Endlich Feierabend, endlich Laufen gehen? Für die Mehrheit der Deutschen sieht der Alltag anders aus. Sie schlüpfen am Abend zwar in die Jogginghose, statt sportlich aktiv werden sie darin jedoch meist gemütlich faul. Aber: „Man kann nicht sagen, ich bin ein Bewegungsmuffel und die Gene sind schuld daran“, sagt der Würzburger Sportwissenschaftler Billy Sperlich. Sich bewegen könne jeder, auch im hohen Alter – „man muss es nur machen“. Ein Gespräch über den inneren Schweinehund, Pokémon und Fitness-Tracker als Motivationshilfe und darüber, wie man auch im Büro in Bewegung bleiben kann.
Frage: Die WHO empfiehlt ungefähr zweieinhalb Stunden moderate Bewegung pro Woche. Studien zeigen immer wieder, dass die Mehrheit der Deutschen das nicht erreicht. Warum sind wir so faul?
Billy Sperlich: Da gibt es viele Gründe, einer ist sicherlich die ständig fortschreitende Technisierung und Automatisierung in unserem Alltag. Autos, öffentliche Verkehrsmittel und technische Geräte nehmen uns die körperliche Aktivität ab. Wir sind nicht mehr gezwungen, so wie früher, längere Strecken zu Fuß zu gehen oder Muskelarbeit auszuüben. Eine Folge, die mittlerweile als Risikofaktor unabhängig vom Bewegungsmangel angesehen werden muss, ist das dauerhafte Sitzen.
Manche drängt es aber auch heute noch zum Laufen, Schwimmen, Radfahren. Andere müssen sich zwingen, das Sofa zu verlassen. Gibt es grundsätzlich Bewegungsmenschen und Sportmuffel?
Sperlich: So kann man es sagen. Problematisch dabei ist, dass Bewegungsempfehlungen oder Bonussysteme wie von Krankenkassen meist die Leute ansprechen, die sich ohnehin bewegen. Große Bevölkerungsgruppen zum Bewegen zu bringen, ist viel schwieriger. Es gibt verschiedenste Konzepte, aber kein Allheilmittel, kein Grundkonzept. Die Motive, warum Personen sich nicht bewegen, sind sehr individuell. Vielleicht haben wir auch insgesamt verlernt oder erlernen es gar nicht mehr, uns lebenslang zu bewegen.
Deswegen ist ein Ansatz, das Umfeld so zu gestalten, dass es zur Bewegung einlädt und sie wieder notwendig macht, zum Beispiel durch Fahrradwege, Parks oder Spielplätze oder indem man etwa Treppenhäuser statt Fahrstühle in den Vordergrund stellt.
Faul sein ist aber nicht genetisch veranlagt?
Sperlich: Nein, das hat damit überhaupt nichts zu tun. Es gibt bessere und schlechtere Energieverwerter und Personen die leichter Muskulatur aufbauen. Aber man kann nicht sagen, ich bin ein Bewegungsmuffel und die Gene sind schuld daran. Wir wissen, dass bei vielen Aspekten, so etwa auch im Hochleistungssport, die Gene nur zu 50 Prozent eine Rolle spielen – der Rest sind soziale Umgebungsfaktoren und angelernte Fähigkeiten.
Also kann man aus seiner Haut heraus?
Sperlich: Man kann, aber das ist eine Lebenseinstellungsänderung. Die geht nicht von heute auf morgen, da muss man kleine Schritte machen. Es gilt, die richtige Bewegung für sich finden: Nicht jeder hat Lust zu Joggen. Man sollte am Anfang verschiedenes ausprobieren. Wobei ich sage, dass es gar nicht vorrangig um das sportliche Training geht, also darum, dass man zwei oder drei Mal pro Woche in einen Verein geht.
Man sollte in jeden Tag mehr Bewegung integrieren. Zu Fuß zur Arbeit oder mit dem Fahrrad oder mal ein paar Haltestellen früher aussteigen.
Sie forschen unter anderem zur Wirksamkeit von sogenanntem „high-intensity interval training“ (HIIT), bei dem kurz aber mit hoher Intensität trainiert wird. Wie sieht das praktisch aus?
Sperlich: Das high-intensitiy training (HIT) ist ursprünglich ein extremes Krafttraining, das eigentlich aus dem Bodybuilding kommt. Beim Intervalltraining (HIIT) geht es darum, in kurzen Phasen die körperliche Belastung sehr hoch zu halten und dann in einer Intervallpause wieder zu reduzieren. Ein Beispiel: Man sucht sich eine Übung wie Laufen oder Radfahren und belastet sich vier mal vier Minuten lang mit einer etwa dreiminütigen Pause dazwischen. Da das für das Herz-Kreislauf-System schon eine extreme Anstrengung ist, sollte man vor einem solchen Training seine Gesundheit beim Sportmediziner abklären lassen. Derzeit versuchen wir herauszufinden, wie viel HIIT es sein muss, um vor allem das dauerhafte Sitzen zu unterbrechen.
Und was ist die Antwort?
Sperlich: Wir gehen von mehrmaligen Sechs-Minuten-Intervallen aus und wollen untersuchen, inwiefern eine solche Belastung gesundheitsfördernd wirkt. Der Nachteil ist, dass nicht jede Bewegungsform beim HIIT für jeden geeignet ist. Beispielsweise sieht man in manchen Fitness-Apps für Ungeübte unpraktische Übungen wie Burpees, bei denen man sich quasi in den Liegestütz fallen lässt und dann mit einem Strecksprung nach oben springt. Das hat zwar eine hohe Herz-Kreislauf-Aktivierung, belastet aber Handgelenke, Ellbogen und Schultergelenk stark. Man muss passende Bewegungsübungen aussuchen.
Wie könnte das im Alltag konkret aussehen?
Sperlich: In einer Studie haben wir einen halben Tag im Büro simuliert und getestet, ob sechs Minuten hohe Belastung während drei Stunden Sitzen zu einer deutlichen Aktivierung des Herz-Kreislauf-Systems führen. Wichtig war, dass alle Übungen wie Knieheben, Joggen auf der Stelle, Hampelmänner oder Ausfallschritte direkt am Arbeitsplatz und in entsprechender Arbeitskleidung auszuführen waren. Und es scheint zu funktionieren: Wenn man das sechs Minuten durchhält, erreicht man rund 85-90 Prozent der maximalen Herzfrequenz und verbraucht je nach Körpergewicht rund 100 Kalorien mehr als nur im Sitzen.
Nur noch sechs Minuten Übungen am Tag – das klingt wie die Rettung für alle Menschen mit innerem Schweinehund. Kann so jeder trainieren oder ist HIIT nur für Leistungssportler gedacht?
Sperlich: Nein, einmalig sechs Minuten HIIT reicht nicht aus, um die Empfehlungen der WHO zu erreichen. Wenn es häufiger am Tag und in der Woche durchgeführt wird, vielleicht schon – das prüfen wir derzeit. Am Beispiel des sechs Minuten HIITs müssten zwölf oder 13 Einheiten pro Woche durchgeführt werden, also etwa ein bis zwei pro Tag. Eigene und andere Studien haben gezeigt, dass HIIT bei gesunden Personen, Schulkindern, übergewichtigen Frauen oder Krebspatienten eine positive Wirkung auf die körperliche Leistungsfähigkeit und das Wohlempfinden hat. Vorsicht ist aber bei Herz-Kreislauf-Patienten geboten.
Immer mehr Freizeitsportler prüfen ihre Leistung mit sogenannten Wearables, an Armbanduhren erinnernde Minicomputer. Was bringt das?
Sperlich: Erstmal wollen die Nutzer herausfinden, wie hoch ihre tägliche Aktivität oder der Energieverbrauch sind. Wenn die Messung nur über das Gerät am Handgelenk erfolgt, sind die Ergebnisse, je nach Hersteller, sehr schlecht bis okay. Die Technologie ist zwar vorhanden, die Daten sind aber nur so gut wie der Algorithmus dahinter. Stehe ich zum Beispiel auf zwei Füßen und bewege nur den Arm, muss das die Software erkennen können. Sie darf nicht einfach Schritte addieren, wenn nur mit den Armen gestikuliert wird. Bei der Herzfrequenzmessung am Handgelenk kann ich nur empfehlen, zur Probe noch einen Brustgurt anzulegen und die Werte zu vergleichen.
Führen Wearables wirklich zu mehr Bewegung?
Sperlich: Ja, das funktioniert tatsächlich. Nehmen Sie etwa Pokémon. Das war wohl das bisher prominenteste Beispiel einer Technologie, die eine Zielgruppe aktiviert hat, die sonst inaktiv ist: die Videogamespieler und die Fernseh-Sitzer. Sobald sie ein Motiv hatten und Pokémon jagten, sind sie bis zu einem Halbmarathon am Tag gelaufen.
Das motiviert aber nur kurzfristig. Wenn Pokémon wieder out ist . . .
Sperlich: Genau das ist das Problem, auch bei den handelsüblichen Wearables. Sie müssen ein dauerhaftes Ziel vorgeben und sich immer wieder neu an das Fitnesslevel und die Alltagssituation anpassen. Sonst hören die Nutzer nach sechs bis neun Monaten auf, die Geräte zu tragen.
Und was passiert mit den Daten? Sind die sicher oder muss ich fürchten, bei schlechter Leistung bald Diättipps und Werbung fürs Fitnessstudio geschickt zu bekommen?
Sperlich: Die Daten müssen sicher sein. Sicher im Sinne des Datenschutzes und sicher im Sinne der Verlässlichkeit. Zu beklagen ist aus meiner Sicht derzeit nicht nur die Datensicherheit, sondern der Umstand, dass ein Nutzer meist nicht an die eigenen Rohdaten kommt. Man erhält meist nur eine Interpretation. Zum Vergleich: Ein Arzt sagt Patienten auch nicht nur, das Blutbild ist in Ordnung, sondern man erhält auch alle Werte. Bei Wearables ist das bei manchen Herstellern nicht möglich. Die massenhaft gesammelten Daten sind Gold wert und lassen sich für Analysen oder Marketingstrategien nutzen. Sie ein Stück weit im Verborgenen zu halten, liegt sicher im Interesse der Hersteller.
Wearables sprechen vermutlich eher jüngere Menschen an. Forscher haben allerdings gerade erst festgestellt, dass vor allem die Generation 50+ weit weg von der Bewegungsempfehlung der WHO ist. Werden wir mit zunehmendem Alter fauler?
Sperlich: Grundsätzlich gilt: Trägheit muss man physisch und psychisch überwinden und gesundheitspolitisch muss das schon im Kindergarten anfangen. Ich vermute, wenn man schon im frühen Kindesalter daran gewöhnt ist, bei schlechtem Wetter raus zu gehen, sich tagtäglich zu bewegen, dann zieht sich das im restlichen Leben durch. Sicherlich ist es so, dass mit zunehmendem Alter dann die Muskelmasse und Fitness nachlassen und damit viele Krankheiten assoziiert werden. Deshalb sind zwei Dinge wichtig: Gute Ernährung mit Eiweiß, so dass Muskelmasse aufgebaut werden kann. Und man muss Bewegungsformen finden, die auch im hohen Alter motivierend sind. Es gibt ältere Personen, die fühlen sich in einem Fitnessstudio wohl, viele brauchen aber andere Gruppenprogramme. Dazu forschen wir. Wearables oder Smartphones könnten da auch helfen, denn die jetzige Generation 50+ könnte für E-Health-Ansätze empfänglich sein. Bei meinen Großeltern hätte das nicht funktioniert.
Kann ich denn mit Willensstärke in jedem Alter noch zum Sportler werden?
Sperlich: Sie können durchaus 30, 40 Jahre lang die Fitness eines 40-Jährigen erhalten. Die Muskulatur ist sehr plastisch, sie kann sich sehr gut anpassen. Wenn Sie nichts machen, dann verschwindet sie ganz schnell, wenn Sie trainieren, passt sie sich auch flott an. Das geht auch im hohen Alter, man muss es nur machen.