Die Fenster sind abgeklebt, Bewegungsmelder installiert. Oben in der Deckenecke laufen unscheinbar die Überwachungskameras, die Klimaanlage läuft sowieso. Höchste Sicherheitssstufe im Handschriftenlesesaal der Universitätsbibliothek. Der Direktor lächelt: „Versicherungswert: ein dreistelliger Millionenbetrag.“
Vor 400 Jahren da bestanden die Sicherheitsvorkehrungen aus einem Eisenring und einer Kette. Bücher waren kostbar, rar und teuer, zwischen zwei Buchdeckeln verschwand so manches Jahresgehalt. Also wurden die Bände vor der Benutzung angekettet: am hölzernen Pult in den Lese- und Schreibstuben. Die Würzburger Unibibliothek (UB) hat sich so ein Pult nachbauen lassen, um zu zeigen, wie es damals war. Und, wie Leiter Dr. Hans-Günter Schmidt sagt, „um das kulturelle Erbe begreifbar und anschaulich zu machen“.
Eine der ältesten Universitätsbibliotheken in Mitteleuropa feiert in diesem Jahr ihr 400-jähriges Bestehen. Und öffnet dazu jetzt ihre Tresortüren: „Alle Brecher, alle dicken Dinger“, wie Schmidt die wertvollsten Stücke nennt, präsentiert die UB in einer großen, einmaligen Ausstellung. „Hochkaräter, die so noch nie zu sehen waren und wohl in der Zusammenstellung auch nicht mehr so zu sehen sein werden“, sagt Schmidt. Aber jetzt – zwei Monate lang. „Bewusst und penetrant“ wollen Schmidt und seine Kollegen zeigen, „dass wir eine Einrichtung von europäischem Rang sind“.
Die wechselvolle Geschichte und die kulturgeschichtliche Bedeutung spiegeln sich in den Sondersammlungen wider: In Bayern kommt der Würzburger Universitätsbibliothek eine Sonderrolle zu. Der besondere Gang der Säkularisationsereignisse und die Umbrüche und Wirren der napoleonischen Zeit sorgten nach 1803 dafür, dass nur sehr wenige Stücke aus dem Würzburger Bestand nach München, an die damalige Hof- und Staatsbibliothek kamen.
Und weil im Zweiten Weltkrieg – allen Anweisungen und Verboten zum Trotz – Bibliothekare 120 Kisten packten, darin 150 000 Bücher und Bände an geheimen Orten in ganz Unterfranken versteckten und so vor dem Verbrennen am 16. März 1945 retteten, kann die Unibibliothek heute auf einen international bedeutenden Bestand blicken: mit 2300 Handschriften, die bis in die Anfänge der abendländischen Buchkultur zurürckreichen, mit mehr als 3000 Inkunabeln aus der Frühzeit des Buchdrucks und einer stattlichen Grafiksammlung.
Der größte „Brecher“? Natürlich, für viele vermutlich und ganz sicher das Kiliansevangeliar. Jene Handschrift, die irgendwann dem irischen Mönch Kilian, dem „Frankenapostel“ zugeschrieben wurde. Eine kleine Abschrift der vier Evangelien, entstanden in der Zeit um 600 in einem französischen Kloster, und dann um 1090 prächtig in Elfenbein gefasst. Im Einband von 1495 blinken und glänzen heute noch die Edelsteine. Bei jener letzten Überarbeitung und Ausschmückung des Vorderdeckels waren zwar die Textseiten nicht mehr in der richtigen Reihenfolge und auch unvollständig gebunden worden – aber längst war das Buch zur Reliquie geworden, zum hochverehrten Symbol der Christianisierung Mainfrankens.
Zwischen „Elfenbein und Ewigkeit“ spannt sich der Bogen der Ausstellung: Die Universitätsbibliothek will den Besuchern die Bücherwelt des Mittelalters und der frühen Neuzeit näherbringen – und nebenbei anhand der prunkvollen Schätze zwei Jahrtausende Mediengeschichte erzählen.
Bücher waren im abendländischen Mittelalter ein „Weg zum Heil“ – im Dienst des Herrn wurden sie geschrieben, gemalt, gelesen oder gestiftet. Die kostbarsten unter ihnen sind die mit Elfenbeineinbänden geschmückten Handschriften, die wie das Kiliansevangeliar die vier Evangelien in sich tragen. Auf ihren Pergamentseiten verbindet sich eine filigrane Ornamentik und die überwältigende Farbigkeit mittelalterlicher Buchmalerei mit kalligrafischer Schreibkunst zu einem Gesamtkunstwerk. „Pop Art“, sagt UB-Direktor Hans-Günter Schmidt beim Blick auf üppig bemalte Innenseiten, in denen die Farben leuchten und strahlen als seien sie gerade erst aufs Pergament aufgetragen.
Dass einige Seiten jetzt – zwar geschützt hinter Glas, aber öffentlich für alle – aufgeschlagen werden? „Wir sind keine Grabeswächter“, sagt Schmidt, „wir wollen die Güter bereitstellen für alle.“ Und wie viele Unterfranken wüssten schon, was hier am Hubland in den Tresoren geschützt liegt . . . Anders als die anderen bayerischen Universitätsbibliotheken ist die UB Würzburg auch Staatliche Bibliothek für die Bewahrung und Pflege des literarischen Erbes der Region. Durch die Säkularisation 1803, die Aufhebung der geistlichen Herrschaften, wurde die Würzburger Universitätsbibliothek zum Depot der Bibliotheken der verstaatlichten mainfränkischen Klöster und Stifte.
Das Glück der Geschichte: Als einzige größere Bibliothek musste sie nicht alle Spitzenstücke an die Münchener Hof- und Staatsbibliothek abtreten. Der Friede von Preßburg 1805 hatte dieses Vorhaben vereitelt, als im Zuge einer großen europäischen Neuordnung von Napoleons Gnaden das Großherzogtum Würzburg errichtet und Würzburg kurzzeitig wieder selbstständig wurde. Und als dann der Wiener Kongress 1814/15 Würzburg endgültig bayerisch machte, wurden die Abgabeforderungen von einst nicht mehr erneuert. „Im Gegenteil“, sagt Historiker Hans-Günter Schmidt, „die Bibliothek erfuhr nun bedeutende Förderung durch die bayerischen Regierungspräsidenten“.
Aber es muss gar nicht immer Prunk und Pracht, müssen gar nicht immer spektakuläre Elfenbeinplatten auf dem Einband sein: Auch vermeintlich einfache Texthandschriften können Schätze verbergen, wie die Ausstellung zeigt: Für die irische Geschichte von herausragender Bedeutung ist eine schlichte Abschrift der Paulusbriefe aus dem 8. Jahrhundert. Mit ihrer Fülle an altirischen Textzeugnissen hatte sie die Rekonstruktion dieser Sprache erst ermöglicht. Ein Grund, warum in diesem Sommer der irische Staatspräsident bei seinem Staatsbesuch in Deutschland auch nach Würzburg kommen wird.
Unter den 75 gezeigten Exponaten befindet sich beispielsweise auch die älteste Handschrift, die die Universitätsbibliothek besitzt, erzählt Bibliothekarin Dr. Katharina Boll-Becht: ein auf Papyrus geschriebener Text, eine Abschrift der Hannibal-Biografie des Spartaners Sosylos. Eigentlich ein Schnipsel nur. „Aber das Fragment ist der weltweit einzig existierende Textzeuge dieses Werkes.“ Auch einzigartig: zum Beispiel das Festtagslektionar der Malschule des Klosters Reichenau oder die Würzburger Dominikanerbibel von 1246. Mit dem Maler Hainricus wird darin erstmals in Deutschland ein Künstler sicht- und greifbar, der sein Werk persönlich signiert.
Aus späteren Zeiten aber nicht minder besonders und exotisch ist die deutsche Übersetzung des Hortus Malabaricus von 1730, die der Leiter der Handschriftenabteilung, Dr. Oliver Weinreich, für die Ausstellung aus dem Tresor geholt hat: ein Pflanzenbuch zur neu entdeckten Flora von Südindien, das der berühmteste Blumenmaler seiner Zeit, Georg Dionysius Ehret, illustriert hat.
Und dann gibt es da noch die weniger tradierten Schriften der Abtrünnigen: in der Ausstellung ist die einzige erhaltene Abschrift der Texte des Priscillian zu sehen, der als erster für „seine“ theologische Wahrheit hingerichtet wurde. Oder berühmte Kartenwerke wie der Atlas Maior des Holländers Joan Blaeu, das teuerste Werk des 17. Jahrhunderts. Oder die Würzburger Bischofschronik des Lorenz Fries in zwei illustrierten Varianten und Würzburgs älteste Stadtansicht in der Schedelschen Weltchronik von 1493. Jene allumfassende Darstellung der Weltgeschichte des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel kam erstmals 1493 in Nürnberg auf den Markt. Die Chronik, erschienen in einer lateinischen und einer deutschen Ausgabe, erfasst die historischen Ereignisse vom Anbeginn der Welt bis ins Jahr 1492/93 – so weit sie im damaligen Nürnberg bekannt waren. Auch Sensationsberichte sind dort nachzulesen.
Berühmt aber wurde die Chronik nicht durch ihre Berichte von Wundererscheinungen, sondern durch ihre geografischen Informationen, insbesondere zu Städten: Die Stadtansichten der Schedel'chen Weltchronik sind für viele der gezeigten Städte die ältesten, authentischen Abbildungen überhaupt. Als eine der wenigen großformatigen Handschriften hat die „Mainzer Riesenbibel“ den Zweiten Weltkrieg und die Zerstörung überdauert.
Fast alle Großformate hatten die Bibliothekare bei ihrer verbotenen Rettungsaktion nicht auslagern können, sie verbrannten bei der Bombardierung am 16. März 1945. „Übergroß“ ist diese Bibel mit 467 Seiten Pergament tatsächlich: Sie misst 54 auf 38 Zentimeter und ist beeindruckende 25 Kilogramm schwer. Was als Kulturerbe vor allem schwer wiegt und diese Bibel so besonders macht, ist die Ausstattung im Inneren. Wohl vier verschiedene Maler schmückten die Buchseiten – „auf höchstem Niveau gotischer Buchkunst“, wie Oliver Weinreich sagt.
Und noch eine Besonderheit ist in der Ausstellung zu sehen: Matrikelbücher: „Nicht alle Universitäten können von allem Anfang an ihre Studierenden so lückenlos, so authentisch und so prachtvoll dokumentieren wir die Julius-Maximilians-Universität“, sagt UB-Direktor Hans-Günter Schmidt. In der Bibliothek sind die Einschreibelisten der Universität seit ihrer Neugründung 1582 in den Matrikelbüchern erhalten. Sie werden meist mit dem prachtvoll gestalteten Wappen des jeweils im Semester amtierenden Rektors eingeleitet, dann folgen die eigenhändigen Einträge der Studenten – samt Notiz über ihre Herkunft und der von ihnen entrichteten Studiengebühren.