Ein bisschen träge sein ist einfach. Warum zu Fuß aus dem Haus gehen, wenn kein Laden, kein Biergarten, kein Freizeitspaß erreichbar ist? Wer keine Motivation zum Sporteln hat, bleibt schnell mal daheim oder nimmt das Auto. Das gilt in Städten, aber gerade auch in ländlichen Regionen. Und genau hier setzt das Projekt "Eubeko" an, sagt Sportwissenschaftlerin Dr. Birgit Sperlich. In zwei Modellkommunen wollen Forscherinnen und Forscher der Universität Würzburg und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg herausfinden, wie ganze Gemeinden aktiver und fitter werden können. Eine davon ist Wülfershausen im Landkreis Rhön-Grabfeld.
Wolfgang Seifert schwankt. Sobald er einen Fuß hebt, gerät der Balken in Bewegung. Die Sprungfedern wippen auf und ab, die Arme suchen Halt in der Luft. Vergeblich. Bleibt nur abspringen und wieder aufsteigen. Oder doch links zum Geländer greifen. "Schwerer als gedacht", sagt der Bürgermeister von.Wülfershausen. Der 65-Jährige turnt nicht ohne Grund an diesem Morgen über den Balancierbalken: Auf Seiferts Initiative hat sich der Ort für "Eubeko" beworben – und jetzt heißt es machen, raus gehen, aktiv sein.
Eine Art Parcours einmal quer durch das Dorf
"Das Projekt soll Bewegung für jedermann in den Alltag bringen und setzt dabei in der Lebenswelt der Kommune an", erklärt Birgit Sperlich. Ziel sei es, Strukturen zu schaffen, die Aktivität allen Menschen zugänglich mache. Dafür müssten Entscheidungsprozesse verändert werden. Und es brauche eine systematische Planung, um Bewegungsförderung vor Ort umzusetzen.
Warum, zum Beispiel, wird ein neuer Rad- oder Fußweg gebaut? Wer entscheidet das und vor allem, was beeinflusst diese Entscheidung? "Diese Vorgänge besser zu verstehen, kann helfen, um Gesundheit und Bewegung stärker auf die politische Agenda zu bringen", sagt die Würzburger Sportwissenschaftlerin. Für ihr Projekt wählten die Forscher die Modellgemeinden Mannheim in Baden-Württemberg und eben Wülfershausen in Unterfranken aus.
Warum die Gemeinde im Grabfeld? Nein, seine Dorfgemeinschaft sei weder besonders faul noch besonders krank, sagt Seifert und lacht. Trotzdem sieht er das Projekt als Chance, etwas zu bewegen – im doppelten Wortsinn. Der Bürgermeister zeigt auf ein schwarzes Schildchen mit gelben Pfeilen. Es markiert die neu entstandene "Bewegte Dorfrunde", eine Art Parcours quer durch den Ort.
15 Stationen gehören dazu, vom Balancierbalken über Wackelbretter und Klettergerüste bis hin zu Reckstangen. Es gehe freilich nicht um Hochleistungssport, "niemand soll überfordert oder für Olympia fit gemacht werden", sagt Seifert. "Die Menschen können etwas für ihre Gesundheit tun und zugleich am sozialen Leben im Ort teilnehmen."
Deshalb flankieren Bänke die Runde, sie führt mitten durch das Dorf und nicht durch Feld und Wald. Am Spielplatz vorbei geht es hoch zur frisch sanierten Grundschule. Im Pausenhof stehen zwei Stationen: Klettergerüste mit dicken Seilen, Festkrallen und Balancieren sind gefragt. Für Kinder vermutlich kein Problem, Erwachsene dürften hier öfter in den Seilen hängen. Auch Seifert kämpft kurz mit dem Gleichgewicht, hangelt sich aber bis zum Ende durch.
Er ist seit 2018 Bürgermeister in Wülfershausen. Die 1500-Einwohner-Gemeinde schmiegt sich rechts und links ans Saaleufer, in den Gärten blühen Rosen, Beete werden in der Vormittagssonne ordentlich geharkt. Eine Bäckerei, einen Metzger und zwei Läden gebe es noch - beziehungsweise wieder -, einen Hausarzt leider nicht mehr, sagt Seifert. Dafür fahre stündlich ein Bus ins zehn Minuten entfernte Bad Neustadt. Und Sportangebote? Radwege, der Sportverein, eine Gymnastikgruppe. Das war's. Zu wenig aus Seiferts Sicht.
Weniger als ein Viertel der Deutschen erreichen die Bewegungsempfehlungen
Der 65-Jährige hat selbst in diesem Januar einen Herzinfarkt erlitten. "Insgesamt ist Bewegung für mich zu kurz gekommen in den letzten Jahren", sagt der Bürgermeister. Der Infarkt habe ihn erschreckt, gibt er offen zu. "Ich habe die Notwendigkeit erkannt, dass man sich bewegen muss. Das ist schwer, man hat immer Tausend Ausreden – aber man muss sich überwinden."
Tatsächlich gelingt das längst nicht allen Deutschen. "Laut Robert Koch-Institut erreichen weniger als 25 Prozent der Bevölkerung die Bewegungsempfehlungen für Ausdauer und muskelkräftigende Aktivität", sagt Sperlich. Und Corona habe diese Bilanz nicht verbessert. Auch nicht in Wülfershausen.
Dort fiel im Pandemie-Jahr 2020 der Startschuss für "Eubeko". Eine Planungsgruppe mit Vertretern der Gemeinde, der Grabfeld- und NES-Allianz und dem Landkreis wurde gegründet. Noch kurz vor dem ersten Lockdown fand eine Diskussionsveranstaltung mit Bürgerinnen und Bürgern statt, um Wünsche und Bedürfnisse zu sammeln. Zudem leiteten die Wissenschaftler aus der Fachliteratur zehn Handlungsfelder für eine bewegungsfreundliche Gemeinde ab. Wichtig dabei laut Sperlich: "Bewegung ist nicht nur Sport." Auch der Zugang zu Naturräumen, ausgebaute Fuß- und Radwege, eine gute ÖPNV-Anbindung und erreichbare Ziel- oder Treffpunkte in den Gemeinden fördern Bewegung.
So wurde auf Initiative der Bürger in Wülfershausen beispielsweise ein Bikepark für Kinder und Jugendliche gebaut. Ein Unverpackt-Laden eröffnete. Engstellen an Bürgersteigen wurden beseitigt. Und auch die "Bewegte Dorfrunde" entstand.
Gut 2,8 Kilometer ist die Runde lang, die Kosten liegen laut Seifert bei etwa 30.000 Euro. Mal geht es darum, Hand und Auge zu koordinieren. Mal gilt es, Arme und Beine zu dehnen oder mit ruhiger Hand einen Metallring über eine Stange zu ziehen. Und manchmal kommt man richtig ins Schwitzen, wie etwa auf dem Free Runner.
Den hat Rosi Will schon ab und an ausprobiert. Ähnlich wie bei einem Cross-Trainer steht man auf zwei schwingenden Pedalen und muss die Beine gleichmäßig vor und zurück bewegen. "Ich finde das gut", sagt die 54-Jährige. Sie sei generell viel unterwegs und werde die Geräte künftig öfter nutzen.
"Man kann mit der Dorfrunde, wenn man sie mehrmals pro Woche oder sogar täglich geht, gut die Bewegungsempfehlung erreichen", sagt Sperlich. Die liegt laut Weltgesundheitsorganisation bei 150 bis 300 Minuten moderater Aktivität pro Woche plus Muskelkräftigung. Der Rundweg dauere etwa eine dreiviertel Stunde – "da nähern wir uns an".
Nur wenige Schritte vom Free Runner entfernt steht eine Bank mit Fahrradpedalen neben drei Reckstangen. "Da kann man einige Übungen machen, die ich aus dem Fitnessstudio kenne", sagt Nadja Kiesel. Sie wohnt direkt nebenan und integriert die Stationen in ihre Nordic-Walking-Runde. Auch ihre Tochter Eva hat die Übungen ausprobiert. "Wenn ich abends mit meiner Schwester laufe, machen wir das manchmal", sagt die Zwölfjährige.
Im Gemeinderat wurde das Projekt anfangs skeptisch gesehen
Nicht überall im Ort war und ist das Echo positiv. Im Gemeinderat etwa habe es anfangs Skepsis gegeben, sagt Seifert. "Das war ja noch nie da", habe es geheißen. Und der ein oder andere habe wohl hinter vorgehaltener Hand gefragt, "ob ich jetzt anfange zu spinnen". Noch immer sieht mancher die Runde kritisch: Sich vor den Augen der anderen Dorfbewohner abstrampeln – nein danke.
Wie also motiviert man die Menschen? "Es kann hilfreich sein, wenn man regelmäßig jemanden sieht, der die Stationen nutzt, damit die Scham überwunden wird und sich keiner blöd vorkommt", sagt Sperlich. Wer am Ende wirklich erreicht wird, das soll mit einer Befragung überprüft werden. Medizinische Untersuchungen seien bisher keine geplant.
Ganz neu ist die Idee der Runde nicht. Im Landkreis Rhön-Grabfeld gibt es bereits in vielen Orten ausgewiesene Dorfrunden, die die Bewohner zum Spazierengehen, Joggen oder Walken nutzen können. Dazugekommen sind in Wülfershausen die Bewegungsstationen.
An diesem Samstag, 26. Juni, sollen sie nun offiziell eröffnet werden. Mit einem großen Fest im Pfarrhof. Damit ende das Projekt aber nicht, sagt Sperlich. Die neuen Strukturen, die Planungs- und Arbeitsgruppen, sollen nachhaltig verankert werden. Schließlich soll Wülfershausen bundesweites Modell sein und auch anderen Kommunen helfen, Bewegungsmöglichkeiten zu schaffen. Geplant sei deshalb, einen Ansprechpartner für Bewegung und Gesundheitsthemen vor Ort zu ernennen.
Im städtischen Umfeld in Mannheim gibt es andere Herausforderungen
Etwas anders sieht es in Mannheim aus, der zweiten Modellkommune. Dort setze "Eubeko" in einem sozialen Brennpunkt an, von vorneherein sei das Ziel die Neugestaltung des Wohnquartiers gewesen, sagt Sperlich. Die Herausforderungen in der städtischen Umgebung waren andere, etwa eine hohe Migrationsrate und die Frage, wie alle Menschen einbezogen werden könnten. In Wülfershausen sei das einfacher gewesen. Die Bürgerinnen und Bürger seien zwar kritisch an das Projekt herangegangen – aber mit enormem Engagement.
Die Bewegung auf der "Dorfrunde" kann losgehen. Die Geräte funktionieren, die Erklärtafeln stehen. Wolfgang Seifert zeigt auf das blaue Schild neben der unscheinbaren Treppe am Saaleufer. Acht Stufen aus Stein, auch das ist eine Station. Seifert springt leichtfüßig hinab. Umdrehen. Und wieder rauf, auf einem Bein. Der Bürgermeister holt Schwung. Die erste Stufe gelingt, die zweite auch. Dann ächzt der Bürgermeister: "Das ist tatsächlich anstrengend."