Redaktionen müssen auch Grenzen des Öffentlichen Interesses achten. Das ist nicht einfach, denn öffentliches Interesse (künftig Ö.I.) bestimmt den Journalismus weitgehend. Darauf gründen Berichte über Themen oder Ereignisse. Es liegt der demokratischen Teilhabe der Menschen in einem freiheitlichen Staatswesen zugrunde. Es reicht sowohl ins Medienrecht hinein, als auch in die Medienethik. Das heißt, es gilt ständig abzuwägen.
Die Redaktion entscheidet
Die Rechtsprechung stellt meist klar, dass darüber, was von „Ö.I.“ ist, vor Veröffentlichungen alleine die Redaktion eines Mediums zu entscheiden hat, nicht etwa Dritte, wie Regierungen, Behörden oder sonstige Institutionen. Dafür steht das Grundgesetz (GG) mit der Pressefreiheit in Artikel 5. Behindernd einzugreifen in die Absicht zu berichten, käme verbotener Vorzensur gleich. Für solche Eingriffe müsste höherwertiges Interesse vorliegen, etwa Landesverrat.
Auch Behörden, die anfragenden Journalisten Auskunft über ihr Handeln geben müssen (By.Pressegesetz,Artikel 4), können diese nicht mit der Begründung verweigern, dass daran kein „Ö.I.“ bestehe. Eben weil die Entscheidung darüber bei der Redaktion liegen muss.
Die Abwägung
Dieser starke gesetzliche Schutz bedeutet nicht, dass Redaktionen alles veröffentlichen können. Sie müssen stets verantwortlich abwägen, vor allem dann, wenn eine Nachricht andere Grundrechte verletzen könnte, etwa Persönlichkeitsrechte. Denn klar ist: Für das, was sie verbreitet haben, haften verantwortliche Redakteure. Und: Von Betroffenen angerufene Gerichte können im Einzelfall durchaus deren Persönlichkeitsrecht höher bewerten als das „Ö.I.“.
Meist allerdings wiegt bei einer Abwägung der Rechtsgüter das Interesse des Publikums an unverzögerter Information schwerer als Individualinteressen.
Schutzwürdige Interessen
Allerdings gibt es ethische Grundsätze. Denn journalistische Verantwortung sollte über die Rechtsprechung hinausgehen, etwa beim Opferschutz. So müssen Tote und deren Hinterbliebene geschont werden (siehe Leseranwalt: „Über den Schutz von Opfern wacht der Presserat“). Der Kodex des Deutschen Presserates gibt in seinen Richtlinien Orientierung. An Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren bestätigt er „berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit". Aber nur wenn es das schutzwürdige Interesse Betroffener überwiegt, erlaubt er deren Identifizierung. Schutzwürdigkeit gibt es besonders bei Sterbenden, körperlich oder seelisch leidenden Menschen.
Betroffene nicht noch einmal zu Opfern machen
Unangemessen sensationell dürfen auch Gewalt, Brutalität und Leid nicht dargestellt werden. „Die Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen.“ Betroffene dürfen nicht ein zweites Mal zu Opfern werden, hält Richtlinie 8.4. des Kodex fest.
Die Definitionen von Öffentlichem Interesse reichen weit. Nicht dazu gehören sollte allerdings pure Sensationslust. Neugierde freilich, darf als positiv bewertet werden, weil sie dafür sorgt, dass Nachrichten bewusst aufgenommen werden. Jeder Mediennutzer mag selbst beurteilen, was bei ihm im Einzelfall zugrunde gelegen hat.
Links zu den Richtlinien im Kodex des Deutschen Presserates:
Richtlinie 8, Schutz der Persönlichkeit
Ziffer 9, Schutz der Ehre
Ziffer 11, Sensationsberichterstattung, Jugendschutz
Frühere Leseranwalt-Kolumnen zum Thema:
"Die Straftat und der Verdacht" (2019)
"Es ist sinnvoll, bei öffentlichen Veranstaltungen Medienvertreter zu begrüßen" (2018)
"Eine schwierige Abwägung" (2017)
"Auch vor einer Namensnennung gilt: Im Zweifel für den Angeklagten" (2016)
"Wenn ein Likör von öffentlichem Interesse ist" (2016)
"Das anerkennenswerte Interesse der Öffentlichkeit an vergangenen Ereignissen" (2011)
"Wenn öffentliches Interesse schwerer wiegt als Persönlichkeitsrechte" (2011)
"Pressekodex schützt bei Missbrauchsfällen auch das Persönlichkeitsrecht des Täters" (2010)
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch www.vdmo.de