Das hat es bei den Bayreuther Festspielen noch nie gegeben: Die Festspielchefin ruft während laufender Premiere die Polizei, weil ein Grüppchen Aktivisten per Leiter ins Festspielhaus eingestiegen ist, am großen Balkon ein Transparent angebracht und sich auf der Bühne eingeschlichten hat. Die Polizei rast den Grünen Hügel hoch und stürmt, mitten im zweiten Aufzug des "Tannhäuser", die Bühne.
Eine kuriose Szene: Ein Trupp blau Uniformierter hält mit der Waffe im Anschlag die mittelalterlich gewandeten Herrschaften auf der Wartburg in Schach. Da zuckt die eine oder andere Rittershand in Richtung Schwertgriff, und nur die ruhige Autorität von Stephen Milling (würdiges Mitglied im Club der großartigen Bayreuth-Bässe) in der Rolle des Landgrafs von Thüringen verhindert die Katastrophe.
Die Zuschauer haben es freilich kommen sehen, per Live-Video: Das Ganze ist Teil von Tobias Kratzers turbulenter, vielschichtiger, sehr komischer und zuletzt doch eher pessimistischer Neuinszenierung von Richard Wagners "Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg". Ausstatter Rainer Sellmaier hat für diesen zweiten Aufzug die Bühne in zwei Hälften geteilt, zwei übereinander liegende Rechtecke. Das obere ist eine Video-Leinwand, auf der das Geschehen hinter der Bühne und ums Festspielhaus in Echtzeit zugespielt wird, das untere, leuchtend weiß gerahmt, ist die ganz und gar traditionelle Sängerhalle.
Gegenwelt zur wohlanständigen Wartburg-Gesellschaft
Das polizeilich verfolgte Aktivisten-Trio besteht aus Venus und zwei stummen Rollen, die Kratzer hinzugedichtet hat: die Drag Queen Le Gateau Chocolat und der kleinwüchsige Schauspieler Manni Laudenbach als Oskar Matzerath mit Blechtrommel. Die drei bilden die Gegenwelt zur wohlanständigen Wartburg-Gesellschaft. Im ersten Aufzug ziehen sie als Freakshow im Citroën-Kleinbus durch die Lande.
Einen Venusberg gibt es nicht (und der Pilgerstab ist eine Partitur), dafür ein von Videokünstler Manuel Braun verblüffend rasant in Szene gesetztes Roadmovie. Hier ist Tannhäuser noch als Clown mit dabei. Motto des Häufleins, später Inhalt des Transparents, ist ein Wagner-Zitat: "frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen". Hier wird es zum Plädoyer für Diversität in jeder Hinsicht – das wird nicht erst klar, als Le Gateau Chocolat in der Sängerhalle die Regenbogenflagge hisst.
Das vermeintlich freie Leben als trotzige Verweigerung und aussichtsloser Überlebenskampf
Doch schon während des Vorspiels entpuppt sich das vermeintlich freie Leben als trotzige Verweigerung und aussichtsloser Überlebenskampf: Ihr Essen klauen sich die vier bei Burger King, ihr Benzin aus fremden Tanks. Als Venus (aufmüpfig in Springerstiefeln und Pailletten-Catsuit: Elena Zhidkova) einen Polizisten totfährt, ist Tannhäusers Ausstieg besiegelt, als gebrochener Mann landet er im Straßengraben.
Tobias Kratzer, Jahrgang 1980, konfrontiert in der übrigens erst achten "Tannhäuser"-Inszenierung seit Bestehen der Festspiele, nicht weltliche und göttliche Liebe, nicht Hure und Heilige, nicht Sex und Tugend, nicht Schuld und Erlösung miteinander. Sondern zwei Lebensmodelle. Und auch das nur an der Oberfläche. Der vorgebliche Tabubruch Tannhäusers interessiert ihn nicht besonders. Da sind zwar die Freaks hier und die Tugendwächter dort, im Grunde geht es aber um eine viel wesentlichere Fragestellung: Wie wirkt sich unser Handeln auf andere aus? Hier also: Was tut Tannhäuser Elisabeth an? Und Venus?
Die 32-jährige Lise Davidsen gibt ein umjubeltes Rollendebüt als Elisabeth
Entsprechend kühl empfängt deshalb die gar nicht so brave Elisabeth den Rückkehrer Tannhäuser: sie scheuert ihm eine. Kratzer lässt die beiden schon am Ende des ersten Aufzugs aufeinander treffen, noch vor der Hallenarie also ("Dich teure Halle grüß ich wieder"), mit der die 32-jährige Lise Davidsen ihr beglückend fulminantes, umjubeltes Bayreuther Debüt einläutet. Routinier Stephen Gould (wie immer mit dunklem, zuverlässig gehaltvollem Tenor) in der Titelrolle wirkt dagegen weniger getrieben als antriebsarm. Oder vielmehr entscheidungsschwach.
Das ist schlüssig: Im Egoisten Tannhäuser, der die Vorzüge zweier Welten genießen will, zeigt Kratzer, dass gerade das nicht Entscheiden anderen schadet. Auch Wolfram, dem ewigen zweiten Mann, der halt nicht aus seiner Haut kann, dem Markus Eiche aber mit superklarem Bariton echte Haltung verleiht. Wenn man so will, sind sie alle authentisch. Nur Tannhäuser nicht.
Eine warmherzige, sensible Inszenierung voll menschlicher Tiefe
Eine warmherzige, sensible Inszenierung voll menschlicher Tiefe. Und voller cineastischer Anspielungen, etwa auf Ingmar Bergmans "Zauberflöte" oder Terry Gilliams "Brazil". Die schon nach dem ersten Aufzug bejubelt, nach dem zweiten regelrecht gefeiert wird. Natürlich gibt es zum Schluss neben frenetischem Trampeln und vielen, vielen Bravi auch Buhs für das Regieteam, vor allem aber für Dirigent Valery Gergiev, dem in den sozialen Netzwerken schlechte Vorbereitung und schlampige Leitung vorgeworfen wird. Schwer zu sagen, ob man das angesichts des gewohnt wunderbar aufspielenden Festspielorchesters tatsächlich hören kann. Gergievs "Tannhäuser", ein wenig zögerlich eingeleitet, ist fein, beinahe filigran. Bombast, das allerdings ist wahr, gibt es hier keinen.