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Kiew/Bad Neustadt
Krieg in der Ukraine: So erlebt ein Unterfranke in Kiew die Angriffe auf seine Wahlheimat
Tobias Weihmann lebt seit 2015 in Kiew. Er glaubt, dass Putin nicht die Nato fürchtet, sondern die pluralistische Gesellschaft, die in der Ukraine entsteht. Wie es für den Bad Neustädter jetzt weitergeht.
Ein Bild aus friedlicheren Zeiten in der Ukraine: Der gebürtige Bad Neustädter Tobias Weihmann, seine Frau Shandra  und ihre Tochter am 'Bogen der Völkerfreundschaft' in Kiew. Der Bogen wurde 1982 zu Sowjetzeiten errichtet, um an die Vereinigung der Ukraine mit Russland zu erinnern.
Foto: Weihmann | Ein Bild aus friedlicheren Zeiten in der Ukraine: Der gebürtige Bad Neustädter Tobias Weihmann, seine Frau Shandra  und ihre Tochter am "Bogen der Völkerfreundschaft" in Kiew.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:39 Uhr

Tobias Weihmann ist hörbar geschockt und verzweifelt. Der gebürtige Bad Neustädter (42), der seit 2015 mit seiner Familie in der ukrainischen Hauptstadt Kiew lebt, hatte - wie auch viele Ukrainer - bis zuletzt gehofft, dass die Einigkeit des Westens und die Androhung drastischer Sanktionen den russischen Präsidenten Wladimir Putin von einem so massiven Angriff abhalten würden. Von der Brutalität Putins allerdings sei niemand überrascht.

Es gebe keine Panik auf den Straßen, aber es herrsche eine gedrückte, entsetzte Stimmung, erzählt Weihmann am Donnerstag. Wer eine Datscha auf dem Land habe, verlasse die Stadt. "Das kann man auch nachvollziehen. Das ist eine Frage des Überlebens. So einen Beschuss mit Raketen und Drohnen muss man nicht haben." Entfernt seien Detonationen zu hören, die Erschütterungen und Druckwellen seien bis in die Innenstadt zu spüren. "Es geht darum, Flugabwehr und Armeestützpunkte auszuschalten, und natürlich auch Angst zu verbreiten."

Tobias Weihmann und seine Frau Shandra, eine Ukrainerin, haben eine gemeinsame Tochter, eine zweite ist unterwegs. Es gebe jetzt mehrere Optionen. "Wir werden das im Familienrat besprechen und eine Entscheidung treffen." Aber es herrsche Kriegszustand, nicht jeder könne einfach überall hinfahren. "Und man will ja auch nicht im Auto an einem Armeestützpunkt vorbeifahren, und dann kommen russische Hubschrauber. Das sind Alptaum-Szenarien, aber die sind jetzt wahr."

Bis zum Angriff Russlands auf die Krim 2014 wollte kein Ukrainer in die Nato

Wer bleibe, habe die Infrastruktur der Stadt zur Verfügung, hier habe jeder seine Netzwerke an Freunden und Bekannten und eingemachtes Essen für lange Zeit vorrätig. Noch seien die Geschäfte offen, das Internet funktioniere. Nur vereinzelt hätten sich kleine Schlangen vor Apotheken und Supermärkten gebildet. "Aber wenn es zu einer Blockade der Stadt kommt, und danach sieht es aus, dann kann sich die Lage binnen Stunden dramatisch verschärfen", befürchtet Weihmann.

Kramatorsk in der Region Donezk in der Ostukraine: Menschen versuchen, einen Zug nach Kiew zu bekommen.
Foto: Vadim Ghirda, dpa | Kramatorsk in der Region Donezk in der Ostukraine: Menschen versuchen, einen Zug nach Kiew zu bekommen.

Viele Leute hätten ohnehin keine Alternative. "Es ist das Land, das sie in den letzten Jahren aufgebaut und gepflegt haben wie eine Blume. Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück."

Tobias Weihmann hält Putins Argument, Russland fühle sich durch die Nato bedroht, ebenso vorgeschoben wie die Behauptung, der Westen unterstütze Neonazis in der Ukraine.

"Bis 2014 wollte hier niemand in die Nato. Erst durch den Krieg haben die Ukrainer sich das überhaupt überlegt." Der wahre Grund für den Angriff sei vielmehr, dass hier ein Gegenmodell zu Putins Regime aufgebaut worden sei: Die Ukraine sei eines der dynamischsten und interessantesten Länder in Osteuropa, auf dem Weg, ein offenes, pluralistisches Gemeinwesen zu werden. "Dieses Freiheitsmodell ist bedrohlich für Putin, weil die beiden Länder einander so nahe sind. Das will er vernichten, und dazu ist er zu allem bereit", sagt Weihmann.

Russland ist vor allem bei den Exporten von Öl und Gas verwundbar, glaubt Weihmann

Ohne Gerhard Schröders Politik wären die Kriege zwischen Russland und der Ukraine nicht möglich gewesen, glaubt Tobias Weihmann: "Schröder hat das System Putin aufgepeppelt, mit Krediterlass, Nord Stream 1 und Nord Stream 2 und seinem ganzen Lobbyismus."

Der Konflikt sei kein ethnischer, sondern einer zwischen einem Land, in dem es Freiheit, Bürgerrechte und friedliche, demokratische Machtwechsel gebe, und einem Land, in dem die Macht von oben nach unten ausgeübt werde. "Und das hochgradig korrupt ist – nicht wie das in der Ukraine der Fall war, sondern eben auf eine Person ausgerichtet."

Lange Autoschlangen in Kiew: Wer kann, versucht, die Stadt zu verlassen.
Foto: Sergey Starostenko, dpa | Lange Autoschlangen in Kiew: Wer kann, versucht, die Stadt zu verlassen.

Gegen die massive Gewalt könne die Zivilgesellschaft erstmal nichts ausrichten, außer sich in Sicherheit zu bringen, sagt Weihmann. "Aber dass Putin glaubt, dass er die Leute dauerhaft zurück in die Vergangenheit schicken und zu hörigen Untertanen machen kann - das kann ja gar nicht funktionieren." Dem stehe der Freiheitstrieb entgegen, für den die Ukraine bekannt sei. "Die Sache ist nicht erledigt, selbst wenn es hier eine Besatzungsmacht geben sollte."

Die russische Aggression müsse schon im eigenen Interesse Deutschlands gestoppt werden

Jetzt könnten nur klare internationale Maßnahmen helfen. "Wenn uns niemand militärisch unterstützen will, muss das durch massivste Wirtschaftssanktionen geschehen." Wenn Nord Stream 2 jetzt symbolisch eingestellt und ein paar Monate später doch in Betriebe gehe, sei das viel zu wenig. "Das muss etwas sein, was wehtut, und für eine Gas- und Petro-Diktatur wie Russland ist das der Import der Rohstoffe." Deshalb müsse auch Nord Stream 1 gesperrt werden, also die Pipeline in der Ostsee, die bereits seit 2011 in Betrieb ist. Das werde auch in Deutschland wehtun. "Aber im Vergleich zu einer Cruise Missile auf dem Kopf, ist das noch wenig."

Niemand könne von der Ukraine verlangen, die Unfreiheit in Kauf zu nehmen, damit der Westen sein Gas günstig geliefert bekomme. "Die Katastrophe hat angefangen, und wenn es jetzt nicht sofort harte Schritte gibt, wird sie sich fortsetzen und eskalieren", sagt Weihmann. Die russische Aggression müsse schon im eigenen Interesse Deutschlands gestoppt werden. "Sonst bekommen wir ein Europa, in dem niemand leben möchte."

 
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  • rhönfuchs
    Wir wünschen der Familie von Tobias Weihmann alles Gute, Danke für die persönliche Einschätzung vor Ort. In Gedanken sind wir bei Ihnen und hoffen, dass der Wahnsinn ein baldiges Ende nimmt und das Leben dort ganz schnell wieder in Frieden möglich sein wird.
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  • Maryan
    Meine Familie ist bereit "Flüchtlinge" aus der Ukraine aufzunehmen! Wo wir drei satt werden, können auch sechs davon zehren! Wir stellen uns der Aufgabe!
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  • p-koch-dettelbach@t-online.de
    Ich verstehe nicht warum dieser Unterfranke Frau und Kinder nicht schon längst in das noch sichere Unterfranken in Sicherheit gebracht hat.
    So @MP, jetzt ist das weniger drastisch formuliert.
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  • p-koch-dettelbach@t-online.de
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  • FischersFritz
    Leider macht so ziemlich alles, was in diesem Beitrag steht, absolut Sinn.

    Putin hat keine Angst vor der Nato, er hat keine Angst vor Neonazis, er hat keine Angst vor Sanktionen, er hat keine Angst vor einem Krieg und er hat keine Angst davor, sich vor dem Rest der Welt als menschenverachtender Lügner zu präsentieren.

    Es gibt nur eines, was Putin fürchtet: Kontrollverlust. Und der entsteht für ihn aus Freiheit.
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  • Maryan
    Der Westen hat Putin nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen, seine Armee ist ein Übermacht, auch gegenüber den USA.
    Wir haben es in den letzten 20 Jahren nicht verstanden uns "handwerklich" darauf vorzubereiten, dieser Macht wirklich mit Abschreckung, entgegenzutreten.
    Alles was da in den letzten Tagen von der Politik und Forschern erzählt wurde, sind nur armselige Durchhalteparolen. Die lösen aber die Lawine nicht auf, die da auf uns zurollt.
    Wir werden es auch zu spüren bekommen!
    Totschweigen und beschönigen kann man das Thema "Krieg Europa" nicht mehr. Der ist bei uns angekommen!
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  • p-koch-dettelbach@t-online.de
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  • FischersFritz
    Nunja … auch für Russland sind die militärischen Glanzzeiten schon lange her …

    Ich denke, es ist kein Zufall, dass sich Russland mit der Ukraine ein Nicht-Nato-Land für seine Aggression ausgesucht hat.

    Abgesehen davon, dass es nach meiner Meinung keine Rolle spielt: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/379080/umfrage/vergleich-des-militaers-der-nato-und-russlands/

    Klar, dieser Statistiken sind mit Vorsicht zu genießen – aber eine russische „Übermacht“ sieht nach meiner Meinung anders aus …
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  • Littlejoe
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  • Maryan
    Naja! Das was sie heute in der Ukraine gezeigt haben, davon träumt unser Nato! Man kann sich alles schön reden, nur diesmal sind wir mittendrin!
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  • zwrecht@aol.com
    Doch wir haben unser Geld entgegenzusetzen und könnten per SWIFT-das Geld abdrehen. Natürlich drehen wir und dadurch auch den russischen Gashahn zu. Und was machen wir? - Als einziges Land sind wird gegen die SWIFT-Waffe! Eine Schande...als einziges Land! Ja für nix und ohne Opfer geht nix. Da braucht man den Vorgängern Merkel & Co. keine Vorwurf zu machen. Was nachkommt ist meist nicht besser...
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  • pbronco@web.de
    Ich war in den letzten 20 Jahren wohl fast jedes Jahr in Kiew und kann Tobias nur bestätigen in seinen Aussagen.
    Die Gründe für die Aggression sind nur vorgeschoben und die beiden Kasperli aus Donetsk und Lugansk, die "um militärische Unterstützung gebeten" haben, sind nur Teil dieser Inszenierung. Es gab keinen Völkermord, die UA-Regierung ist viel demokratischer als die russische, ja ein paar Extreme und Nazis gibt es, leider überall
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