Julian Prégardien gehört nicht zu den Sängern, die nur unter ganz bestimmten klimatischen Bedingungen zur Hochform auflaufen. "Ich mag's nur nicht zu warm", sagt er, "ich bin kein Fan des Hochsommers." Für Auftrittstage hat er kein besonderes Ritual. Und auch kein besonderes Ruhebedürfnis. Im Gegenteil, er arbeitet an solchen Tagen ganz gerne. Zum Beispiel den Kulturredakteur der Main-Post zum Spaziergang im Hofgarten der Residenz treffen und auf einer Bank im höher gelegenen Teil ein Interview geben. Mit Blick auf den Mittelbau der Residenz, in dem der Kaisersaal liegt, an dem er an diesem Abend als Artiste étoile das Mozartfest eröffnen wird.
"Ich mache mir jetzt nicht ins Hemd. Es würde nichts bringen, wenn ich mich ins Kämmerchen einschließen und nicht mehr kommunizieren würde." Auch das Einsingen ist in der Vorbereitung kein allzu großer Posten: "Ich habe so viel gesungen in letzter Zeit, das ist eine Sache von vielleicht einer Viertelstunde." Prégardien wird den Abend übrigens mit Bravour meistern.
Der Ort, an dem er singt, spielt eine große Rolle, sagt Prégardien, wenn auch nicht so, wie man – Stichwort Kaisersaal – vielleicht denken würde. "Das muss kein prunkvoller Raum sein. Er muss noch nicht mal besonders schön sein." Die Kriterien sind andere: "Wenn ich etwa nach besonderen Erlebnissen mit den Oratorien von Bach gefragt werde, erwarten alle immer, ich sage, das war mit Herreweghe in New New York. Oder mit Nagano in Montreal. Aber es war Königstein im Taunus." Der dortige Kirchenchor hatte zum Abschied des Kirchenmusikers die Johannespassion einstudiert, über ein Jahr. "Mit ganz viel Blut. Natürlich war das nicht so perfekt wie etwa mit Herreweghe. Aber das war ein so packendes Konzert, ich war so dankbar, dass dem Bach das widerfährt."
Für seine Interpretationen spielt Recherche eine große Rolle
Auch der Liederabend, an den er sich besonders gerne erinnert, hat nicht etwa in der legendären Londoner Wigmore Hall stattgefunden (wo er selbstverständlich auch sehr gerne singt), sondern im Club "Watergate" in Berlin. Weil Prégardien da auf ein ganz anderes, nicht von vorneherein Klassik affines Publikum stieß, das auf ganz eigene, ganz besondere Art zuhörte.
Julian Prégardien gehört zu den Sängern, die wissen wollen, was sie singen. Die sich einlesen, Biografisches zu den Komponisten studieren, Tagebücher, Handschriften, historische Zusammenhänge. Zur Regel für andere würde er das aber nicht machen: "Bei einem Künstler dürfen die Intuition und das Subjektive eine ebenso große Rolle spielen wie das Objektive, Wissenschaftliche." Für seine eigenen Interpretationen allerdings spielt Recherche eine große Rolle: "Ich sehe das als Bereicherung meiner Ausdruckspalette an."
Wenn für eine Rolle der Bart ab muss, ist das kein Problem für ihn
So weiß Prégardien, dass seine Vorgänger im 18. und auch noch im 19. Jahrhundert sehr wohl in die Texte eingegriffen haben. "Sie haben sich die Werke zu eigen gemacht, und dadurch ist in den Konzerten etwas entstanden, das anders klang, als man Schwarz auf Weiß nachvollziehen kann." Eine Lizenz zur Selbstherrlichkeit leitet der Tenor daraus nicht ab. Auch wenn er sich auf seiner neuesten Einspielung, der "Dichterliebe" von Robert Schumann, einen kleinen Kunstgriff erlaubt hat, der nicht im Text steht: Im Lied "Wenn ich in deine Augen seh'" sind die Worte "Ich liebe dich" ganz dezent mit einer Frauenstimme gedoppelt – man hört es nur, wenn man genau hinhört. "Auf der CD darf man das, finde ich", sagt Prégardien, "die Geliebte des Sängers ist ja künstlerisch immer irgendwie anwesend. Im Konzert würde ich das allerdings nicht machen." Aber alle Reflexion, alle Information spielt im Moment des Musizierens keine Rolle mehr – zumindest nicht im Vordergrund. Wenn Julian Prégardien singt, klingt das immer spontan und im besten Sinne undurchdacht.
Julian Prégardien trägt Bart. Das verträgt sich nicht mit allen Rollen. Für die Rolle des Tamino in der Berliner "Zauberflöte" musste der Bart ab, für den Narraboth in der "Salome" von Richard Strauss in Salzburg auch. "Ich bin da ganz uneitel. Bart tragen ist bei mir auch Bequemlichkeit. Und er wächst ja schnell wieder nach."
Apropos "Zauberflöte" in Berlin: Die Neuinszenierung an der Staatsoper unter den Linden von Yuval Sharon hat im Publikum beinahe Tumulte ausgelöst. Sharon steckt die Hauptrollen in Spielzeug-Superhelden-Kostüme und lässt sie als Marionetten in der Luft baumeln. Buh-Rufer und Bravo-Rufer brüllten gegeneinander an. "Das war super", sagt Julian Prégardien, und lacht vergnügt. "Das hat total Spaß gemacht. Wenn das möglich ist im Theater, dann lebt das Theater."
Immer gebe es beim Publikum Befindlichkeiten und Erwartungshaltungen. Mit denen müsse man sorgfältig umgehen: "Man sollte nicht der Provokation halber provozieren." Im Fall der Berliner "Zauberflöte" reichte es als Provokation, dass Yuval Sharon alle üblichen Themen verweigerte: Freimaurer, Machtfragen, das Verhältnis von Mann und Frau. "Genau das gefällt mir an dieser Inszenierung", sagt Prégardien. "Überall auf der Welt wird erwartet, dass die neue ,Zauberflöten'-Inszenierung die letztgültige ist – der Schlussstein, der Stein der Weisen." Dabei komme jeder mit einem riesen Rucksack an Erwartungen in die Oper. "Da sind doch, im Höchstfall, zehn Prozent Ersthörer der ,Zauberflöte'. Aber alle erwarten, dass genau ihre Fragen beantwortet werden."
Dass er als Interpret und Darsteller, als Intellektueller und Künstler mit eigenen Ansichten und eigenem Anspruch immer unterschiedlichsten Erwartungen ausgesetzt ist – von Publikum, Regisseuren, Dirigenten – findet er nicht nur nicht beengend, sondern inspirierend: "Weil da eben nicht die eigene Sicht auf die Dinge die entscheidende ist." Man könne das ja danach unter Kollegen diskutieren, aber wenn er zustimme, an einer ganz bestimmten Produktion mitzuwirken, "dann gebe ich mit meiner Unterschrift meine Einwilligung, mich in gewisser Weise einzuordnen".
Er liest grundsätzlich alle Kritiken und setzt sich damit auseinander
Dabei gebe es sicher Kollegen, die nicht mitgemacht hätten, worauf er sich in Berlin eingelassen habe. "Ich fand dieses Reinfliegen zu Beginn klasse – da bin ich halt irgendwie noch Kind, das möchte ich mir nicht nehmen lassen." Die Idee, dass Prégardien das selbst machen sollte, und nicht ein Double, hatten Regisseur und Dirigentin erst zur Generalprobe. "Ich hab's ausprobiert, und natürlich hat es drei, vier Vorstellungen gedauert, bis ich mich wohlgefühlt habe. Der Anfang ist nicht so leicht zu singen, und an Seilen hängend hat man ein ganz anderes Körpergefühl."
In einer Kritik hieß es, Julian Prégardien sei der einzige Lichtblick der Produktion, in einer anderen, er hänge da, wie ein nasser Sack. "Warnung an alle Journalisten: ich lese alle Kritiken. Alle, alle, alle, und mir macht das gar nichts aus, ehrlich. Ich nehme das alles in mich auf, über fachliche Kritik mache ich mir dann auch Gedanken." Die schönste Kritik, die er – Sohn des Tenors Christoph Prégardien – mal bekommen habe? "Der Apfel fällt doch weit vom Stamm", zitiert Prégardien und lacht schallend auf.
Apropos Apfel und Stamm: Wie ist es, als Tenor einen international gefeierten Tenor zum Vater zu haben? Dass die beiden sehr harmonisch in Terzen zusammen singen können, haben sie jedenfalls mit dem Programm "Vater & Sohn" gezeigt. "Er ist für mich beides", sagt Julian Prégardien, "sowohl Vorbild, als auch etwas, von dem ich mich emanzipieren muss. Immer noch. Und das wird auch nicht aufhören, glaube ich." Die gemeinsamen Konzerte hätten etwas von nonverbaler Familientherapie. "Weil man merkt, wie groß unser gemeinsamer Nenner ist. Das Glück, dass wir uns gemeinsam in den Dienst einer so schönen Sache stellen dürfen wie der Musik, und dass wir dafür das Feedback erhalten, dass das wirklich schön ist, das ist etwas, was ich vielen Vätern und Söhnen wünsche."