War da was? Stadien, Theater und Weinfeste sind voll, Menschen mit Mundschutz fast nur noch in Bus, Zug oder im Altenheim anzutreffen. Der Sommer 2022 fühlt sich für die meisten so unbeschwert an wie er heiß ist. Dabei hat die aktuelle Corona-Welle in Deutschland gerade erst einen neuen Höhepunkt erreicht – zumindest bei der dokumentierten Zahl von Fällen.
Weil viele Infektionen gar nicht mehr erfasst sind, gehen Experten von einer hohen Dunkelziffer aus. Sie könnte um das Drei- bis Vierfache höher sein als die offiziellen Zahlen. Ist der Sommer 2022 also ein Sommer der Durchseuchung? Und was ist eigentlich so anders als in den ersten beiden Corona-Jahren? Ein Rückblick und Vergleich mit dem Virologen Prof. Lars Dölken von der Universität Würzburg.
Corona-Jahr 2020: Der Sommer der trügerischen Hoffnung
Nach dem Ausbruch der Pandemie Anfang März 2020 ist ein erster Höhepunkt schon Anfang April überschritten. Die Inzidenzkurve flacht ab, im Mai 2020 verzeichnet man auch in Unterfranken nur noch einstellige Werte. Der niedrigste Stand ist für Mitte Juni dokumentiert: 0,7 – also statistisch nicht einmal mehr ein einziger Corona-Fall pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen.
Ab Mitte Mai wird der erste Lockdown schrittweise gelockert. Friseure öffnen wieder, die Gastronomie zunächst im Außenbereich, ab Ende Mai dann auch die Innenräume. Immer unter strengen Hygieneauflagen, es ist die Zeit der Kontaktnachverfolgung, Gesundheitsämter stoßen an ihre Grenzen. Die Politik gerät unter Druck, zügig die Kapazitäten auszubauen. So will man eine erneute Ausbreitung des Virus verhindern.
Vorsicht auch an den Hochschulen, studiert wird im Sommersemester 2020 ausschließlich digital. Kleinere Veranstaltungen sind wieder erlaubt, große – wie etwa das Kiliani-Volksfest oder Kissinger Sommer – werden frühzeitig abgesagt. Mit der Urlaubs- und Reisezeit steigen die Corona-Zahlen im Juli und August zwar wieder leicht an, sind aber immer noch einstellig.
Ein Impfstoff ist noch in der Enwicklung, aber die Pandemie scheint zu diesem Zeitpunkt unter Kontrolle. Und so macht sich die Hoffnung breit, dass weitere Wellen gänzlich ausbleiben könnten. Eine trügerische Hoffnung, wie sich zeigen soll. Die allermeisten Virologen teilen sie schon damals nicht. "Es war absolut klar, dass die Zahlen im Herbst wieder steigen werden", sagt Lars Dölken, Leiter des Instituts für Virologie und Immunbiologie an der Uni Würzburg. "Das Virus war ja nicht weg."
Immerhin: Mit viel Geld vom Staat werden die Testkapazitäten ausgeweitet, an der Uni Würzburg von 500 auf 1000 Tests pro Tag. Ist die Politik zu passiv? Nicht in diesem ersten Corona-Sommer, findet Dölken im Rückblick. Die erneute Ausbreitung im Herbst und die in der Folge erforderlichen Maßnahmen und Kontaktbeschränkungen "waren nicht zu verhindern".
Corona-Jahr 2021: Der Impfsommer
Gleichzeitig mit dem Auftreten der britischen Variante B.1.1.7 (Alpha-Variante), die in Deutschland erstmals im Dezember 2020 nachgewiesen wird, startet zum Jahresbeginn 2021 die Impfkampagne. Es ist ein Wettlauf mit der neuen Variante, ältere Menschen und Gesundheitspersonal sind zuerst dran.
Die Impfungen verhindern zwar viele Todesfälle in der älteren Bevölkerung. Gegen die anlaufende Corona-Welle kommen sie aber zu spät. So steigen die Infektionszahlen im Frühjahr 2021 wieder deutlich an, auch wegen der Ausbreitung der Virus-Mutante aus England. Harte Gegenmaßnahmen sind wieder erforderlich.
Die Alpha-Variante wird ab Juni 2021 abgelöst von der Delta-Variante (indische Variante), die noch ansteckender ist und bereits im August das Infektionsgeschehen in Deutschland dominiert. Doch wie im ersten Corona-Sommer sind die absoluten Fallzahlen auch Mitte 2021 rückläufig, der niedrigste Inzidenzwert für Unterfranken wird am 17. Juli registriert: 5,7.
Entspannung ist angesagt. In Würzburg zum Beispiel streicht man Ende Juni 2021 die seit Herbst 2020 geltende Maskenpflicht auf der Alten Mainbrücke. Schrittweise kommt auch der Tourismus wieder in Gang. Die doppelte Impfung wird zu einer Art "Eintrittskarte" für Reisen, Veranstaltungen oder Gastronomie. Groß ist die Sehnsucht nach Normalität.
Es ist just die Zeit, als das Robert Koch-Institut (RKI) eine Modellierung für den bevorstehenden Herbst und Winter vorlegt. Fazit: Zur Vermeidung einer weiteren schweren Welle muss die Impfquote auf über 90 Prozent deutlich steigen. Ansonsten drohen im Winter wieder "Kontaktrestriktionen". Doch schon im August geht der Kampagne die Luft aus. Und die Infektionszahlen steigen.
Die Berliner Politik ist im Sommerurlaub oder im Wahlkampfmodus vor der Bundestagswahl. Die Warnungen der Virologen werden in den Wind geschlagen – oder vor der Wahl nicht mehr umgesetzt. Lars Dölken ist die Frustration hierüber noch immer deutlich anzumerken: "Es war klar: Wenn wir keine Impfquote über 90 Prozent erreichen, wird es wieder Kontaktrestriktionen, ein Euphemismus für einen Lockdown, geben."
Die schwere Welle im Herbst 2021, davon ist der Würzburger Virologe überzeugt, hätte sich verhindern lassen – "mit einer Impfpflicht für die über 60-Jährigen ab August und ab September/Oktober vielleicht noch für alle über 50-Jährigen". Dies hätte nicht nur die Kliniken entlastet und den Teil-Lockdown verhindert, sagt Dölken, sondern auch viel Druck von jungen Leuten genommen, sich impfen lassen zu müssen.
Dass die Politik im Sommer 2021 die RKI-Warnung ignoriert hat, hält er für sehr bedauerlich. Gleichwohl: Deutschland war nicht allein, eine Impfpflicht für ältere Menschen hatte damals kein Land in Europa eingeführt. Zu hoch waren offenbar die Hürden.
Statt präventiv zu handeln, habe man, sagt Dölken im Rückblick, im zweiten Corona-Sommer erneut auf das Prinzip Hoffnung gesetzt: Auch 70 bis 75 Prozent Impfquote könnten ja reichen. Impfmüdigkeit macht sich breit, schon Anfang Juli 2021 sind in unterfränkischen Impfzentren viele Termine frei. Nach und nach werden sie geschlossen, Ende September auch die beiden Zentren in Würzburg und Giebelstadt.
Corona-Jahr 2022: Ein Sommer der Leichtigkeit
Zwar ist ein Jahresvergleich von Inzidenzwerten nur bedingt aussagefähig, schließlich ändern sich Umfang und Vorgaben für die Corona-Testungen. Doch unstrittig nimmt die Kurve in diesem dritten Corona-Sommer einen radikal anderen Verlauf als in den beiden Vorjahren. Aufgrund der hohen Dunkelziffer seien "die Unterschiede eigentlich sogar noch viel größer", sagt Lars Dölken. "Wir sehen bei Omikron, in welche Höhen die Infektionszahlen ohne Gegenmaßnahmen gestiegen wären – mit katastrophalen Folgen für uns alle."
Auch allein mit den offiziellen Zahlen ist diese erste Sommerwelle seit Ausbruch der Pandemie unverkennbar: Nach einem markanten Rückgang nehmen die Infektionen seit Anfang Juni deutlich zu. Einen Höhepunkt gibt es am 23. Juli mit einer unterfrankenweiten Inzidenz von 1090, seitdem sind die Werte wieder rückläufig (Stand 7. August: 565,5)
Der Virologe rechnet damit, dass sich die aktuelle Welle bis in den September hineinzieht. Er geht davon aus, dass sich in Unterfranken derzeit vier bis fünf Prozent der Bevölkerung pro Woche mit dem Virus infizieren. Eine Schätzung, die sich mit der Wahrnehmung der meisten Menschen deckt: Fast jede und jeder kennt gerade einen Corona-Fall im Freundes- oder Kollegenkreis.
Der Umgang mit dem positiven Test aber ist deutlich lockerer geworden. Die Quarantäne ist verkürzt. Dabei, unterstreicht Dölken, "ist Corona weiterhin kein einfacher Schnupfen". Viele Betroffene erkrankten wie bei einer schweren Grippe und würden ein bis zwei Wochen ausfallen. Wie viele davon in der Folge an Long-Covid und Langzeitschäden leiden werden, sei noch unklar.
Dass sich die Sommerwelle so massiv aufbauen konnte, lässt sich leicht erklären: Die Omikron-Variante, erstmals Ende November 2021 in Bayern nachgewiesen, ist deutlich infektiöser als die im Sommer 2021 vorherrschende Alpha-Variante. Und es gibt keine Kontaktbeschränkungen mehr. Menschen drängen sich wieder in engen Räumen und strömen in Massen zusammen.
Aus medizinischer Sicht ist die Sommerwelle 2022 beherrschbar, nur ein geringer Teil muss ursächlich wegen einer Corona-Infektion ins Krankenhaus. Und Virologe Dölken geht bei der Bewertung sogar noch einen Schritt weiter: "Die unerwartete Sommerwelle nach der Frühjahrswelle stimmt mich zuversichtlich, da wir mit einer deutlich höheren Immunität in den kommenden Winter gehen und so mit etwas Glück ohne neuerlichen Lockdown auskommen werden."
Aktuelle Sorge: Eine starke Influenza-Ausbreitung im Winter
Die vielen Ansteckungen stärken die Immunität in der Bevölkerung. Dölken schätzt, dass inzwischen über 90 Prozent der Bevölkerung Kontakt mit dem Virus hatten, entweder über die Impfung oder eine Infektion. Was dem Virologen im Moment vor allem Kopfzerbrechen bereitet: "Wir hatten vier Jahre lang praktisch keine Influenzsaison." Wenn die Grippe – in Kombination mit Corona – zurückkehrt, "kann uns das richtig weh tun".
Auch das Grippevirus, das hat die Vergangenheit gezeigt, kann bei starker Verbreitung das Gesundheitswesen an seine Grenzen bringen. Nach dem Corona-Impfsommer 2021 hoffen Experten wie der Würzburger Lehrstuhlinhaber deshalb auf einen Influenza-Impfherbst 2022.