
Wunibald Müller ist ein beständiger und bekannter Mahner und Kritiker. Oft war er versöhnlich. Doch nun sei es genug, sagt der Würzburger Theologe und Psychotherapeut. Im Interview spricht der 73-jährige Autor und ehemalige Leiter des Recollectio-Hauses in der Abtei Münsterschwarzach (Lkr. Kitzingen) über Dinge, von denen er bereits vor Jahren sicher war, dass sie eintreten würden. Eine Bestandsaufnahme zum großen Flurschaden durch klerikale Strukturen, nötige Reformen und eine Kirche der Zukunft.
Wunibald Müller: Weil die katholische Kirche sich in einer der tiefsten Krisen seit ihrem Bestehen befindet und vieles in der Kirche von Grund auf nicht stimmt. Deshalb sagte ich vor kurzem, dass es genug sei. Weil katholische Gläubige sich nicht länger von denen in Rom belehren lassen, die für die miserable Situation, in der sich die Kirche gegenwärtig befindet, entscheidend mitverantwortlich sind.
Müller: Sicher, die Lehre der Kirche hat sich, bezogen auf die Bewertung gleichgeschlechtlicher intimer Handlungen, nicht geändert. Trotzdem ist es ein kleines Wunder, dass Rom die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare durch einen Priester erlaubt. Das war lange unvorstellbar – und ist für mich jetzt fast revolutionär. Ich beschäftigte mich bereits seit über 30 Jahren mit dem Thema Homosexualität und Kirche. Homosexualität galt als widernatürlich, homosexuelle Handlungen wurden als himmelschreiende Sünde betrachtet.
Müller: Durch diese, von Papst Franziskus abgesegnete vatikanische Erklärung verliert die Lehre der Kirche zur Homosexualität erheblich an Bedeutung, wird geradezu im Regen stehen gelassen. Steht doch jetzt nicht länger die Verurteilung der Homosexualität im Vordergrund. Mit der Segnung wird das, was im Leben und in den Beziehungen homosexueller Paare wahr, gut und menschlich gültig ist, gutgeheißen. Das schließt für mich ihre Liebe füreinander, auch wo sie sexuell zum Ausdruck gebracht wird, mit ein. Wenn das keine Kehrtwende ist!
Müller: Ja, schon. Die Zustimmung des Papstes zur Segnung homosexueller Paare ist ein Beispiel für seine kleinen Schritte in die richtige Richtung. Es geht vieles nur im Schneckentempo voran, aber es geht voran. Das lässt mich hoffen, dass sich noch mehr ändert.
Müller: So ist es. Das Grundproblem ist die klerikale Struktur. Auch oder gerade der Missbrauchsskandal hat deutlich gemacht, dass diese Struktur des Oben und Unten mit ausschlaggebend war für viele sexuelle Übergriffe. Die Unsensibilität gegenüber dem unsäglichen Leid von Kindern, die im kirchlichen Kontext sexueller und körperlicher Gewalt ausgesetzt waren, sind mit ein Ergebnis der klerikalen Struktur der Kirche. Sie führte auch in anderen Bereichen zu lieblosen Verhaltensweisen. Man denke an die unsägliche Diskussion über die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion, bei der das Kirchenrecht wichtiger war als die Barmherzigkeit.
Müller: So war es zumindest zum Teil in der Vergangenheit. Tatsache ist, dass vielen Bischöfen das Ansehen der Kirche wichtiger war als die Sorge um die Opfer. Das hat die Missbrauchsstudie der Erzdiözese München-Freising klar benannt. Jetzt ist es daher höchste Zeit, dass die Bischöfe, die Vorfälle sexualisierter Gewalt vertuscht haben, persönlich zu ihrer Schuld stehen und für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden. Dann dürfen sie auch damit rechnen, dass bei einer Gesamtwürdigung ihres Wirkens nicht übersehen wird, wo sie sich verdient gemacht haben.
Diskussionen über Klerikalismus gibt seit Jahren. Warum sollte sich jetzt etwas ändern?
Müller: Weil das klerikale System und ihre Vertreter offensichtlich einen großen Flurschaden angerichtet haben. Bis dahin, dass die christliche Botschaft, die befreiende und lebensfördernde Dynamik, die davon ausgehen sollte, nahezu erstickt worden ist, die Kirche keine Ausstrahlung mehr hat und keine prägende Kraft mehr ausübt. Das ist klar erkannt. Viele Gläubige, katholische wie protestantische, sind enttäuscht. Das hat unlängst die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung verdeutlicht.
Müller: Ja, das klerikale System ist ins Wanken geraten. Es ist morsch und unumkehrbar zum Einsturz verurteilt. Das aber ist ein Segen und eine Chance für die Kirche. Endlich kann die gegenwärtig noch vorherrschende Macht-Pyramide in der Kirche, bei der es ein Oben und Unten gibt, durch ein Netzwerk ersetzt werden. Ein Netzwerk, in dem alle Frauen und Männer, sogenannte Laien und Kleriker gleichberechtigt sind. Ich sehe das Christentum und mit ihr die katholische Kirche in eine neue Phase ihrer Entwicklung eintreten. Noch befinden sich Teile von ihr - wie die ewig Gestrigen - im Mittagsschlaf, doch es gibt kein Zurück mehr.
Müller: Ich habe mich viele Jahrzehnte für diese Kirche eingesetzt und versucht, mit dazu beizutragen, dass sie eine menschenfreundliche Kirche ist. Was die Beurteilung der Homosexualität und homosexueller Liebe betrifft, hat sich etwas verändert. Papst Franziskus ist offensichtlich doch noch, obwohl man es ihm fast nicht mehr zugetraut hätte, für Überraschungen gut.
Müller: An das Gespräch damals kann ich mich sehr gut erinnern. Da war ich zu optimistisch. Ende 2019 hatte man im Zusammenhang mit der Amazonas-Synode erwartet, dass der Zölibat ins Wanken gerät. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass die Reformvorhaben, die ab 2020 hierzulande beim Synodalen Weg beraten wurden, weiterhin eine Rolle spielen. Sie werden aber erst dann verwirklicht werden, wenn die Kirche weniger um sich selbst kreist, sie für alle Menschen da ist, sie in ihrer Not ernst nimmt, hinhört, was sie brauchen und wonach sie sich sehnen.
Müller: Die Weihe von Frauen zu Priesterinnen und irgendwann auch zu Bischöfinnen wird und muss kommen. Der eigentliche Skandal ist hier doch die dieser Verweigerung zugrundeliegende Abwertung der Frau durch die Kirche. Das aber ist nicht länger hinnehmbar und macht es Frauen und Männern zunehmend unmöglich, sich weiterhin zu dieser frauenfeindlichen Kirche zu bekennen.
Müller: Ohne sie geht schon lange nichts mehr. Kirche wird inzwischen immer mehr vor Ort erlebt. Dabei kristallisiert sich die Kirche der Zukunft heraus. Von dieser Kirche vor Ort geht eine Dynamik aus, die auf Dauer stärker ist als die Dynamik, die von Teilen Roms ausgeht, die mir eher wie die letzten Zuckungen eines sterbenden klerikalen Systems vorkommt.
Müller: Ich übersehe sie nicht und sie stimmen mich zuversichtlich. Sie entbinden die Gläubigen aber nicht davon, sich nicht länger von Rom gängeln zu lassen, sondern endlich aufzustehen, selbst Verantwortung zu übernehmen und ihren Teil zu dem notwendige Wachstums - und Wandlungsprozess der Kirche beizutragen.
Lieber Gruß, Martin Dobat