Welche Bildgewalt! Als würden wir Zuschauer hineingezogen in diese riesige schneeweiße Echokammer, in die die Figuren in Ibsens Drama „John Gabriel Borkman“ geworfen werden, oder besser: sich selbst werfen, bevor sie sich wie in Trance auf der Drehbühne nach vorne bewegen und in die Handlung eintreten.
Bitterböse Demontage bürgerlicher Lebenslügen
Ibsens visionäres Spätwerk ist mehr als eine bitterböse Demontage bürgerlicher Lebenslügen. Es ist ein Abgesang auf die Selbstbestimmung des Individuums im Zeitalter des materiellen Immer-Mehr und Immer-Schneller. Egal, ob man das Phänomen als Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert oder als Turbokapitalismus im 21. Jahrhundert ansiedelt. Die zeitlose Inszenierung von Regisseur André Bücker zum Saisonauftakt ist eine Sternstunde im Meininger Theater. Bereits das Bühnenbild von Jan Steigert zieht uns in den Bann, diese monströse Filterblase, an deren Innenwand Großaufnahmen der Gesichter der Handelnden projiziert werden, die immer wieder zerbröseln.
Ibsens Stück zeigt innerlich vereiste Menschen
Natürlich könnte man in die Kulisse auch die Eiseskälte eines Beziehungsraums hineindenken, aus dem jegliche Regung von Liebe und Vertrauen gewichen ist. So etwas wie eine Echokammer innerlich vereister Menschen. Der einst allmächtige Bankier Borkman ist so einer. Seit Jahren verlässt er das Haus nicht mehr. Durch spekulative Geschäfte hatte er viele Anleger in den Ruin getrieben und Jahre im Knast zugebracht. Von Einsicht jedoch keine Spur. In wahnhafter Selbsterhöhung sieht sich das Genie von eigenen Gnaden nach wie vor als Opfer feindlicher Mächte.
Die Nähe zu gescheiterten Wirtschaftsbossen ist greifbar
Nietzsches Übermensch lässt grüßen. Die Nähe zum Auftreten grandios gescheiterter Wirtschaftsbosse ist greifbar. Dass einem bei Borkmans Domizil das Emblem der Deutschen Bank ins Auge fällt, ist ein Seitenhieb, der sich bautechnisch anbietet: Ein Fachwerkwürfel mit einer diagonalen Treppe nach oben. Dort oben haust Borkman. Besuch bekommt er nur von einem devoten Hilfsschreibers und dessen Tochter. Unten leben Borkmans Frau und sein Sohn, ohne Kontakt zu ihm, aber in der Gewissheit seiner steten Präsenz. Und dann ist da noch die Zwillingsschwester der Frau, die einst eine kurze Phase romantischer Liebe mit Borgman verband und sich während seines Gefängnisaufenthalts um den Sohn gekümmert hatte. Was alle Erwachsenen eint: Sie sind Gefangene in ihrem je eigenen Kosmos. Sie können nicht loslassen und projizieren ihr nicht gelebtes Leben auf den fast erwachsenen Sohn. Der weiß sich nicht anders zu helfen, als in einem Verzweiflungsakt der Befreiung der nächsten Abhängigkeit in die Arme zu laufen, einer mondänen und lasziven Dame, die mit ihm und der Tochter des Hilfsschreibers „nach Süden“ aufbricht.
Das alles wird in einer von Minute zu Minute zunehmenden Intensität und Dramatik so lebendig, dass die Zeit wie im Flug vergeht. Hans-Joachim Rodewald (Borkman), Ulrike Walther (seine Frau), Christopher Heisler (sein Sohn), Anja Lenßen (Zwillingsschwester), Evelyn Fuchs (mondäne Dame), Peter Liebaug (Hilfsschreiber) und Katharina Walther (seine Tochter) leben sich leidenschaftlich in ihre Rollen ein. Ihr Spiel (in Charakterkostümen von Suse Tobisch) ist so intensiv und erscheint so wahrhaftig, dass einem die Flaumhaare im Nacken zittern. Wie visionär Ibsen doch war und wie intelligent André Bücker und sein Team den Stoff seiner Zeit entrissen haben!
Standing Ovations für beliebten Charakterschauspieler bei Verabschiedung in den Ruhestand
Bleibt anzumerken, dass Hans-Joachim Rodewald nach der Vorstellung als Träger der seltenen Auszeichnung „Kammerschauspieler“ von Theaterleitung und Publikum mit Standing Ovations gefeiert wurde. Nach 39 Meininger Theaterjahren verabschiedet sich der beliebte Charakterschauspieler am Saisonende in den Ruhestand.
Nächste Vorstellungen: 18., 27. September und 10. Oktober, jeweils 19:30 Uhr. Kartentelefon 03693-451 222. www.meininger-staatstheater.de