Es ist Herbst im Naturschutzgebiet Lange Rhön. Sonne und Wolken wechseln sich ab. Ein kühler Wind weht. Eine kleine Schaf- und Ziegenherde nahe der Elsquellen stört die Kälte nicht. Teils sind die Tiere mit Fressen beschäftigt, teils liegen sie wiederkäuend im Gras. Ein Idyll. Zumindest oberflächlich. Bei genauem Hinsehen ist allerdings zu erkennen, dass einige der Tiere hinken.
Die Verletzungen der Tiere sind Ergebnis eines Vorfalls, der sich in der Nacht zum Montag ereignete. Da herrschte nämlich kein Idyll auf der Weide, da herrschte Panik. Vermutlich war es ein Wolf, dem es irgendwie gelungen war, den 1,10 Meter hohen, angeblich Wolfs-sicheren Elektrozaun zu überwinden und die Herde zu attackieren. Das Ergebnis waren zwei getötete Ziegen sowie fünf verletzte Tiere. Zudem war die rund 140-köpfige Herde kilometerweit verstreut, als Schäfermeister Julian Schulz aus Ginolfs am Montagmorgen von einem Kollegen Hartwig Möller alarmiert wurde.
Wolf als Angreifer: Bisswunden erhärten Verdacht
Auch dessen Herde war in der Nacht angegriffen worden. Auch bei ihm wurden zwei Tiere getötet und mehrere verletzt. Und auch er geht davon aus, dass der Wolf der Verursacher war. Allerdings blieb seine 800-köpfige Merino-Herde weitgehend im Pferch. Er ist gerade damit beschäftigt, zu ermitteln, wie viele Tiere fehlen. Eins ist es in jedem Fall. In der kleineren Herde von Julian Schulz sind es noch vier Tiere, die trotz aller Nachsuche und Hinweise von Wanderern, Autofahrern oder anderen Rhönbesuchern bislang nicht gefunden werden konnten.
Dass ein Wolf der Übeltäter war, davon zeugen nach Ansicht der beiden Schäfer die Bisswunden. Schulz hat da Erfahrung. Denn es ist nicht das erste Mal, dass er Tiere an den Wolf verliert. Genau vor zwei Jahren riss eine Wölfin zwei Ziegen seiner Herde an der Thüringer Hütte. Gewissheit, ob ein Wolf die Tiere getötet hat, wird es erst in einigen Tagen geben. Dann werden die DNA-Proben ausgewertet sein, die vom Landesamt für Umwelt (LfU) veranlasst wurden. Dann wird auch klar sein, ob womöglich sogar mehrere Wölfe die Herden angegriffen haben. Das wird zwar verbreitet, von Fachleuten aber für wenig wahrscheinlich gehalten.
Dass Schulz nicht rechtzeitig von dem Angriff auf seine Herde gewarnt wurde und einschreiten konnte, ist auf einen Zufall zurückzuführen. Normalerweise überwacht der 31-jährige Schäfer seine Herde per Kamera. In dieser Nacht hatte das Gerät einem Kollegen geliehen, dem vor wenigen Tagen am Arnsberg ein Tier gerissen wurde - ebenfalls von einem Wolf, wie die Schäfer annehmen.
Elektrozaun sogar höher als erforderlich
Schulz wie Möller betonen, dass sie ihre Herde vorschriftsmäßig mit Wolf-sicheren Elektrozäunen abgesichert hätten, deren Anschaffung durch den Freistaat gefördert worden war. Der Zaun von Schulz überschritt mit 1,10 Metern sogar die vorgeschriebene Höhe um 20 Zentimeter. "Das bringt nur wenig", ist Schulz überzeugt. Ebenso hält er Herdenschutzhunde in einer so stark touristisch geprägten Region wie der Rhön für ungeeignet. Die Gefahr, dass sie Besucher oder deren Hunde angreifen, sei zu hoch.
Die korrekte Zäunung ist Voraussetzung, dass ihnen der Schaden für die getöteten Tiere ersetzt wird. Dabei sei der gar nicht zu beziffern, betonen beide Schäfer. Da sei zum einen der Wert der Tiere, dazu komme der enorme Aufwand der vergangenen Tage beim Sammeln der Tiere. Zum anderen, und das könne zum Hauptproblem werden, seien viele Schafe gerade hoch trächtig. Durch die Attacke seien sie völlig verschreckt und teils drei bis vier Kilometer weit geflüchtet. Nun sei die Gefahr groß, dass sie in den nächsten Tagen die ungeborenen Lämmer verlieren.
In Kleidern schlafen: unruhige Nächte für die Schäfer
Die vergangenen Nächte seien für die Herden ruhig gewesen, so Möller und Schulz übereinstimmend. Nicht nur, dass die Kamera wieder angebracht ist, abwechselnd sehen die Schäfer nach den Tieren, und auch ein Naturparkranger beteilige sich an den Kontrollen. Für die Schäfer dagegen sind die Nächte derzeit unruhig und kurz. Hartweg Möller kann keine Nacht mehr ruhig schlafen, wie er sagt. Bei jedem Geräusch wache er auf. Um sofort los zu können, liege er mit Kleidern im Bett. Das Handy immer neben sich.
Passiert heute Nacht etwas? Schlägt der Wolf wieder zu? Diese Ungewissheit sei belastend und schlimm, so Schulz. Das gehe auf die Psyche und sei schlimmer als der materielle Schaden. Schließlich, das betonen beide, habe man als Schäfer eine sehr enge Beziehung zu seinen Tieren. Zu der Anspannung kommen noch die Bilder der verletzten oder getöteten Tieren, die den ansonsten eher rauen Männern offensichtlich sehr nahe gehen.
Droht eine Rhön ohne Rhönschafe?
"Den Wolf brauchen wir hier net", ist die Forderung, die Möller aus der ganzen Situation zieht. Schulz sieht die Politik gefordert. "Problemwölfe müssen entnommen werden", so seine klare Position. Die Zahl der Risse in der Region nehme ständig zu. Hier müsse sich die Politik endlich bewegen. Er jedenfalls habe "die Schnauze voll". Wenn das so weitergehe, "können wir bald alle aufhören", beschreibt er die Perspektiven der Weidetierhaltung in der Rhön. Mit Folgen für die Landschaft und das Naturschutzgebiet. Wenn hier keine Schafe mehr grasen, verbusche alles.
Mit anderen Weidetierhalten ist Schulz gerade dabei, in einem Schreiben, verantwortliche Minister auf die Situation in der Rhön hinzuweisen und entsprechende Konsequenzen zu fordern. Beim Publikums-trächtigen Weideabtrieb am 22. Oktober in Ginolfs werde das Problem sicher thematisiert: Eine Rhön ohne Rhönschaf soll es nicht geben.