigten und unbestätigten, richtigen und falschen Informationen aus dem Internet werden.
Kritische Nachfrage einer Leserin
Ich erkläre das, weil mir kürzlich die Zeitungsleserin M. S. kritisch zur Nachrichtenauswahl geschrieben hat: "Zum 1. Mai gab es gewaltsame Ausschreitungen in mehreren Städten, zahlreiche Menschen wurden verletzt. Ihrer Zeitung war das 5 oder 6 Zeilen wert." Seit längerem gewinne sie den Eindruck, dass die politische Ausgewogenheit leide. Sie will eine Stellungnahme von mir.
Zumindest optisch hat sich die Leserin täuschen lassen, denn es geht um 26 gedruckte Zeilen. Zugegeben, die waren als eine von sechs "kurz & bündig"-Meldungen am 3. Mai unter der Überschrift "Gewalttätige Ausschreitungen verurteilt" vergleichsweise unauffällig präsentiert.
Die endliche Aktualität der Zeitung
Zugrunde liegt dieser Präsentation der Meldung aber keine "politische Unausgewogenheit", sondern die endliche Aktualität der gedruckten Zeitung. In der Welt ständig allgegenwärtiger Medien wie Internet, TV und Rundfunk war es entscheidend, dass die Ausschreitungen vom 1. Mai bei Erscheinen der Montagsausgabe (3. Mai) zwei Tage zurücklagen und ausführlich versendet gewesen sind. So wurde für die Zeitung bereits anderes Zeitgeschehen bevorzugt, darunter der beginnende Wahlkampf und, genau am Tag der Pressefreiheit, die Gewalt gegen Journalisten.
Der digitale Artikel Score
Die Auswahl von Nachrichten erleichtern die digitalen Nutzungsmessungen von Beiträgen und Themen auf mainpost.de. Regelmäßig wird dort ein sogenannten Artikel Score ermittelt, der nicht nur Reichweite (Artikelaufrufe) sichtbar macht, sondern auch Verweildauer, Lesetiefe (durch Scrollen) und Interaktionen. Diese Daten werden zum Fingerzeig für eine Nachrichtenauswahl, die von den Menschen angenommen wird.
Das die ermittelten Werte meist mit dem Interesse der Zeitungsleserschaft korrespondieren, legen Lesewert-Untersuchungen in anderen Regionalzeitungen nahe. Insgesamt konnten so auch die zehn erfolgreichsten Main-Post-Geschichten eines Jahres zusammengestellt werden.
Der redaktionelle Spickzettel
Regionale Maßstäbe sind der Redaktion in einem Spickzettel mittels Fragen vorgegeben, die ich hier kurz zusammenfasse: Löst der Inhalt ein konkretes Problem der Menschen bei uns? Befriedigt er ein Bedürfnis? Betrifft uns das Thema gerade jetzt? Wirkt es sich auf eine große Zahl von Menschen aus? Machen die Recherchen einen Missstand öffentlich? Sind unsere Nutzerinnen und Nutzer in ihrem Alltag betroffen? Erzählt das Thema eine (Anti-)Heldengeschichte, auch zum mitfühlen?
Gesprächsangebot: Dienstag, 8. Juni, 18 Uhr
Darin stecken Nachrichten-Faktoren wie Nähe, Tragweite und Emotion. Wer darüber diskutieren möchte, dem biete ich Dienstag, 8. Juni, 18 Uhr, digital Gelegenheit dazu. Anmeldungen per E-Mail an leseranwalt@mainpost.de. Bis zu 30 Personen erhalten von mir einen Zugangscode zur Teilnahme.
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute.
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