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Würzburg
Das Beste aus 2019: Die Jahreshitliste der Main-Post-Kritiker
Dutzende Premieren, Hunderte Konzerte, Ausstellungen über Ausstellungen und stapelweise neue Bücher und CDs. Was bleibt am Ende des Jahres? Unsere Kulturreporter und ihre Hits.
Bayreuther Festspiele 2019 - Tannhäuser       -  Stephen Gould (Tannhäuser) und Elena Zhidkova (Venus) spielen in einer Probe zur Oper «Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg» im Rahmen der Bayreuther Festspiele auf der Bühne.
Foto: Enrico Nawrath (Festspiele Bayreuth) | Stephen Gould (Tannhäuser) und Elena Zhidkova (Venus) spielen in einer Probe zur Oper «Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg» im Rahmen der Bayreuther Festspiele auf der Bühne.
Von unseren Kritikern
 |  aktualisiert: 24.05.2022 10:04 Uhr

Das beste Buch, die wichtigste Musik, die tollste Vorstellung auf der Bühne, das spektakulärste Konzert, die bemerkenswerteste Ausstellung - und die wichtigsten Kulturmenschen des Jahres. Hier kommen die persönlichen Jahresbestenlisten unserer Kulturreporter.

Die Höhepunkte von Mathias Wiedemann

Mathias Wiedemann darf sich berufsmäßig mit Kultur befassen – und wundert sich, dass ihn nicht alle darum beneiden.
Foto: Angie Wolf | Mathias Wiedemann darf sich berufsmäßig mit Kultur befassen – und wundert sich, dass ihn nicht alle darum beneiden.

Buch des Jahres: Main-Post-Sommerroman

Kein Buch im strengen Sinne, wohl aber ein Lesevergnügen, für das der Klappentext so hätte lauten können: Werner Brauer, 82 Jahre alt, blickt auf ein ganz normales bürgerliches Leben zurück. Wäre da nicht seine erste große Liebe, die vor 60 Jahren endete, bevor sie richtig beginnen konnte. Ein Roman über lebenslange Schuld und die späte Hoffnung auf Vergebung.

Musik des Jahres: Robert Schumann, „Dichterliebe“ in der Aufnahme mit Julian Prégardien

Der Tenor, Artiste étoile beim Mozartfest 2019, eignet sich den vielleicht intimsten Liedzyklus der Romantik (ironischerweise zu Gedichten des Romantik-Hassers Heinrich Heine) mit Souveränität und Sensibilität an. Und scheut sich nicht, einen so unerhörten wie stimmigen Eingriff in den Text zu machen.

Bühne des Jahres: Bayreuther Festspiele, „Tannhäuser“

Die Neuinszenierung von Tobias Kratzer: turbulent, vielschichtig, sehr komisch und zuletzt doch eher pessimistisch. Vor allem aber: innovativ. Video mal nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel, um das Musiktheater virtuos mit vielem zu verzahnen, was kulturgeschichtlich seit Richard Wagner passiert ist. So hat Oper Zukunft.

Konzert des Jahres: Samira Spiegel bei den Würzburger Bachtagen

Matinee auf Geige und Klavier – erst jeweils einzeln gespielt, dann mit Hilfe der Elektronik gleichzeitig im selben Stück. Eine solche Doppelbegabung könnte leicht zur Zirkusnummer verkommen, doch Samira Spiegel betreibt ihre Kunst mit großer Ernsthaftigkeit und Tiefe. Ganz nebenbei eine Ehrenrettung der Bach-Bearbeitungen von Busoni und Liszt.

Kulturmensch des Jahres: Enrico Calesso, Generalmusikdirektor am Mainfranken Theater

Seine Einstudierung von Wagners „Götterdämmerung“ hat das Philharmonische Orchester ganz offensichtlich eine spielerische Liga höher gehievt. Im „Rigoletto“ zeigt sich nun, dass die Arbeit sich gelohnt hat. Calesso, der stets freundliche Chef mit der herzlichen Ausstrahlung, ist ein Geschenk für dieses Theater.

Die Höhepunkte von Christine Jeske

Christine Jeske ist Reporterin in der Regionalredaktion und will auch 2020 keine Geister rufen.
Foto: Angie Wolf | Christine Jeske ist Reporterin in der Regionalredaktion und will auch 2020 keine Geister rufen.

Buch des Jahres: Tina Soliman, Ghosting

Der Begriff fand bereits Eingang ins Wörterbuch. Menschen werden zu Geistern. Sie verschwinden plötzlich, sind nicht mehr erreichbar. Nach dem ersten Treffen, das über Dating-Portale verabredet wurde. Oder in langen Beziehungen. Nach Recherchen der Autorin hat das Phänomen ungeahnte Ausmaße angenommen. Eine verstörende Analyse (Klett-Cotta).

Bühne des Jahres: Der Besucher, Theater Ensemble in Würzburg

Das Stück von Eric-Emmanuel Schmitt kam als Wiederaufnahme auf die Würzburger Bühne. Eine gute Idee – und gerne wieder! Thomas Schmelter, einst Oberarzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Werneck, brillierte erneut in der Rolle als Sigmund Freud. Ein Unbekannter steht plötzlich im Raum. Ist es Gott? Oder ein Hirngespinst? Spannend.

Konzert des Jahres: Baba ZuLa beim Hafensommer

Die Band aus Istanbul ist laut, mitreißend, grandios, ihre Musik ein Mix aus psychedelischen Klängen, Reggae, Rock, türkischer Folkmusik und Sufi-Klängen. „Oriental Dub“ nennt das Ensemble – bekannt geworden durch „Crossing the Bridge“ von Fatih Akin – seinen Stil. Wie auch immer: BaBa ZuLa passen in keine Schublade. Das macht die Faszination aus.

Ausstellung des Jahres: Da waren gleich drei . . .

Lee Krasner, Schirn in Frankfurt: Raus aus dem Schatten ihres Ehemannes Jackson Pollock: Frankfurt widmet ihr eine One-Woman-Show (bis 12.1.).

Piranesi, Reiter, Flechter, M.V.Wagner Museum: Reizvolle Gegenüberstellung von ruinösen Ruinen (bis 2.2.).

Riemenschneider X Stoss, Museum am Dom: So nah kommt man dem Münnerstädter Magdalenenaltar selten.

Kulturmensch des Jahres: Esther Bejarano

Sie hat Auschwitz und einen sogenannten Todesmarsch überlebt, ist gerade 95 Jahre alt geworden und will weiter singen, bis es keine Nazis mehr gibt. Mit der Kölner Rap-Band Microphone Mafia tut sie es auf berührend ernste und beschwingt fröhliche Art, in Würzburg zuletzt im Januar. Furchtbar ist nur, dass Bejarano überhaupt noch Nazis wegsingen muss.

Die Höhepunkte von Alice Natter

Alice Natter ist Themenchefin und schon gespannt auf die Steinzeit-Konzerte in der Klang-der-Antike-Ausstellung im neuen Jahr.
Foto: Angie Wolf | Alice Natter ist Themenchefin und schon gespannt auf die Steinzeit-Konzerte in der Klang-der-Antike-Ausstellung im neuen Jahr.

Buch des Jahres: Juan Moreno, Tausend Zeilen Lüge

Pflichtlektüre für Journalisten. Reporter Juan Moreno schildert, wie sein Spiegel-Kollege Claas Relotius alle in großem Stil und mit System betrog. Man will es nicht wahrhaben und muss es doch glauben. Zum Trost: Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle, die sich vor 50 Jahren zum ersten Mal durch Buchseiten fraß. Immer noch toll!

Musik des Jahres: Viviane Chassot, Mozart

Die Schweizerin hat drei Klavier(!)konzerte von Mozart mit Respekt, aber Fantasie aufs Akkordeon übertragen. Akkordeon? Akkordeon! Unfassbar, welch Ausdrucksmöglichkeiten dieses verkannte Instrument hat. Mit der Camerata Bern schafft die Virtuosin ein unerhörtes Klangerlebnis. (Mit Haydn hat sie das 2017 übrigens auch schon angestellt.)

Bühne des Jahres: Kabale und Liebe, Mainfranken Theater

Das Reclam-Heft war in Schule und Studium ungelesen geblieben. Jetzt Schillers Klassiker auf der Bühne? Okay, dienstlicher Pflichttermin. Der sich als höchstes Vergnügen erwies: Was das Würzburger Ensemble und die Cellistin aus dem Stoff machen – Theater von zeitlos guter Qualität. Und ach, was für eine schöne Sprache!

Ausstellung des Jahres: Elfenbein & Ewigkeit in der Würzburger Unibibliothek

Die Unibibliothek feierte 400. Geburtstag – und schenkte sich und fast 7000 Besuchern eine extrem feine Ausstellung. Nicht nur, dass das engagierte UB-Team die allerkostbarsten und prächtigsten Handschriften aus dem Tresor holte. Wie sauber und exakt da ein Mönch vor tausend Jahren in einem kleinen Büchlein eine Chronik schrieb – faszinierend.

Kulturmenschen des Jahres: Die Autoren des Main-Post-Sommerromans

Corina Kölln, Johannes Jung, Ulrike Schäfer, Hans Peter Zwißler, Lothar Reichel, Ulrike Sosnitza! Darauf muss man sich einlassen: Mitten in den Sommerferien mit wenig Zeit und viel Druck eine Geschichte weiterschreiben, die jemand anders begonnen hat. Keiner wusste, was rauskommt. Dass es gut war, belegte die Weltpremierenlesung.

Die Höhepunkte von Michael Bauer  

Michael Bauer ist Sportredakteur und beschäftigt sich neben Bällen auch mit Kunst und Krach.
Foto: Angie Wolf | Michael Bauer ist Sportredakteur und beschäftigt sich neben Bällen auch mit Kunst und Krach.

Buch des Jahres: Mila Olsen, Whisper I Love You

Eine 17-Jährige will sich das Leben nehmen. Ein junger Mann taucht auf, sensibel wie sie, schlägt ihr vor: Sie soll den Sommer mit ihm verbringen, wenn sie dann immer noch in den Tod springen will, würden sie es gemeinsam tun. Eine stille, einfühlsame Geschichte über den Weg zurück ins Leben – und dunkle Geheimnisse. Happy End? Fehlanzeige.

Musik des Jahres: Gaahls Wyrd, Gastir

Gorgoroth, God Seed und jetzt Wyrd – Gaahl (Kristian Eivind Espedal) hat eine der betörendsten Stimmen des norwegischen Black Metal. Auf dem aktuellen Album, das herrlich wilde Raserei mit kühler Atmosphäre verwebt, zieht er alle Register, faucht, brummt, ist so grimmig wie episch. Gaahls hypnotische Aura ist perfekter Widerpart zur reduzierten Instrumentierung.

Bühne des Jahres: Landesturnfest-Gala in Schweinfurt

Vier Tage Landesturnfest 2019 in Schweinfurt, vier Tage sportliche Höchstleistung. Und am Ende ein Gala-Abend im Stadttheater. Sensationell, was die Mädels und Jungs der Dancefloor Destruction Crew (DDC) da auf die Bretter zauberten. Spektakuläre Moves, anmutiges Ballett, Turnübungen – eingebettet in eine stimmige Gesamt-Choreografie.

Konzert des Jahres: Tiamat, in München

Mit einem Old-School-Set präsentierten sich die Schweden in München auf dem Dark Easter Metal Meeting. 13 Songs der Jahre 1992 und 1994, der intensivsten Zeit der Band, die von Black über Death/Doom bis Gothic Metal einiges an Stilen durch hat. Johan Edlund gibt mit sonorer Stimme den finsteren Magier und versetzt die Fans in Trance – ein Gig wie ein Opiumrausch.

Kulturmensch des Jahres: Mina Caputo

Die Sängerin der US-Band Life of Agony nimmt im Rock-Business eine besondere Rolle ein. Als Keith Caputo sich als transsexuell outete, war das in der testosteronschwangeren Szene nicht das Aus. Als Mensch wirkt Mina authentischer. Abseits des taffen LoA-Stoffs öffnet sie in Solo-Alben ihre Seele. Ich kenne Mina persönlich, als nahbaren Feingeist voll mentaler Kraft.

Die Höhepunkte von Siggi Seuss

Siggi Seuss ist Autor und Kritiker und fragt sich mehr denn je, wie Theater und Literatur Menschen verändern.
Foto: Dominika Mitrovic | Siggi Seuss ist Autor und Kritiker und fragt sich mehr denn je, wie Theater und Literatur Menschen verändern.

Buch des Jahres: Andrea Wulf, Die Abenteuer des Alexander von  Humboldt

Das außergewöhnlichste Buch zum 250. Geburtstag des Universalgelehrten. Eine Graphic Novel zu seiner amerikanischen Reise, illustriert von Lillian Melcher (C. Bertelsmann). Collagen, Dokumente, gemalte Naturszenerie, Sachtext, Erzählung – kein anderes Sachbuch, das ich je mit solch gespannter Neugierde erforschen wollte.

Musik des Jahres: "Belafonte at Carnegie Hall 1959"

Ich liebte die Livekonzerte des begnadeten Sängers und Entertainers. Jedesmal erlebte ich Gesamtkunstwerke aus virtuoser Darbietung von Weltmusik, spontaner Improvisation und einem unvergleichlich lebensfreudigen Dialog mit dem Publikum. Den kompletten Mitschnitt eines Konzerts habe ich wiederentdeckt – auf guten alten Vinylplatten.

Bühne des Jahres: John Gabriel Borkman, Theater Meiningen

Eine Sternstunde. Regisseur André Bückers Inszenierung legt ohne Umschweife und Verkünstelungen den Kern von Ibsens visionärem Spätwerk frei. Eine bitterböse Demontage bürgerlicher Lebenslügen und ein Abgesang auf die Selbstbestimmung des Individuums im Zeitalter des Immer-Mehr und Immer-Schneller.

Ausstellung des Jahres: "Volk-Heimat-Dorf" im Freilandmuseum Fladungen

Eine Ausstellung über „Ideologie und Wirklichkeit im ländliche Bayern in den 1930er und 1940er Jahren“. Auch wenn die Exponate nur fragmentarische Ausschnitte des Lebens zeigten: Sie befördern eigene Nachforschungen. Und offene Augen und Ohren sind heute bitter nötig. Die Sprache der Nazis lebt wieder auf.

Kulturmensch des Jahres: Hans-Joachim Rodewald

Der Meininger Schauspieler trägt nun den selten vergebenen Titel „Kammerschauspieler“. Nach 39 ununterbrochenen Meininger Theaterjahren und ungezählten Charakterrollen verabschiedet sich der beliebte Mime am Saisonende in den Ruhestand. Unvergessen seine Rolle als Staatsschauspieler in Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ oder als Faust.

Die Höhepunkte von Joachim Fildhaut

Joachim Fildhaut ist freier Journalist, liest pro Nacht 100 Seiten Roman und raucht dazu fünf Zigaretten.
Foto: Thomas Obermeier | Joachim Fildhaut ist freier Journalist, liest pro Nacht 100 Seiten Roman und raucht dazu fünf Zigaretten.

Buch des Jahres: Kazhuo Ishiguro, „Was vom Tage Übrig blieb“

Der Nobelpreisträger von 2017, nun ja … Ein alter Butler erinnert sich – oha! An was er sich erinnert, an die Nähe zwischen Nazis und etlichen Briten, und wie, nämlich sehr verschleiert, das wurde beim Lesen zusehends spannend. Dicke Punkte für Rollenprosa, Psychologie, historischen Informationsgehalt und die Verfilmung.

Musik des Jahres: King Crimson, The Great Deceiver

Ein Rocktrio plus Viola, interessant. Wenn Drummer und Bassist Berserker sind, geht das nicht, außer die zwei sind große Künstlerpersönlichkeiten. Der Gitarrist entwickelt Stile zwischen blütenzart und Riesenlärm und hält das Bündel der Unmöglichkeiten zusammen. Die Vier-CD-Box der Umbruchphase 1973/74 lief heuer im Auto in Heavy Rotation.

Bühne des Jahres: Regie als Faktor, Musil

Alle paar Jahre ragt für mich als Bühnenereignis heraus, selbst wo aufzutreten – heuer bei der offenen Gruppe „RegieAlsFaktor“ aus Rosenheim. In einer sorgsam aus Musils 1000-Seiten-Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ präparierten Facette über den Möglichkeitssinn. Ein vierstündiger Kneipendialog, zu dem ich ein Möglichkeits-Gstanzl sang.

Konzert des Jahres: Leleka beim Jazzfestival Würzburg

Nach 34 Festivals ließ die Jazzinitiative Würzburg erstmals eine osteuropäische Folk-Jazz-Gruppe zu. Das Warten hat sich gelohnt. Das ukrainisch-polnisch-deutsche Quartett Leléka packte nicht einfach etwas Swing auf alte Songs, sondern erschuf aus Elementen des zeitgenössischen Jazz und traditionellen Melodien eine sehr bewegende neue Musik.

Kulturmensch des Jahres: Kathrin Jacobs

Die neue Würzburger Kulturamtsleiterin scheint eine – wenn man das mal so distanziert ausdrücken darf – sehr hohe kommunikative Kompetenz zu haben. Manchmal befürchtet man fast, die herzliche Zugewandtheit der Kulturwissenschaftlerin aus NRW könne vom Gewohnheitstrott heimischer Künstler ausgebremst werden. Da sei Apoll vor!

 
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