
Während sich die von Russland provozierten kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine weiter zuspitzen, bangen auch Bürgerinnen und Bürger aus dem Landkreis Bad Kissingen um ihre Freunde und Bekannten dort. Etliche von ihnen pflegen nämlich seit mehr als 30 Jahren Kontakte in die Ukraine. Doch das scheint nun in diesen Tagen immer schwieriger zu werden.
36 Jahre ist es her, dass die radioaktive Wolke von Tschernobyl über Weißrussland nach Finnland zog. 1991 kamen zum ersten Mal Kinder aus der von Strahlen verseuchten Region um den Reaktor in den Landkreis Bad Kissingen. Organisiert hatte das der Kreisjugendring (KJR) mit Hilfe von Sponsoren. In Gastfamilien sollten sich die Mädchen und Buben etwas von ihren strapaziösen Erlebnissen erholen.
Hilfstransporte aus dem Landkreis in die Ukraine
Bis 2006 waren regelmäßig 30 bis 50 Kinder aus der Ukraine im Landkreis untergebracht. Ab 2007 konzentrierte man sich dann auf medizinische Hilfe für Kinder und junge Erwachsene. Zudem schickte der KJR mit Hilfe zahlreicher Freiwilliger aus dem Landkreis bis 2004 elf Hilfstransporte für die Menschen in der Gegend um Pripjat und zu einem Waisenhaus in Butscha auf die Reise.
Es entstanden zahlreiche Freundschaften. Man besuchte sich gegenseitig. Teilweise bestehen noch heute enge Kontakte. Davon berichtet auch Christine Müller (Münnerstadt), die 1993, zusammen mit den "Friedensfrauen", gleich zwei KJR-Hilfstransporte in die Ukraine begleitete. Sie stand bis vergangenen Mittwoch in E-Mail-Kontakt mit der früheren Deutschlehrerin Larissa Gerasimenko aus Bojarka, das etwa 15 Kilometer von Kiew entfernt liegt. "Wir sind richtige Freundinnen geworden und schreiben uns oft", sagt Müller im Gespräch mit dieser Redaktion.

Menschen in der Ukraine hofften auf gutes Ende
Gerasimenko habe ihr vor ein paar Tagen noch von einer gestreuten politischen "Informationskampagne" berichtet, die sie mit gemischten Gefühlen wahrgenommen habe. Es gebe zwar diplomatische Gespräche, deren Ergebnisse Experten aber unterschiedlich interpretierten, sagte Gersasimenko. Und es habe Gerüchte gegeben, in denen bereits davon die Rede war, dass Menschen demnächst ihre Häuser verlassen müssten. "Die einen sprechen von Evakuierung, die anderen von Deportation", zitiert Müller einen Satz ihrer Freundin aus einer E-Mail vor ein paar Tagen.
Müller steht nach all diesen Jahren auch noch immer mit Natascha Uschakowa, einer Lehrerin, die sie damals im Rahmen des KJR-Hilfstransports beim Besuch eines Waisenhauses in Butscha kennenlernte, in E-Mail-Kontakt. Vor drei Tagen habe sie noch geschrieben, dass auf Gott hofft und auf Putins gesunden Menschenverstand. Müller antwortete ihr, doch dann kam nur noch ein Bild von ihr zurück. Seitdem herrsche Funkstille. "Ich bin fassungslos und auch hilflos, weil man von hier aus nichts machen kann", sagt Müller und man merkt ihrer Stimme an, dass sie das sehr tief beührt.
Müller ist beunruhigt, weil sie am Donnerstag bei der Demonstration in Bad Kissingen gegen den von Russland gesteuerten Krieg in der Ukraine mit einer Frau aus der Ukraine ins Gespräch kam, die sagte, dass Butscha, eine Stadt 25 Kilometer von Kiew entfernt, inzwischen auch angegriffen worden sei. "Die Frage ist, ob man überhaupt noch E-Mails schicken kann oder ob das schon gekappt ist."
Martin Pfeuffer (Münnerstadt), der die Hilfstransporte in die Ukraine seinerzeit als KJR-Geschäftsführer mit organisierte und begleitete, ist von den Kriegsereignissen "wahnsinnig erschüttert", wie er im Gespräch mit dieser Redaktion sagt. "Ich dachte nicht, dass das ein Krieg wird." Am meisten entsetzt sei er gewesen, als er wahrnahm, dass die Russen über Weißrussland in die Ukraine eindringen. Das Ganze sei also von Putin von langer Hand vorbereitet gewesen.

Intensive Kontakte zu den ukrainischen Freunden
Er hatte am Freitag noch WhatsApp-Kontakt zu Irina Kukuschkina, der Dolmetscherin, die er von seinem Besuch im Waisenhaus in Butscha kennt und die früher auch öfter bei den Ferienaufenthalten im Landkreis dabei war. Sie wohnt in der Nähe von Kiew und sei inzwischen zur ihrer Tochter geflüchtet, weil diese einen Kellerraum hat, in dem man sich etwas schützen kann, sagt Pfeuffer. "Sie ist total verzweifelt." Da sie gebürtige Russin ist, habe sie zusätzlich Angst, dass deswegen jetzt auch von den Ukrainern Repressalien gegen sie ausgehen könnten.
Auch Werner und Conny Keller (Rannungen) pflegen seit 1993 intensive persönliche Kontakte zu ihren damaligen Patenkindern, den Geschwistern Vita und Diana Lutzkaja aus Repki. Das ist eine kleine ukrainischen Stadt, die im Norden an der Grenze zu Belarus liegt und zur Region Tschernihiw gehört, in der jetzt bereits Krieg geführt wird. Inzwischen sind die beiden 37 und 25 Jahre alt und leben in der Stadt Tschernihiw und in Kiew.
In WhatsApp-Gruppe Nachrichten austauschen
Werner Keller selbst war in der Tschernobylhilfe damals sehr engagiert und bei zehn Hilfstransporten in die Ukraine selbst dabei. Daher war für ihn und seine Frau seinerzeit völlig klar, dass sie selbst in Rannungen Gastkinder aufnehmen würden. Der Kontakt zu den beiden brach nie ab.
"Wir waren mehrmals, zum Beispiel 2015 und 2018, auch in der Ukraine und haben sie besucht. Da haben wir dann auch Hilfsgüter aus dem Landkreis für die Region dort mitgenommen", sagt Keller im Gespräch mit dieser Redaktion. Zwischendurch waren die jungen Frauen auch mehrmals in Rannungen. "Unsere Beziehungen haben sich sehr verdichtet", beschreibt Keller die freundschaftlichen Bande. In einer gemeinsamen WhatsApp-Gruppe halte man sich gegenseitig auf dem Laufenden.

Am Donnerstag habe er auch mit beiden noch per WhatsApp Kontakt gehabt. "Sie haben große Angst." Vita befinde sich im Keller eines Hauses in Tschernihiw, wo gerade schwere Kämpfe im Gang sind, weiß Keller zu berichten.
Flugzeuge, Raketenbeschuss, Explosionen
Diana habe auch ein Versteck in Kiew gefunden, wo sie sich jetzt aufhält. Sie höre die Flugzeuge kreisen und berichte von Detonationen, sagt Keller. "Wir machen uns große Sorgen und haben ihnen schon angeboten, dass sie zu uns kommen könnten. Aber das ist natürlich zur Zeit unmöglich."
Auch er steht in Kontakt zur Lehrerin und einstigen Dolmetscherin Natascha Uschakowa, die mit ihrer Familie in Butscha, einem Vorort Kiews, lebt. Sie sehe viele Flugzeuge und höre immer wieder den Raketenbeschuss, hat sie Keller geschrieben. Ihr Haus werde von den Explosionen erschüttert.
Und dann berichtet Keller noch von Valentina Gluchenkaja aus Repki, die einst den Jugendaustausch zwischen der Ukraine und dem Landkreis mit organisierte. Ihr Enkel kämpft schon seit 2017 als Soldat gegen prorussische Separatisten in den kriegerischen Aktionen im Südosten der Ukraine (Donbass). "Es war bislang schon schlimm genug für sie. Aber jetzt hat sie noch mehr Angst um ihn."